Transkript
INTERVIEW
Cochrane-Evidenz frei Haus
Interview mit Dr. Erik von Elm, Kodirektor Cochrane Schweiz
Zu vielen klinischen Fragen gibt es meist mehrere Behand-
lungsansätze. Zu wissen, welcher davon aber am besten zu
einer Antwort führt, ist gar nicht so einfach. Systematische
Cochrane-Reviews über die bestehende Evidenz bieten
dazu unabhängige Information. Seit 2016 ist der Zugriff auf
die Cochrane Library von überall aus der Schweiz kosten-
frei. Wie Cochrane funktioniert, woher die Mittel kommen
und was Cochrane Schweiz bietet, erklärt Kodirektor
Dr. Erik von Elm im Interview.
ARS MEDICI: Man hört viel von Cochrane, was muss man sich darunter vorstellen? Dr. Erik von Elm: Cochrane ist ein professionelles, international tätiges Netzwerk von Wissenschaftlern und Fachpersonen mit Interesse an evidenzbasierter Information im Gesundheitsbereich. Der Hauptsitz ist in London. Zu diesem Netzwerk sind auch Patientengruppen gestossen.
ARS MEDICI: Wie finanziert sich Cochrane? von Elm: Cochrane ist eine nicht gewinnorientierte Organisation, deren Grundregel es ist, Interessenkonflikten fernzubleiben. Das heisst, dass keine Gelder aus dem kommerziellen Bereich, sprich der pharmazeutischen und der medizintechnischen Industrie, angenommen werden. Haupteinnahmequelle sind Lizenzeinnahmen aus der Cochrane Library. Projekte und die Review-Arbeit sowie die Arbeit der Zentren in den einzelnen Ländern werden mit öffentlichen Geldern, beispielsweise von Gesundheitsbehörden und Universitäten, finanziert.
ARS MEDICI: Um einen Cochrane-Review zu lesen, muss man etwas bezahlen? von Elm: Im Prinzip ja. Wie für andere wissenschaftliche Zeitschriften haben akademische Institutionen und Bibliotheken ein Abonnement. Die Cochrane Library ist also wie ein Journal. Wer keinen Zugang über solche Institutionen hat, muss tatsächlich etwas bezahlen. In der Schweiz ist das aber nicht mehr so.
ARS MEDICI: Inwiefern? von Elm: Die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften, das Bundesamt für Gesundheitswesen und die Universitätsbibliotheken haben zusammen eine Nationallizenz erworben und ermöglichen so für alle Nutzer in der Schweiz einen kostenfreien Zugang zur Cochrane Library
und damit zu über 7000 Cochrane-Reviews. Damit wird evidenzbasiertes Wissen breiter, das heisst, auch niedergelassenen Ärzten und sonstigen Interessierten zugänglich gemacht.
ARS MEDICI: Nach welchen Kriterien werden die Themen für die Reviews ausgesucht? von Elm: Es gibt mittlerweile über 50 Review-Gruppen, die sich alle um jeweils einen Themenkreis wie zum Beispiel muskuloskelettale Erkrankungen, Schwangerschaft und Geburtshilfe oder Schmerz- und Palliativbehandlung kümmern. Aus diesen Review-Gruppen heraus entstehen oft weitere Vorschläge für Reviews. Auch neue Autorengruppen, die Expertisen und Ressourcen für das Erstellen eines Reviews haben, können Themen vorschlagen. Durch internationale Koordination werden thematische Überlappungen vermieden, sodass es zu einer Fragestellung nur jeweils einen Cochrane-Review gibt. Es gibt aber auch Aufträge.
ARS MEDICI: Um welche Art Aufträge handelt es sich dabei? von Elm: Wir arbeiten zunehmend beim Erstellen von systematischen Reviews mit nationalen und internationalen Auftraggebern zusammen, auch mit grossen Organisationen wie der WHO. Diese arbeitet zum Beispiel zurzeit an einer Empfehlung zu einer Besteuerung von Fett in Nahrungsmitteln. Der Auftrag an die Cochrane-Autoren lautet in diesem Fall, die Evidenz zur Wirksamkeit einer solchen Steuer aufzuarbeiten.
ARS MEDICI: Haben schon Krankenkassen oder andere Versicherer angeklopft? von Elm: Nein, bis anhin noch nicht. Ein Review zur Wirksamkeit von spezifischen Therapien wäre durchaus vorstellbar. Das eigene Interesse des Auftraggebers an einem bestimmten Ergebnis der Auswertung müsste aber sehr klar ausgeklammert sein.
ARS MEDICI: Wie geht Cochrane mit Interessenkonflikten um? von Elm: Interessenkonflikte müssen für eine möglichst neutrale Aussage klar eliminiert sein, diese können aber nicht nur beim Auftraggeber liegen. Bei der Auswahl der ReviewAutoren wird zum Beispiel darauf geachtet, dass Fachexperten nicht ihre eigenen Studien bewerten müssen und die Auswahl der Studien per se korrekt ist. Jedes Review-Protokoll und jeder vollständige Review durchläuft auch ein Peer-Review.
