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Therapieoptionen bei Dranginkontinenz
Sind alle Behandlungen gleichwertig?
Dranginkontinenz ist eine Blasenspeicherstörung mit plötzlichem, nicht beherrschbarem Harndrang mit unwillkürlichem Urinabgang, erhöhter Entleerungsfrequenz tagsüber sowie Nykturie. Das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten ist gross. Lebensstilanpassung, Blasentraining, Medikamente, Botox, elektrische Stimulation oder chirurgische Interventionen stehen zur Auswahl. Doch was bringen sie?
EAU-Guideline zu Urininkontinenz
www.rosenfluh.ch/qr/UI
Eine Übersicht über die therapeutischen Möglichkeiten bei Dranginkontinenz bot Dr. Hashim Hashim, Director of Urodynamics Unit, Bristol Urological Institute, University of Bristol, am 32. Jahreskongress der European Association of Urology (EAU) in London seinen Zuhörern. Was bringen nicht invasive Therapiemöglichkeiten? Die Wirksamkeit einer nicht invasiven elektrischen Stimulation bei überaktiver Blase wurde in einem Cochrane Review einer Prüfung unterzogen. Grundlage dafür waren 63 Studien mit 4424 Teilnehmern, die elektrische Stimulation mit keiner oder einer anderen Therapie verglichen. Es zeigte sich, dass elektrische Stimulation für eine Symptomminderung besser zu sein scheint als Plazebo, Beckenbodentraining oder Pharmakotherapie (1).
Medikamentöse Optionen
Bei den medikamentösen Therapien gilt es abzuwägen, welche Substanzklassen zum Einsatz kommen sollen. Ein weiterer Cochrane Review tat dies mit der Fragestellung
IN DER SCHWEIZ VERFÜGBARE MEDIKAMENTE BEI DRANGINKONTINENZ
Handelsname Anticholinergika Detrusitol® SR 2 bzw. 4 mg Tolterodin Pfizer® Ret 2 bzw. 4 mg Ditropan® 5 mg Emselex® Ret 7,5 bzw. 15 mg Kentera® TTS 3,9 mg/24 h Spasmex®, SpasmoUrgenin® 20 mg Toviaz® Ret 4 bzw. 8 mg Vesicare® 5 bzw. 10 mg Beta-3-Agonist Betmiga® Ret 25 bzw. 50 mg
Substanzname Tolterodin
Oxybutynin Darifenacin Oxybutynin Trospium Fesoterodin Solifenacin Mirabegron
Dosierung 1 × 4 mg/Tag
3 × 5 mg/Tag Initial 1 × 7,5 mg/Tag, nach 2 Wochen evt. 1 × 15 mg/Tag 1 TTS alle 3–4 Tage 2 × 20 mg/Tag 1 x 4–8 mg/Tag 1 × 5–10 mg/Tag 1 x 25–50 mg/Tag
der Wirksamkeit von Anticholinergika versus nicht medikamentöse Therapien wie Blasentraining, Beckenbodentraining mit oder ohne Biofeedback, Lebensstiländerung, elektrische Stimulation oder chirurgische Eingriffe. Für die Analyse dienten 23 Studien mit gesamthaft 3685 Patienten. Die einzelnen Studien waren klein und dauerten zwischen 2 und 52 Wochen. Dabei bewirkten Anticholinergika eine stärkere Symptomlinderung als Blasentraining. «Das Blasentraining hat jedoch keine Nebenwirkungen. Hier sollte man Nutzen und Risiko einer nicht invasiven und einer systemischen Therapie gegeneinander individuell abwägen», gab Hashim zu bedenken. Die Kombination von Blasentraining und Anticholinergika schnitt auch besser ab als das Blasentraining alleine. Ob Blasentraining plus Anticholinergika effektiver ist als Anticholinergika alleine, zeigen die Daten nicht klar. Für die elektrische Stimulation gibt es limitierte Evidenz von kleineren Studien dahingehend, dass dieses Verfahren bei Patienten, denen Anticholinergika nichts mehr bringen, eine Option ist (2). Welche Anticholinergika zu bevorzugen sind, beantwortete ebenfalls ein systematischer Review von Cochrane (3): Tolterodin schneidet in Bezug auf die Nebenwirkungen besser ab als Oxybutynin, bei beiden ist eine Retardformulierung zu bevorzugen. Solifenacin wirkt besser als Tolterodin und hat weniger Nebenwirkungen (trockener Mund), und Fesoterodin wirkt besser als Tolterodin zum Preis von möglicherweise einem höheren Risiko für trockenen Mund.
Botox oder sakrale Neuromodulation?
