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FORTBILDUNG
Migräneprophylaxe – was und für wen?
Verhaltensmassnahmen, Medikamente und weitere Optionen
Es gibt viele Gründe, eine Migräneprophylaxe in Betracht zu ziehen, aber praktisch alle Patienten, die sich dafür entscheiden, leiden besonders heftig unter ihrer Migräne, und die alleinige Attackenbehandlung ist unbefriedigend. In diesem Artikel werden die wichtigsten Aspekte der Migräneprophylaxe und die Wirksamkeit der verschiedenen Methoden erläutert.
Reto Agosti
noch magistral zu verschreibenden Vitamin-B2-Kapseln oder -Dragees selbst herstellen will). Auch pflanzliche Substanzen, wie Hypericin aus dem Antidepressivum Johanniskraut, können mit erheblichen Nebenwirkungen beziehungsweise pharmakologischen Wechselwirkungen verbunden sein. Botulinumtoxin hingegen, das als Chemie und Gift verschrien ist, ist ein Protein, das vollständig in einzelne Aminosäuren zerlegt wird. Die Herausforderung und die Kompetenz beim Verordnen einer Migräneprophylaxe liegen auch hier im Wissen über Details der Patienten und in persönlichen Erfahrungen. Denn nur so können Vor- und Nachteile der jeweiligen Strategie richtig abgewogen werden.
Anders als bei der Attackenbehandlung, bei der Schnelligkeit und Zuverlässigkeit im Vordergrund stehen, orientiert sich die Prophylaxe an eigenen Kriterien, nicht selten an eher irrationalen Vorlieben der Patienten. Die Unterscheidung in «Chemie» versus «nicht Chemie» ist für viele Patienten wichtig und verständlich, bei näherer Betrachtung aber nicht sehr sachlich. Zum Beispiel ist Vitamin B2, ein eigentlich harmloser Nahrungszusatz, in der Tat ein hartnäckiger Farbstoff (das erfährt jede Apotheke, welche die leider immer
MERKSÄTZE
O Ein Kopfschmerzkalender, der von den Patienten bereits vor der Erstuntersuchung, aber auch zwischen den Nachkontrollen geführt wird, erleichtert die Arzt-PatientenKommunikation enorm, verbessert die Behandlung und spart Kosten.
O Es gibt verschiedene Indikationen für eine Migräneprophylaxe wie häufige und/oder schwere Attacken, bestimmte Komorbiditäten oder mangelndes Ansprechen auf die Akutbehandlung.
O Psychosomatische Unterstützung, Entspannungstechniken und regelmässige körperliche Aktivität im Freien sind immer sinnvoll.
O Es stehen zahlreiche Substanzen und Nahrungsergänzungsmittel zur Verfügung, aus denen gemäss den individuellen Gegebenheiten und Komorbiditäten ausgewählt werden kann.
O Massnahmen wie TENS oder Kraniosakraltherapie können in Einzelfällen hilfreich sein.
Prophylaxe: Ja oder Nein?
Jede Kopfschmerzorganisation gibt Tipps und Richtlinien zur Entscheidung, wann eine Prophylaxe gestartet werden soll. Ein Kopfschmerzkalender, der von den Patienten bereits vor der Erstuntersuchung, aber auch zwischen den Nachkontrollen geführt wird (verfügbar auf kopfwww.ch oder anderen Websites), erleichtert die Arzt-Patienten-Kommunikation enorm, verbessert die Behandlung und spart Kosten. Wichtig ist, dass die geleistete Kalenderarbeit auch estimiert wird. In meiner Sprechstunde werden alle Kalender vor oder in der Sprechstunde eingescannt und dienen als wertvolle Datenquelle. In zunehmendem Masse werden Medikamente auch nach Erfolg bewilligt. Für den Start einer Migräneprophylaxe sprechen die folgenden Punkte: 1. Die Migräne tritt an mehr als drei bis vier Tagen pro Monat
auf: Das bedeutet, dass ich mich als Patient im Durchschnitt wöchentlich mit der Migräne herumschlagen muss und oft auch daran leide. 2. Die Attacken sind besonders stark: Die Folgen einzelner Attacken sind noch tagelang zu spüren, zum Beispiel als Müdigkeit oder als Thoraxschmerzen nach exzessivem Erbrechen. 3. Die Attacken haben signifikante Auswirkungen auf Beruf und Familie: So kann im Schulbetrieb bereits eine Attacke pro Monate extreme Auswirkungen auf Lehrerkollegen und Eltern habe. 4. Es lässt sich eine Komorbidität finden, deren Behandlung nützlich und/oder angenehm sein kann. In erster Linie ist hier an Topiramat zu denken, das nebst guter Prophylaxe über die Hemmung der zentral agierenden Leptine regelmässig zu sichtbarer Gewichtsreduktion führen kann (Tabelle 1). 5. Die Attackenbehandlung ist nicht wirksam: Bei einigen Patienten wirken Triptane und NSAR nicht, auch nicht in Kombination.
