Transkript
SCHWERPUNKT
Von roten Fahnen und roten Heringen
Zu viel Diagnostik kann den Blick aufs Wesentliche trüben
Im englischen Sprachgebrauch wird bei der Symptombewertung zwischen «red flags» und «red herring» unterschieden. Erstere lassen sich, häufig erst im Rückblick, als nicht zu ignorierende Einflussfaktoren der Krankheitsentstehung identifizieren, während letztere uns dazu verleiten können, eine nicht zielführende Abklärungsstrategie zu verfolgen. Wohin das führen kann, wird anhand einer Kasuistik deutlich.
Von Oswald Hasselmann
V or jeder medizinischen Entscheidung steht eine Wertung der durch Anamnese und Untersuchung erhobenen Symptomerfassung. Diese werden, gelegentlich unreflektiert, eingeordnet in ein vorbestehendes System einer angenommenen Pathogenese. Auf dem Hintergrund fachspezifischer Erfahrungen werden hierbei bestimmte Symptome höher priorisiert, während andere nicht unmittelbar als krankheitsverursachend angesehen werden und somit weniger Beachtung erfahren. Ein Kinder- und Jugendpsychiater wird typischerweise den familiendynamischen Bedingungen einer Symptomentstehung mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen als ein Kinderneurologe. Untersuchungsverfahren wie Laboruntersuchungen und bildgebende Verfahren, die zum Abstützen der Hypothese bezüglich der Krankheitsentstehung veranlasst werden, ergänzen idealerweise gewichtige biografische Angaben aus der Anamnese. Vor jeder medizinischen Intervention sollte die Frage beantwortet werden, welche Folgeimplikationen sich aus einer angeordneten Untersuchung ergeben können. Die Indikationsstellung sollte das Ziel haben, das aus den Symptomen gewonnene pathogenetische Modell durch Zusatzuntersuchungen zu unterstützen beziehungsweise zu verwerfen. Das ungezielte Anordnen von Screeninguntersuchungen (z.B. weitreichende Laborabklärungen, ausgedehnte Bildgebungsverfahren, genetische Paneluntersuchungen), verbunden mit der Erwartung, anhand von nicht normgerechten Biomarkern ein vertieftes Verständnis für den aktuellen Krankheitsprozess zu erlangen, birgt die Gefahr, dass durch diese im Einzelfall belastenden Folgeuntersuchungen die primärverursachende Causa der Erkrankung nicht gefunden wird. Diese eher grundsätzlichen Überlegungen sollten im Folgenden anhand einer Kasuistik näher erläutern werden.
Der Fall
Ein fünfzehn Jahre alter Junge stellte sich notfallmässig freitagnachts mit einer einseitigen Gefühlsstörung im Bereich des Unterschenkels vor. Im Verlauf breitete sich diese Gefühlsstörung auf das gesamte Bein aus, sie war begleitet von einer Parese und einer starken Druckdolenz im Bereich der Wirbelsäule. Erfahrene Fachärzte wurden hinzugerufen und bestätigten die vom Assistenzarzt erhobene Symptomatik.
Abbildung 1: Zugangsweg bei einer lumbalen Liquorpunktion durch den nicht erweiterten Epiduralraum
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SCHWERPUNKT
Da sich die beschriebene Sympto-
matik anatomisch (eher strumpfför-
mige als zu dem Versorgungsgebiet
eines peripheren Nerven passende
Gefühlsstörung) und physiologisch
bei erhaltenen, nicht gesteigerten
Reflexen nicht eindeutig zuordnen
liess, wird die Situation als ein zu
priorisierender Notfall eingestuft.
Auf dem Hintergrund eines Velostur-
zes wenige Tage zuvor wurde zu-
nächst an eine Rückenmarksverlet-
zung, zum Beispiel durch eine
Wirbelkörperfraktur, gedacht. Diffe-
renzialdiagnostisch sollte ein Guil-
lain-Barré-Syndrom (GBS) mittels
einer Liquoruntersuchung ausge-
schlossen werden; als eher wenig
wahrscheinlich wurde eine Ischämie
im Bereich der Arteria spinalis ante-
rior erwogen.