Was bringt Botox? Gegenüber Plazebo ist eine Injektion mit Onabotulinumtoxin A bei refraktären OAB-Symptomen wirksamer (4). Im Vergleich zu Anticholinergika reduzierte Onabotulinumtoxin A in der ABC-Studie die Inkontinenzepisoden in ähnlichem Ausmass über 6 Monate (5). In einer kürzlich publizierten Studie mit Onabotulinumtoxin A 100 U oder Solifenacin 5 bis 10 mg versus Plazebo hatten die Patienten unter Botox signifikant weniger Inkontinenzepisoden (6). Auch gegenüber Mirabegron scheint Botox gemäss einer Metaanalyse stärker wirksam zu sein (7), doch «als First-Line-Therapie ist
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trotz allem eine nicht invasive Therapie zu bevorzugen», so der Kommentar von Hashim. Als weitere Möglichkeit bietet sich die sakrale Neuromodulation an. Gegenüber Anticholinergika ist diese Methode betreffend Wirksamkeit vorteilhafter (8), doch ist auch sie invasiv. Wenn man beide invasiven Methoden einander gegenüberstellt, so zeigte sich in der 6 Monate dauernden ROSETTA-Studie, dass die Wirksamkeit in puncto Dranginkontinenzepisodenreduktion unter Botox leicht besser ist. Unter Botox kam es aber nach 1 und 6 Monaten bei 8 respektive 2 Prozent der Patienten zu katetherisierungspflichtigen Harnwegsinfektionen, unter der sakralen Neuromodulation kam es in 3 Prozent der Fälle zu Revisionen und Entfernungen (9). Konsensus darüber, was bei Dranginkontinenz wann zu verschreiben ist, besteht gemäss Hashim nicht. Seine Empfehlung lautet daher: Die am wenigsten belastenden Verfahren zuerst. Im Misserfolgsfall muss mittels Einsatz von Medikamenten ein Gang höher geschaltet werden. Bringt das immer noch keine befriedigende Lösung, kann eine invasive Methode in Betracht gezogen werden. Das Wichtigste dabei sei es aber, die Therapiemöglichkeiten mit dem Patienten zu diskutieren und dessen Vorstellungen und Wünsche mit einzubeziehen.
Valérie Herzog
Referenzen: 1. Stewart F et al.: Electrical stimulation with non-implanted electrodes for overactive bladder in adults. Cochrane Database Syst Rev 2016; 12: CD010098. 2. Rai BP et al.: Anticholinergic drugs versus non-drug active therapies for non-neurogenic overactive bladder syndrome in adults. Cochrane Database Syst Rev 2012; 12: CD0031193.
Take Home Messa es
® Patientenvorstellungen und Wünsche in Therapiestrategie mit einbeziehen.
® Erst nicht invasive Therapiemöglichkeiten ausschöpfen, bevor Medikamente zum
Einsatz kommen.
® Bei anhaltendem Misserfolg invasivere Methoden wie Botoxinjektion oder sakrale
Neuromodulation erwägen.
3. Madhuvrata P et al.: Which anticholinergic drug for overactive bladder symptoms in adults. Cochrane Database Syst Rev 2012; 1: CD005429. 4. Duthie JB et al.: Botulinum toxin injections for adults with overactive bladder syndrome. Cochrane Database Syst Rev 2011; 12: CD005493. 5. Visco AG et al.: Anticholinergic therapy vs. onabotulinumtoxina for urgency urinary incontinence. N Engl J Med 2012; 367: 1803–1813. 6. Herschorn S et al.: The Efficacy and Safety of Onabotulinumtoxin A or Solifenacin Compared with Placebo in Solifenacin Naïve Patients with Refractory Overactive Bladder: Results from a Multicenter, Randomized, Double-Blind Phase 3b Trial. J Urol 2017; pii: S0022-5347 (17) 30189-1. 7. Freemantle N et al.: Comparative assessment of onabotulinumtoxin A and mirabegron for overactive bladder: an indirect treatment comparison. BMJ Open 2016; 6: e009122. 8. Siegel S et al.: Results of a prospective, randomized, multicenter study evaluating sacral neuromodulation with InterStim therapy compared to standard medical therapy at 6-months in subjects with mild symptoms of overactive bladder. Neurourol Urodyn 2015; 34: 224–230. 9. Amundsen C et al.: Onabotulinumtoxin A vs Sacral Neuromodulation on Refractory Urgency Urinary Incontinence in Women: A Randomized Clinical Trial. JAMA 2016; 316: 1366–1374.
Quelle: «Urgency incontinence: Are all treatments equally effective?» 32. Jahreskongress der European Association of Urology (EAU), 24. bis 28. März 2017 in London.
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