Transkript
EAU
Nykturie multifaktoriell angehen
Nächtliche Toilettengänge verursachen hohe Morbidität
Explizite Guidelines für die Behandlung der Nykturie gibt es bei der European Association of Urology nicht. Prof. Karel Everaert, Department of Urology, Ghent University Hospital, Belgien, hat am 32. Jahreskongress der EAU in London Abklärungen und Massnahmen zur Nykturie zusammengestellt, die auch nicht urologische Ursachen umfassen und trotzdem nicht mehr Zeit brauchen.
Nächtliche Toilettengänge können viele Ursachen haben. Der Leidensdruck infolge von Schlafentzug ist beträchtlich, und die Folgen resultieren unter anderem in Tagesmüdigkeit, Konzentrationsschwäche und bei älteren Personen in einer erhöhten Sturzgefahr. Aus urologischer Sicht muss eine reduzierte Blasenkapazität, eine nächtliche oder eine allgemeine Polyurie abgeklärt werden. Ein Miktionsprotokoll über 24 bis 48 Stunden mit Uhrzeit der Blasenentleerung, entleerter Harnmenge und der Trinkmenge gibt darüber Aufschluss. Von Polyurie ist bei über 2,8 Litern Harn in 24 Stunden die Rede. Wenn davon über ein Drittel in der Nacht produziert wird, handelt es sich um eine nächtliche Polyurie. Eine verminderte Blasenkapazität liegt dagegen bei häufigen Entleerungen kleiner Harnvolumina (< 250 ml) vor (1). Bei reduzierter Blasenkapazität besteht im Rahmen einer Therapie der überaktiven Blase die Behandlungsmöglichkeit mit Antimuskarinika und bei benigner Prostatahyperplasie die Therapie mit Alpha-1-Blockern. An Infektionen der Harnwege wie auch an Urolithiasis sollte ebenfalls gedacht werden. Liegt eine nächtliche Polyurie vor, kann die Antidiurese durch die abendliche Einnahme des schon seit Langem verwendeten Vasopressin-2-Rezeptoragonisten Desmopressin induziert werden (2). Eine 4 Wochen dauernde doppelblind randomisierte und plazebokontrollierte Studie zeigte auch mit dem sublingualen Applikationsweg eine Verbesserung der Symptomatik infolge verlängerter ungestörter Schlafabschnitte und reduzierter nächtlich produzierter Harnvolumen. Bei Patienten über 65 Jahre sollte man den Serumnatriumspiegel wegen möglicher Hyponatriämie im Auge behalten (3). Auch mit einem Schleifendiureitikum wie Furosemid, nachmittags eingenommen, könne die überschüssige Flüssigkeit entfernt werden, berichtet Everaert. Hier muss ebenfalls auf Elektrolytverlust-bedingte Nebenwirkungen geachtet werden, insbesondere auf Hyponatriämie, die mit steigendem Alter vermehrt auftreten kann. Nicht urologische Nykturieursachen Nicht urologische Ursachen für eine Nykturie können beispielsweise auch hormonell bedingt sein. Sexualhormone beeinflussen das adiuretische Hormon (ADH). Progesteron sorgt für niedrigere ADH-Spiegel und damit vermehrte Wasserausscheidung, Östrogen steigert den ADH-Spiegel, was die Wasserexkretion bremst. Eine Hormonersatztherapie in der Menopause könnte bei einer Nykturie unterstützend wirken (1). Bei kardiovaskulären Patienten mit Hypertonie und venösen Ödemen sowie bei Patienten mit Herz-, Nierenoder Leberinsuffizienz besteht in aufrechter Position ein zentraler hydrostatischer Druck. Legen sich die Patienten zum Schlafen nieder, fliesst die gestaute Flüssigkeit in das intravaskuläre Kompartiment zurück, das überschüssige Wasser wird via Niere ausgeschieden (1). Blutdrucksenkung, vor allem nachts, Ödembekämpfung mit Strümpfen, Diuretika tagsüber oder regelmässiges Hochlagern der Beine, physische Aktivität und Gewichtsverlust sind hier laut Everaert mögliche unterstützende Massnahmen. Es gibt aber auch Erkrankungen wie Parkinson und multiple Sklerose, die den zirkadianen Rhythmus beeinträchtigen und die nächtliche ADH-Sekretion reduzieren, was wiederum zu mehr Harnproduktion in der Nacht führt (1). Obstruktive Schlafapnoe ist auch eine oft übersehene Ursache von nächtlicher Polyurie. Der erhöhte Atemwi- 14 • CongressSelection Urologie • Juni 2017 EAU derstand führt indirekt zu einer Sekretion atrialer natriuretischer Peptide und zu reduziertem ADH, was die nächtliche Wasserausscheidung erhöht. Zu untersuchen ist natürlich auch die Flüssigkeitsaufnahme. Wer viel trinkt, scheidet auch viel Flüssigkeit aus. Ein Trinkprotokoll gibt hier Aufschluss (1). Alles auf einmal Es gibt eine Erkrankung, die gemäss Everaert alle erwähnten nicht urologischen Nykturieursachen in sich vereint: Adipositas. Adipöse Patienten essen viel (Proteine, Salz), was sie auch durstig macht. Darum trinken sie auch viel. Durch den hohen intraabdominalen Druck in ihrem Körper ist die Filtration und damit die Diurese angeheizt. Adipöse Patienten haben in der Regel auch eine Hypertonie, meist eine, deren Blutdruckwerte nächtlich nicht absinken. Häufig schnarchen sie nachts und leiden überdies oft auch an Typ-2-Diabetes mellitus, was die Diurese in beiden Fällen zusätzlich fördert. Übergewichtige Patienten haben auch mehr untere Harnwegssymptome wie beispielsweise eine diabetische Zystopathie, und sie bewegen sich in der Regel zu wenig. TANGO für nicht urologische Ursachen Herauszufinden, ob und welche für die Nykturie klinisch relevanten koexistierenden Erkrankungen vorhanden sind, ist mit einem nur wenige Minuten dauernden Fragebogen sehr einfach geworden. Australische Ärzte haben den Short-Form-Fragebogen TANGO (Target Aetiology of Nocturia to Guide optimal Outcomes) (Abbildung) entwickelt und validiert, der durch Patienten ausgefüllt wird. Aus 22 einfach formulierten Aussagen aus den vier Indikationsgebieten kardial/metabolisch, Schlaf, Harnwege und Wohlbefinden kreuzt der Patient die zutreffenden an. Das ermöglicht beispielsweise die Entdeckung der Notwendigkeit eines Schlafassessments, einer Untersuchung auf Diabetes, einer Schmerzintervention oder einer Depressionsabklärung – alles Faktoren, die die nächtliche Urinspeicherung beeinflussen, so die Begründung der Entwickler. Patienten, die mehr als einmal in der Nacht unterwegs sind, haben eine hohe Morbidität, die mit den Erkenntnissen aus TANGO mehrgleisig angegangen werden kann (4). «Mit diesem Fragebogen weiss man auf einen Blick, welche Patienten man zu welcher Fachdisziplin weiterweisen muss. Das spart viel Zeit», resümiert Everaert abschliessend. Valérie Herzog Referenzen: 1. Van Kerrebroeck et al.: Terminology, Epidemiology, Etiology, and Pathophysiology of Nocturia. Neurourol Urodyn 2014; 33 Suppl: S2–5. 2. Weiss JP et al.: Management of nocturia: the role of antidiuretic pharmacotherapy. Neurourol Urodyn 2014; 33 Suppl: S19–24. 3. Weiss JP et al.: Desmopressin orally disintegrating tablet effectively reduces nocturia: results of a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Neurourol Urodyn 2012; 31: 441–447. 4. Bower W et al.: TANGO – a screening tool to identify comorbidities on the causal pathway of nocturia. BJU Int 2017 Jan 11; Epub ahead of print. Quelle: Treatment of nocturia, what really works. 32. Jahreskongress der European Association of Urology (EAU), 24. bis 28. März 2017 in London. TANGO-SF-SCREENING-FRAGEBOGEN Zutreffendes bitte ankreuzen (mod. nach [4]) Meine Knöchel, Füsse oder Beine schwellen tagsüber an. Ich nehme Wassertabletten (z.B. Lasix). kardial/metabolisch Ich habe eine Nierenkrankheit. Ich nehme Blutdrucktabletten. Mir wird oft schwindlig, wenn ich aufstehe. Ich habe hohen Blutzucker oder Diabetes. Es ist schwierig, meinen Blutdruck stabil zu halten. Ich schlafe 5 Stunden oder weniger pro Nacht. Ich würde meine Schlafqualität als schlecht bezeichnen. Ich brauche mehr als 30 Minuten, um einzuschlafen. Schlaf Ich habe wegen meiner Blase Schwierigkeiten durchzuschlafen. Ich habe nachts oft Schmerzen. Man sagt, dass ich in der Nacht laut schnarche oder dass mein Atem stoppt. Innerhalb von 3 Std. nach dem Zubettgehen muss ich aufstehen, um zu urinieren. Ich verspüre plötzlichen Harndrang an den meisten Tagen. Harnwege Mindestens einmal in der Woche passiert ein Harndrangunglück. Ich muss mich oft anstrengen oder pressen, um das Urinieren in Gang zu bringen. (nur für Männer) Ich habe eine vergrösserte Prostata. Im Allgemeinen würde ich sagen, dass meine Gesundheit nicht gut ist. Wohlbefinden Beim Autofahren, Essen oder bei sozialer Aktivität werde ich oft schläfrig. Ich bin in den letzten 3 Monaten einmal gestürzt. Ich freue mich nicht mehr so auf Dinge, wie ich es früher tat. Take Home Messa es ® Miktionstagebuch und Screening für nicht urologische Ursachen (TANGO) anwenden. ® Anpassung von Flüssigkeits-, Salz- und Proteinaufnahme. ® Zugrunde liegende Störungen von Prostata, Blase und Hormonhaushalt behandeln. ® Therapie der nächtlichen Polyurie mit Desmopressin. ® Furosemid tagsüber, falls Desmopressin nicht ausreichend oder kontraindiziert. ® Hyponatriämie bei > 65-Jährigen im Auge behalten.
CongressSelection Urologie • Juni 2017 • 15