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Tabelle 1:
Migräneprophylaxe nach Komorbiditäten
Komorbidität
Mögliche Migräneprophylaxe
Depression
Antidepressiva (TCA, SSRI, SNRI)
Angst, Panikattacken
Antidepressiva (SSRI, SNRI), Pregabalin
Antriebsmangel
Venlafaxin, Modafinil
Epilepsie
Antiepileptika, insbesondere Valproat und Topiramat
Anorexie
Valproat, Flunarizin, TCA
Übergewicht
Topiramat, evtl. Fluoxetin, andere SSRI
Diarrhö, Colon irritabile
Verapamil
Obstipation
Magnesium
arterielle Hypertonie
Betablocker, Kalziumantagonisten, ACE-Hemmer, Candesartan
arterielle Hypotonie
Dihydergot, Midodrin
Schlafstörungen
TCA (sedierende), Mirtazapin, Flunarizin
Schwindel, Reisekrankheit Cinnarizin
andere Kopfschmerzarten
Verapamil (Clusterkopfschmerz), Carbamazepin (Trigeminusneuralgie), Pregabalin (postherpetische Neuralgie)
TCA: trizyklische Antidepressiva; SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; SNRI: Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; ACE: «angiotensin-converting enzyme»
Verhaltens- und Entspannungsmethoden können für Migräneleidende äusserst wirksam sein, auch wenn sie leider ebenfalls von vielen Patienten mit Skepsis betrachtet werden. Mit eingeübten Entspannungstechniken verhält es sich wie mit Sport oder Sprachen: Übung macht den Meister. Unumstritten positiv wirkt sich eine regelmässige körperliche Aktivität aus. Meistens werden Joggen oder lange Spaziergänge im Freien empfohlen. Diese Klassiker haben nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Nebst der Aktivierung des autonomen Nervensystems, in dem die Migräne ja zu Hause ist, ist sportliche Aktivität immer auch ein kleines «Time-out», weg vom Familien- und Berufsstress.
Wichtige medikamentöse Prophylaxen
Nahrungsergänzungen Magnesium in Form verschiedener Salze, Coenzym Q10 (Ubiquinol) und Vitamin B2 (Riboflavin) sind wissenschaftlich etablierte, gut verträgliche und sehr gut akzeptierte Prophylaxen. Magnesium führt regelmässig zu weichem Stuhlgang bis Diarrhö. In diesen Fällen empfiehlt sich eine Magnesiumsulfat-Kurzinfusion. Coenzym Q10 muss wegen seiner extrem hohen Fettlöslichkeit teuer homogenisiert werden, was sich auf den Preis auswirkt. Einige Zusatzversicherungen übernehmen Coenzym Q10. Vitamin B2, 400 mg Riboflavin täglich, ist weltweit ein Standard geworden. Zahlreiche Apotheke stellen Vitamin B2 als Kapseln oder Dragees selbst her.
Betablocker Propranolol (80–160 mg/Tag) und Metoprolol (100–200 mg/ Tag) sind die gängigsten Substanzen. Wichtig ist eine vorsichtige Eindosierung, da es sich beim Grossteil der Migränepatienten um junge Frauen handelt, deren Blutdruck oftmals schon sehr tief ist. Depressionen und Asthma können sich unter Betablockern verschlechtern und müssen genau evaluiert werden.
Wahl der Prophylaxe
Migräneprophylaxen stellen ein sehr weites, umfangreiches und vielseitiges Behandlungsspektrum dar. Die Wahl kann «stur» nach Schema erfolgen oder gezielter unter Einbezug von Zusatzinformationen, wie zum Beispiel Komorbiditäten. Oftmals sind Präferenzen der Patienten («Ich will keine Chemie») oder der behandelnden Ärzte («Ich brauche stets Betablocker als erste Wahl der Prophylaxe»), aber auch absolute oder relative Kontraindikationen und Nebenwirkungen sowie andere Faktoren (Tabelle 2) einschränkend. Es kann grob zwischen schulmedizinischen und komplementärtherapeutischen Methoden unterschieden werden. Die Akupunkturbehandlung ist populär, aber wissenschaftlich weiterhin umstritten. Auf jeden Fall empfehlenswert sind psychosomatische Unterstützung und Verhaltensmassnahmen. Da Migräne eine klassische psychosomatische Störung (viele psychische Beeinflussungsfaktoren und viele psychische Folgen) ist, schreit dieses neurologische Leiden förmlich nach psychosomatischer Unterstützung. Ein spezifisches Migränetherapieangebot ist in der Schweiz aber nur marginal erhältlich. Die Akzeptanz für die psychotherapeutische Begleitung eines oft sehr erheblichen Leidens ist eben noch sehr gering.
