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FORTBILDUNG
Digitale Hilfsmittel bei Diabetes
Fachgerechte Schulung im Umgang mit den Geräten ausschlaggebend
Die Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED/SSED) hat 2013 erstmals Richtlinien für kontinuierliche Glukosemesssysteme herausgegeben. Seither sind einige Neuerungen auf diesem Gebiet hinzugekommen, die eine Anpassung nötig machten.
O signifikante HbA1c-Verbesserung um bis zu 1,2 Prozent ohne vermehrte Hypoglykämien
O signifikant weniger Zeit mit Hypoglykämien O signifikant weniger Zeit mit Hypoglykämien bei gut kon-
trollierten Patienten (HbA1c < 7,0%) O signifikante Reduktion der glykämischen Variabilität.
SGED/SSED
Die neuen Empfehlungen der SGED/SSED gelten für die kontinuierliche Glukosemessung (CGM) und die Flash-Glukosemessung (FGM), für Basis-Bolus-Rechner zur Bestimmung von Insulindosierungen sowie für Insulinpumpen mit integriertem Glykosemesssystem zur Vermeidung von Hypoglykämien (sensorunterstützte Pumpen). Damit diese Systeme für die Patienten einen optimalen Nutzen entfalten können, ist eine Schulung durch speziell qualifizierte Gesundheitsfachpersonen unabdingbar, wie die Richtlinien betonen. Wegen dieser Schulung und der individuellen Einstellung des Patienten müssen digitale Hilfsmittel durch den Diabetologen verschrieben werden. Vonseiten des behandelnden Arztes muss genügend Erfahrung im Gebrauch der digitalen Geräte, in der Beurteilung von Blutzuckerkurven und mit der Verschreibung korrekter Insulindosierungen vorliegen.
Was CGM respektive FGM leisten können Randomisierte, kontrollierte Studien und Metaanalysen belegen für CGM-Systeme im Vergleich zur Standardtherapie mehrere Vorteile:
MERKSÄTZE
O Kontinuierliche Glukosemesssysteme können allein oder zusammen mit einer Insulinpumpentherapie eingesetzt werden.
O Sie müssen durch Diabetologen verordnet und mit einer Patientenschulung gekoppelt werden.
O Das kontinuierliche Glukosemonitoring stellt den Übergang von einer Punkt- zu einer Trendanalyse dar.
O Mit kontinuierlichem Glukosemonitoring lassen sich bessere HbA1c-Werte sowie seltenere Hypoglykämien und eine geringere glykämische Variabilität erreichen.
O In der Schweiz gibt es derzeit drei Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung, die sich in Anwendung und Preis unterscheiden.
Gemäss Literatur ist die höchste Evidenzstufe für den Nutzen eines CGM-Systems bei Patienten gegeben, die ein HbA1c > 7,0 Prozent haben und das Gerät fast täglich (> 70% der Zeit) einsetzen, sowie bei Patienten mit einem HbA1c < 7,0 Prozent, wenn dadurch bei fast täglichem Gebrauch Hypoglykämien vermieden werden können. Den Patienten muss erklärt werden, dass der Einsatz eines CGM-Systems anstelle einer Punktanalyse eine Trendanalyse ermöglicht, die einzelnen absoluten Blutzuckerwerte also weniger Bedeutung haben als die in den wiederholten Messungen erkennbare Tendenz. Die heutigen Systeme übermitteln die vom Sensor gemessenen Werte auf einen Empfänger, eine Pumpe oder ein Smartphone. So erhalten die Patienten bei zuvor individuell definierten Glukosewerten eine Hypoglykämiewarnung. Die kontinuierliche Datenübermittlung erfordert jedoch grössere Batterien der Transmitter.
