Transkript
EDITORIAL
Klartext statt Fachchinesisch
Wer Studien zur Vorbereitung von Artikeln, Referaten, Qualitätsszirkeln oder Fortbildungen lesen muss, liest erst einmal das Abstract. So lässt sich zeitschonend herausfinden, ob der betreffende Artikel das enthält, was man sucht. Nun ist es aber manchmal so, dass sich aus der Lektüre des Abstracts nicht unbedingt erschliesst, was der Inhalt des Artikels bereithält. Ging es Ihnen auch schon so? Es gibt Entwarnung: Es liegt nicht an Ihnen! Wissenschaftler des Karolinska-Instituts in Stockholm untersuchten nämlich in einer Studie (!), wie es sich mit der Lesbarkeit beziehungsweise Verständlichkeit der Texte in wissenschaftlichen Publikationen verhält. Schliesslich ist die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit von wissenschaftlichen Untersuchungen und Argumentationen Voraussetzung für die Anwendbarkeit der gefundenen Erkenntnisse. Die Wissenschaftler haben für ihre Prüfung 707 452 Abstracts aus 122 viel zitierten biomedizinischen Fachjournals wie «JAMA», «NEJM», «Lancet», «Nature», «Science» und so weiter unter die Lupe genommen und die Entwicklung der Sprachverständlichkeit von 1881 bis 2015 mithilfe zweier Kriterien untersucht: Der Lesbarkeitsindex Flesch Reading Ease (FRE) beruht auf der Anzahl Silben pro Wort und der Anzahl Worte pro Satz, und die New Dale-Chall Readability Formula (NDC) zählt den Anteil «schwieriger», wenig gebräuchlicher Begriffe pro Satz. Eine schlechtere
Lesbarkeit manifestiert sich im Englischen durch einen tiefen FRE-Score und einen hohen NDC. Das Studienresultat ist vernichtend. Während der FRE über die Jahre immer weiter absinkt, steigt der NDC umso kontinuierlicher an. Das heisst: immer weniger Worte pro Satz und diese mit steigender Tendenz in «schwierigem Jargon». Zum Vergleich: Ein FRE-Score von 100 entspricht einem Leseniveau von 10-Jährigen, ein FRE zwischen 0 und 30 wird von Studierten als unverständlich wahrgenommen. Während 1960 16,3 Prozent der Artikel unverständlich waren, betrug dieser Anteil im Jahr 2015 26,5 Prozent. Ein Viertel der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur fällt demnach unter die Verständlichkeitsgrenze! Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Phänomen führen die Autoren verschiedene Überlegungen an. Über die Jahre sei beispielsweise auch die Anzahl Koautoren stetig angestiegen, was den Stil sicher beeinflusse. Zudem bedürfe das ständig wachsende wissenschaftliche Wissen einer immer komplexeren Sprache, was zu einem zunehmenden Gebrauch von «Fachchinesisch» führe. Ihre Studienresultate seien sowohl für Wissenschaftler als auch eine breitere Öffentlichkeit besorgniserregend, weil die mangelnde Lesbarkeit sowohl die Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Befunde als auch deren Verfügbarkeit bedrohe. Vor diesem Hintergrund lohnt sich die manchmal mühsame Arbeit des verständlichen Ausformulierens eben doch anstelle der Verwendung irgendwelchen, bei uns häufig aus dem Englischen eingedeutschten Jargons. Man denke an Ausdrücke, deren präzise Übersetzung einem schon gar nicht mehr spontan einfallen oder die ungenau verwendet werden, weshalb es deshalb schwierig ist, ein adäquates deutsches Wort dafür zu finden. Man muss sich mühsam zurückerinnern, wie man es vor der Erfindung des neudeutschen Ausdrucks formuliert hat. Oder wüssten Sie so auf die Schnelle das deutsche Wort für Abstract, Outcome, Work-up, Bias, Check-up . . .?
Valérie Herzog
Plaven-Sigray P et al.: The readability of scientific texts is decreasing over time. bioRxiv 2017 Mar 22; www.biorxiv.org/content/early/2017/03/28/119370. Letzter Zugriff: 31.7.17.
ARS MEDICI 16 I 2017
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