Kalziumantagonisten Das herkömmliche Flunarizin (5–20 mg abends; Sibelium®) wird heute kaum noch angewendet. Trotz guter Wirksamkeit sind Gewichtszunahme und Neigung zur depressiven Verstimmung heute nur noch ungenügend akzeptiert. Cinnarizin kann als Prophylaxe angewendet werden, es ist aber leider nur noch die Retardform mit 75 mg im Gebrauch (Cinnageron®, Stugeron®-Tropfen). Die 25-mg-Tabletten (Stugeron®-Tabletten) werden nicht vergütet. Gewichtszunahme steht auch hier im Vordergrund. Gut verträglich ist Verapamil (Isoptin®), das vor allem bei Clusterkopfschmerzen hoch dosiert eingesetzt wird. Auch bei Migräne kann Verapamil gute Dienste leisten. Ein EKG vor Therapiebeginn ist wegen möglicher QT-Verlängerungen ratsam.
Antiepileptika Hier steht Topiramat weiterhin im Vordergrund. Die Verträglichkeit ist sehr individuell. Viele Patienten tolerieren Topiramat über Jahre bestens, andere erleiden die bekannten kognitiven Veränderungen. Eine leichte Vergesslichkeit ist allerdings weitverbreitet in der Normalbevölkerung. Die Möglichkeit der Gewichtsreduktion macht Topiramat aber auch für Patienten, die Einwände gegen Antiepileptika
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Tabelle 2:
Probleme bei der Migräneprophylaxe
Nebenwirkungen Anwendung
Vergütung Disziplin, Logistik Schwangerschaft
Betablocker: tiefer Blutdruck, verminderter Antrieb, Depression Antidepressiva und Antiepileptika: Gewichtsproblem
Langsames Einschleichen oft notwendig, lässt Zweifel am Erfolg aufkommen. Beipackzettel und Internetinformationen über mögliche Nebenwirkungen verhindern oft Therapiebeginn aus Angst, alle potenziellen Nebenwirkungen zu erleiden; sehr grosser Noceboeffekt durch Beipackzettel.
Bewilligungspflicht bzw. Notwendigkeit von Kostengutsprachen
Tägliche Medikamenteneinnahme braucht Disziplin und Vorratshaltung beziehungsweise Vorausdenken.
Migräneprophylaxe in Absprache mit erfahrenen Spezialisten möglich. Ausser für Magnesium und Paracetamol können keine definitiven Empfehlungen gegeben werden. Es besteht aber umfangreiches Erfahrungswissen bei Migränespezialisten.
haben, höchst attraktiv. Valproat (Orfiril®, Depakine®) und der bereits genannte Kalziumantagonist Verapamil haben in der Schweiz leider keine Indikation für Migräne. Dosierungen bis 600 mg sind äusserst gut verträglich. Sehr nützlich ist die intravenöse Eindosierung von Valproat, wie dies etwa in Deutschland oder den USA oft geschieht. Lamotrigin (Lamicital®) hat eine Nischenfunktion bei Therapieresistenz anderer Prophylaxen. Die Verträglichkeit ist gut, doch muss ein sehr langsames Aufdosieren wegen möglicher (nicht allergischer) Hautreaktionen eingehalten werden. Für alle Antiepileptika gilt ein striktes Verbot in der Schwangerschaft.
Antidepressiva Die alten trizyklischen und neuropharmakologisch polyvalenten Antidepressiva (TCA) haben weiterhin einen hohen Stellenwert in der Migräneprophylaxe, aber auch für die Behandlung chronischer Schmerzen. Müdigkeit beziehungsweise Schlafanstoss kann therapeutisch ausgenutzt werden. Ungünstig hingegen ist die Neigung zur Gewichtszunahme und trockenem Mund. Cave: Zahnschmelz leidet schnell bei trockenem Mund! Gut bewährt hat sich Venlafaxin, das bereits in niedrigen Dosierungen antriebsfördernd wirkt, wenige Nebenwirkungen hat und zu guten Langzeitergebnissen führt. Andere NSRI-Medikamente können wie TCA stark sedierend sein und sind in der Migräneprophylaxe weniger nützlich.