Kontinuierliche Glukosemessung bei CGM und FGM
In der Schweiz sind derzeit zwei CGM-Systeme auf dem Markt (Kasten). Daneben ist ein FGM-System eingeführt worden. Alle drei Systeme messen die Glukose kontinuierlich, der Unterschied liegt in der Datenübermittlung. Hauptvorteile des FGM-Systems sind die einfache Handhabung, die Funktionsdauer bis 14 Tage und die fehlende Notwendigkeit von Eichungen mit für die Patienten belastenden wiederholten kapillären Blutzuckermessungen. Nachteilig ist hingegen, dass keine Hypo- oder Hyperglykämiewarnungen möglich sind. Ferner liegen nur Daten für die Platzierung am Oberarm vor, und zurzeit fehlen noch Publikationen zu Lebensqualität sowie Senkung von HbA1c. Hauptvorteile der CGM-Systeme sind das kontinuierliche Alarmsystem und die Übertragung der Daten via Transmitter auf Empfänger (oder iPhone) sowie die Möglichkeit zur Kopplung mit Insulinpumpen. Nachteile sind dicke Transmitter, die umständlich anzulegen sind und überklebt werden müssen, um Verluste zu verhindern. Zudem benötigen beide Systeme zwei Blutzuckermessungen pro Tag zur Eichung. Das FGM-System bietet bei Patienten, die den Blutzucker sonst gar nicht oder zu wenig messen, einen deutlichen Vorteil und ist zudem viel kostengünstiger.
Basis-Bolus-Rechner
Heute sind Basis-Bolus-Rechner in allen Modellen von Insulinpumpen integriert. Sie sind ein wesentlicher Teil der
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FORTBILDUNG
Kasten:
In der Schweiz erhältliche digitale Blutzuckermesssysteme
Continuous Glucose Monitoring (CGM): a) Medtronic® Enlite® Sensor: Empfänger ist entweder eine Insulinpumpe (Minimed®) oder ein Guardian® Real Time-Empfänger. Für retrospektive Analysen im Hinblick auf notwendige Therapieänderungen kann das iPro®2-System eingesetzt werden, das aber dem Patienten keine Hypoglykämiewarnungen gibt. Der Sensor arbeitet normalerweise 6 Tage und muss 2-mal täglich mit einer kapillären BZ-Messung geeicht werden.
b) Dexcom G4® resp. G5®: Der Dexcom-Sensor ist für beide Systeme identisch. Beim Dexcom G4 sendet der Transmitter das Signal an einen Empfänger, beim Dexcom G5 wahlweise an einen Empfänger oder ein iPhone®. Der Sensor arbeitet normalerweise 7 Tage und muss 2-mal täglich mit einer kapillären BZ-Messung geeicht werden.
Beide Systeme warnen den Patienten bei Hypoglykämien.
Flash Glucose Monitoring (FGM): FreeStyle Libre: Das System misst ebenfalls die Glukose in der interstitiellen Flüssigkeit. Im Gegensatz zu den CGM-Systemen werden die Werte jedoch nicht kontinuierlich an einen Empfänger gesendet, sondern das Lesegerät wird dem Sensor genähert und ruft so den Glukosewert ab. Dieser Vorgang wird «Flash» (Blitz) genannt. Im Sensor bleiben die Glukosewerte während 8 Stunden gespeichert. Solange alle 8 Stunden ein Messwert abgerufen wird, verfügt das Lesegerät über die Informationen für die 24 Stunden des Tages.
Cave: Jedes technische Gerät kann Defekte aufweisen. Deshalb ist eine Blutzuckermessung bei nicht plausiblen CGM- oder FGMWerten weiterhin notwendig.
Pumpenbehandlung, da sie das noch wirksame Insulin bei der Berechnung der benötigten Insulinmenge berücksichtigen und auch Korrekturen bei hohen Blutzuckerwerten oder der Abdeckung von Nahrungsmitteln bieten. Nicht alle Diabetespatienten sind bereit, eine Insulinpumpe zu tragen. Für diese Situation wurde letztes Jahr eine neue Position (Blutzuckermessgerät mit integriertem elektronischem Insulinbolus-Ratgeber) in die Mittel- und Gegenstandsliste (MiGel) aufgenommen. Zurzeit ist ein solches Messgerät in der Schweiz noch nicht erhältlich.