ARS MEDICI: Ein Cochrane-Review ist nicht ganz einfach zu lesen. Wie ist er aufgebaut? von Elm: Das System ist immer das gleiche. Wenn man sich einmal die Mühe gemacht hat, die einzelnen Teile wie auch die Grafiken zu verstehen, findet man sich in allen Reviews gut
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INTERVIEW
Zur Person
Dr. med. Erik von Elm ist Kodirektor und Mitbegründer von Cochrane Schweiz, hat an der Universität Tübingen (Deutschland) promoviert und sich in Epidemiologie (MSc London School of Hygiene and Tropical Medicine, GB) und Public Health (FMH Prävention und Gesundheitswesen, Schweiz) weitergebildet. Er ist unter anderem akademischer Editor für die Zeitschrift PLOS ONE, Mitglied der GRADE-Arbeitsgruppe und Ad-hoc-Reviewer für mehrere biomedizinische Zeitschriften und Forschungsförderungsinstitutionen.
Foto: vh
zurecht. Es gibt zum Beispiel eine Eigenentwicklung von Cochrane zur Beurteilung der Studienqualität, das sogenannte Risk-of-Bias-Tool, das grafisch standardisiert im Ampelschema dargestellt wird. Grün steht für gute Qualität, gelb für unklare, rot für schlechte Qualität, das heisst hohes BiasRisiko.
Entscheidung andere Kriterien wie zum Beispiel Kosten oder Präferenz des Patienten höher gewichten. Das ist das Ziel von Cochrane: die bestmögliche Entscheidungsgrundlage zu einer bestimmten Fragestellung zu liefern. Eine solche Frage ist beispielsweise, ob ein Riss des vorderen Kreuzbandes operiert oder konservativ behandelt werden soll. Im aktuellen Review konnte nur eine kleinere Studie gefunden werden, in der keiner der Behandlungsansätze überlegen war.
ARS MEDICI: Was ist die Aufgabe von Cochrane Schweiz? von Elm: Cochrane Schweiz existiert seit 2010 und besteht aus einem Team von zehn Personen, vor allem in Lausanne, aber auch in der Deutschschweiz und im Tessin. Wir sind in der Schweiz Ansprechpartner für alle Belange von Cochrane inklusive der Nutzung der Cochrane Library. Unsere Aufgabe ist es einerseits, Autorengruppen in der Schweiz, die eine Idee für einen Review haben, entsprechend zu unterstützen. Das heisst, wir bilden sie auch in Workshops aus. Andererseits sind wir darum bemüht, die produzierte Evidenz in verschiedenen Formaten dort hinzubringen, wo sie gebraucht wird, beispielsweise zum Praktiker, zu anderen Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen oder zu Patientengruppen. Dafür wurde beispielsweise «Cochrane Kompakt» oder der Blog «Wissen was wirkt» geschaffen.
ARS MEDICI: Es gibt viele Cochrane-Reviews mit schwachen Schlussfolgerungen. Wie kommt das? von Elm: Ein Review, der zehn schwache Studien einschliesst, kann keine starke Schlussfolgerung generieren. Andere wissenschaftliche Journals würden so einen Review vielleicht ablehnen. Cochrane-Autoren klopfen eine Fragestellung auf vorhandene Studienergebnisse in der Literatur ab, selbst wenn man nachher sagen muss, dass es keine guten Daten dazu gibt und damit keine gute Evidenz. Die Antwort auf die Fragestellung wäre dann in diesem Fall: «Was wir bis jetzt machen, hat keine gute Evidenzbasis.» Auch das ist eine wichtige Antwort. Denn dann kann ein Praktiker in seiner
ARS MEDICI: Was bietet «Cochrane Kompakt»? von Elm: Auf der Cochrane-Website können unter «Cochrane Kompakt» patientengerecht aufbereitete Informationen zu den einzelnen Reviews kostenfrei abgerufen werden. Das deutschsprachige Angebot wurde von uns in der Schweiz initiiert und ist eine Kooperation mit den Kollegen in Deutschland und Österreich. Es werden nach und nach Übersetzungen auf Deutsch der «Plain Language Summaries», also der Zusammenfassungen in vereinfachter Sprache, zur Verfügung gestellt. Von dort kann der Nutzer, wenn ihn ein Thema näher interessiert, direkt auf die englischen Volltexte in der Cochrane Library zugreifen.
Cochrane Schweiz http://swiss.cochrane.org/de
Cochrane Library http://www.cochranelibrary.com
ARS MEDICI: Hat sich der kostenfreie Zugang in den Nutzerzahlen bemerkbar gemacht? von Elm: Seit Einrichten der Nationallizenz für die Cochrane Library im Januar 2016 haben sich die Nutzerzahlen im Vergleich zum Jahr davor verdoppelt. Seither sind sie erfreulicherweise konstant. Etwa alle drei Minuten wird in der Schweiz ein Cochrane-Review heruntergeladen. Das Lesen dauert dann aber wohl etwas länger! Man kann damit sagen, dass diese Strategie funktioniert hat und der freie Zugang zu medizinischer Evidenz einem echten Bedürfnis entspricht. O
Cochrane Kompakt http://cochrane.org/de/evidence
Das Interview führte Valérie Herzog.
Cochrane Blog «Wissen was wirkt» http://www.wissenwaswirkt.org
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