In rascher Folge wurde bei progres-
siver Symptomatik unter grossem
personellem Einsatz eine Bildge-
bung des zentralen Nervensystems
und der Wirbelsäule mit Darstellung
des Rückenmarks, eine Liquorpunk-
tion (Abbildung 1) und eine elektro-
physiologische Untersuchung ver-
Abbildung 2: Angehobener Duraschlauch mit dorsaler Flüssigkeitsansammlung thorakolumbal
anlasst. Ein GBS liess sich durch ein nicht erhöhtes Liquoreiweiss bei regelrechter Zellzahl und nicht pa-
thologisch veränderter F-Welle und
H-Reflex in der elektrophysiologischen Untersuchung
weitestgehend ausschliessen.
Die Bildgebung des Rückenmarkes und der umge-
benden Knochenstrukturen zeigte keine druck- oder
ischämiebedingte Läsion des gesamten Rückenmar-
kes, jedoch fiel eine unphysiologische, dorsal des
Rückenmarks gelegene, langstreckige liquorintense
Flüssigkeitsansammlung im Epiduralraum mit Verla-
gerung der Dura auf (Abbildung 2).
Die ersten Behandlungsschritte
Bei Fehlen von Voraufnahmen wurde ein traumatisch bedingtes Liquorlecksyndrom mit sekundärer Druckbeeinträchtigung der abgehenden motorischen und sensiblen Nervenfasern als pathogenetische Verursachung diskutiert. In der Nachbeurteilung der MRIBildgebung des zentralen Nervensystems zeigte sich keine unterdruckbedingte kaudale Verlagerung des Cerebrums. Mittels einer lumbalen CT-Myelografie wurde erfolglos versucht, das vermutete Leck durch austretendes Kontrastmittel zu lokalisieren. Im gleichen Arbeitsgang wurden zum Verschluss des angenommenen Leckes 10 ml Eigenblut in den Epiduralraum (autologes Blutpatch) injiziert.
Da sich die Störung der Sensibilität und der motorischen Kraft im Verlauf innerhalb weniger Tage vollständig zurückbildete, wurde die Verdachtsdiagnose «Liquorlecksyndrom» trotz der nicht ganz schlüssigen anatomisch-physiologischen Befunde und der absoluten Seltenheit eines Liquorlecksyndroms bei einem nicht bindegewebserkrankten Jugendlichen nicht weiter hinterfragt.
Neue Diagnose: belastungsabhängiges Dissoziationsphänomen
Zwei Wochen später wurde der Jugendliche erneut notfallmässig vorgestellt, da er nach vorausgehenden starken Kopfschmerzen das Bewusstsein verloren habe und durch eine Begleitperson reanimiert werden musste. In der erweiterten Anamnese des Jugendlichen und seines Umfeldes ergab sich, dass der Patient unter immensem psychischem Druck bei multiplen Belastungsfaktoren innerhalb seiner Familie stand. Diese führten regelmässig zu einer starken Kopfschmerzsymptomatik, welche häufig von Hyperventilationsepisoden begleitet war. Retrospektiv wurde der primäre Krankheitsverlauf neu interpretiert und als ein belastungsabhängiges Dissoziationsphänomen (psychogene Lähmung und Gefühlsstörung) mit einer durch die Liquorpunktion iatrogen verursachten Duraverletzung mit sekundärem Liquoraustritt interpretiert. Auf dem Hintergrund beider Krankheitsereignisse wurde eine systemisch orientierte Psychotherapie veranlasst. In einer vorläufig abschliessenden Besprechung mit den Primärverantwortlichen wurde festgehalten, dass die anatomisch und physiologisch nicht stimmige Zuordnung der Symptomatik von Lähmung und Sensibilitätsstörung an das Vorliegen einer Konversionssymptomatik hätte denken lassen können. Weiterhin bestand Übereinstimmung, dass die Darstellung einer epiduralen Liquoransammlung postpunktionell in dieser Altersgruppe eher zu erwarten sei als ein posttraumatisch bedingtes Liquorleck. Das Setzen eines Blutpatches habe möglicherweise die Symptomausprägung vermindert, bietet sich jedoch aufgrund der Invasivität dieser Massnahme nicht als Routineintervention bei postpunktionellen Beschwerden an. Die im Eifer des Gefechtes unvollständig erhobene Familienanamnese hätte eine «red flag» sein können, die epidurale Liquoransammlung hat sich hingegen retrospektiv eher als ein «red herring» herausgestellt.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Oswald Hasselmann Leitender Arzt Neuropädiatrie Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: oswald.hasselmann@kispisg.ch
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