Sensorunterstützte Insulinpumpen Die Kombination eines CGM-Systems mit einer Insulinpumpe ist sinnvoll, weil so die Insulininfusion bei sich abzeichnender Hypoglykämie automatisch gestoppt werden kann. Auf dem Schweizer Markt können bis heute nur Medtronic-Insulinpumpen mit dem Elite-CGM-Sensor gekoppelt werden. Bei etablierter Insulinpumpenbehandlung bedeutet der zusätzliche Einsatz eines CGM-Systems wegen der zweimal täglichen zur Eichung erforderlichen kapillären Blutzuckermessungen eine nicht zu unterschätzende Belastung sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Die Kombina-
tion dieser Hilfsmittel kommt daher vor allem für Patienten mit gestörter Hypoglykämiewahrnehmung infrage.
Indikationen für digitale Hilfsmittel
Die Indikation ist abhängig von Patienten- und Arztpräfe-
renz. Zwar können HbA1c-Werte über dem individuellen Zielbereich eine Indikation sein, es gibt aber keinen absolu-
ten HbA1c-Wert, mit dem die Indikation gestellt werden
kann. Gute Indikationen sind hohes Risiko für schwere
Hypoglykämien sowie Hypoglykämie-Wahrnehmungsstö-
rungen, ferner die Zeit vor der Empfängnis und während der
Schwangerschaft bei vorbestehendem Diabetes. Die Indika-
tion kann auch gestellt werden bei Personen mit Aversion
gegen das Stechen bei Injektionen oder Blutzuckermessungen
oder bei Patienten, die das regelmässige Stechen und Spritzen
trotz Schulung nicht in ihren Alltag einbauen können.
Der Einsatz von Glukosemesssystemen (CGM und FGM)
verteuert die Therapie wesentlich. Daher wird die Indikation
heute anfänglich zwar relativ breit gestellt, nach sechs Mo-
naten jedoch vom erzielten Behandlungseffekt (Blutzucker-
einstellung, Hypoglykämien) abhängig gemacht.
Die Richtlinie empfiehlt ein CGM bei Patienten mit Typ-1-
Diabetes (allein oder zusammen mit einer Insulinpumpe) bei
HbA1c-Werten ausserhalb des individuellen Zielbereichs, bei
häufigen schweren Hypoglykämien (Grad 2 oder 3), bei
«Brittle»-Diabetes oder bei Kleinkindern mit geringem
Insulinbedarf und starken Blutzuckerschwankungen. CGM-
Systeme können nächtliche Hypoglykämien reduzieren und
wechselnde Behandlungsbedürfnisse im Alltag (Sport, wech-
selnde körperliche Belastung im Beruf, Schichtarbeit,
Schwangerschaft) besser erkennen lassen.
Bei Typ-2-Diabetes empfiehlt die Richtlinie ebenfalls ein kon-
tinuierliches Glukosemonitoring bei Hypoglykämie-Wahr-
nehmungsstörungen, nächtlichen Hypoglykämien, schweren
Hypoglykämien und/oder Hospitalisationen. Ausserdem bei
Verdacht auf Hypoglykämie bei niedrigem HbA1c, Angst vor Hypoglykämien und dadurch bedingtem hohem HbA1c und bei Patienten mit HbA1c < 7,0 Prozent, die das Gerät fast
jeden Tag brauchen, um Hypoglykämien zu vermeiden.
Weitere Indikationen sind gegeben bei Patienten, die zur
Erreichung des Therapieziels mehr als zehn Blutzuckermes-
sungen pro Tag benötigen, falls so wesentliche Einsparungen
zu erzielen sind, ausserdem bei Patienten mit Insulintherapie,
die keine oder sehr wenige Blutzuckermessungen vornehmen
und deshalb ungenügend eingestellt sind, sowie bei Schwan-
geren nach erfolgten bariatrischen Eingriffen.
Ein diagnostisches Glukosemonitoring wird empfohlen bei
Zuständen, welche zu Hypoglykämien führen können, und
zu Schulungszwecken.
O
Halid Bas
Quellen: Die «Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED/SSED) für den Gebrauch neuer digitaler Hilfsmittel» (Version 1. Februar 2017) sind unter www.sgedssed.ch verfügbar. «Richtlinien bezüglich Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus» sind unter www.sgedssed.ch verfügbar. Im Anhang findet sich der Clarke-Score zur Überprüfung der Hypoglykämiewahrnehmung.
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