prüft, erfreuen sich grosser Akzeptanz, bei allerdings nur mässiger Wirksamkeit. Bei Hypericum muss auf Interaktionen durch die Wirksubstanz Hypericin geachtet werden. Pestwurz kann auch antiallergisch und spasmolytisch auf die gastrointestinale Muskulatur wirken. Capsacin wird bei hartnäckigen fokalen Schmerzen lokal angewendet. Cave: Capsacin nicht durch Rückstände an den Fingern auf die Lippen und in die Augen reiben! Seit der partiellen Freigabe von Cannabidiol (CBD) ist die Nachfrage nach medizinischen Cannabisprodukten zur Migräneprophylaxe markant gestiegen. In der Regel erteilt das BAG analog zur multiplen Sklerose eine Bewilligung. Schwieriger ist es, eine Kostengutsprache durch die Krankenkassen zu erhalten.
Weitere Methoden
TENS/Cefaly TENS steht für «transkutane elektrische Nerven-Stimulation» und wird seit vielen Jahren in der Therapie der fokalen Schmerzen polyvalent genutzt. Sie kann bei nuchal bedingten Migränen beziehungsweise migränenassozierten Nackenverspannungen sehr nützlich sein. Auf der Basis dieser Erfahrungen wurde Cefaly erfunden, das nun zur Anwendung an der Stirne (Glabella) zugelassen ist. Bei ein- oder zweimaliger täglicher Nervenstimulation hat Cefaly eine prophylaktische Wirkung und erfreut sich grosser Beliebtheit.
Botulinumtoxin Weltweit, ausser in der Schweiz und in ein oder zwei anderen Ländern, eingeführt und oft auch kassenpflichtig, ist Botulinumtoxin in der Migräneprophylaxe zu einem Standard geworden. Die beiden PREEMT-Studien haben Erfolge mit statistisch hoher Signifikanz gezeigt. Das dreimonatige Applikationsintervall ohne tägliche Tabletteneinnahme ist für die Patienten sehr angenehm. Die Akzeptanz unter Migräneleidenden, aber auch unter den Krankenkassen nimmt kontinuierlich zu. Einige Kassen übernehmen Botulinumtoxin auch aus der Grundversicherung gemäss KVV Art. 71b.
Vagusstimulator Diese Methode hat in der Schweiz nie richtig Fuss gefasst. Es sind praktische Geräte zur äusserlichen (perkutanen) Vagusstimulation über die Karotide im Handel.
Kraniosakraltherapie Die Kraniosakraltherapie hat sich nach unserer Erfahrung am besten in der Migräneprophylaxe bewährt. Die Wirkmechanismen sind ungenügend erforscht. Allerdings hat die sehr sanfte, gemächliche und entspannende Behandlungsweise für Migränepatienten grosse Vorteile.
Phytotherapie Klassische Phytotherapeutika wie Hypericum, Partenelle, Pestwurz und Capsaicin, einige davon auch in Studien über-
Physiotherapie Die Physiotherapie ist als Migräneprophylaxe sehr kritisch zu betrachten, denn die meisten Migränenpatientinnen und
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-patienten reagieren auf Manipulationen am Nacken empfindlich. Nicht selten werden Migräneattacken durch Physiotherapie am Nacken ausgelöst. Einzelne Patienten könnten aber profitieren, wenn die Physiotherapie durch migräneerfahrene Therapeuten erfolgt.
Ausblick
In absehbarer Zeit dürften neue Medikamente zur Migräneprophylaxe verfügbar sein. Es handelt sich dabei um Antikörper gegen CGRP (calcitonin gene related peptide) beziehungsweise gegen den CGRP-Rezeptor. CGRP ist ein Peptid mit Steuerfunktion in der Migräne. Zurzeit ist die Entwicklung von vier Antikörpern weit fortgeschritten. Galcanezumab, Fremanezumab und Eptinezumab richten sich gegen CGRP, Erenumab bindet den CGRPRezeptor. Die Applikation erfolgt einmal pro Monat subkutan, ausser bei Eptinezumab, das i.v. gegeben wird. Nach den
bisherigen Erfahrungen in klinischen Studien ist die Verträg-
lichkeit sehr gut. Am Kongress der International Headache
Society (IHS) in Vancouver wurde kürzlich berichtet, dass
alle vier Antikörper die primären Endpunkte bezüglich der
Wirksamkeit in Phase-III-Studien mit einem positiven Resul-
tat erreichten. Für Erenumab wurden weltweit bereits Zulas-
sungsanträge eingereicht, so bei FDA, EMA, NICE und
Swissmedic.
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Dr. med. Reto Agosti Neurologie FMH Kopfwehzentrum Hirslanden Zürich Forchstrasse 424 8702 Zollikon E-Mail: info@kopfwww.ch
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
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