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SCHWERPUNKT
Sexualität im Digitalzeitalter
Neugier und Normalität bei Jugendlichen
Weder eine Dramatisierung der Wirkung von Pornografie auf das Sexualverhalten der Jugendlichen noch deren Bagatellisierung ist sinnvoll. Wieweit neue Medien die Entwicklungsaufgaben und die damit verbundenen Verhaltensstrategien von Jugendlichen beeinflussen, muss ständig überprüft, diskutiert und wissenschaftlich erforscht werden. Wenn wir mit den Jugendlichen in Kontakt bleiben wollen, ist es wichtig, dass wir auch einen Einblick in ihre Lebenswelt suchen. Insofern braucht es immer wieder ein Update für Fachpersonen.
Von Lukas Geiser
Hey Alte, so pervers!» Silvan, Adnan und Serge sitzen auf dem Pausenhof und schauen gespannt auf ihr Smartphone. Ein verlegenes Lachen, ein Spruch und eine sexuelle Geste weisen darauf hin, dass sich die drei einen Porno anschauen. Rasch legen sie das Handy weg, als eine Lehrperson, irritiert durch das Gehabe der Jungs, an ihnen vorbeigeht. Als die Lehrperson die Begebenheit im Lehrerzimmer erzählt, entsteht im Kollegium eine heftige Diskussion über das Verhalten der Jugendlichen. Das Erwachen der Sexualität im Jugendalter wird von der Erwachsenenwelt oft mit Sorge betrachtet. Es entsteht eine Angst, dass sich Kinder oder Jugendliche «sexuell überfordern», «verderben» oder etwas tun, für das sie «noch zu jung» sind. Ist diese Angst begründet? Sind die Jugendlichen wirklich zu jung? Und wofür?
Unumgängliche Entwicklungsaufgaben
Ausgehend von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter können Erklärungsmuster für Ausdrucksformen und Verhalten aufgezeigt werden. Quellen für Entwicklungsaufgaben sind zum einen die individuellen Verhaltensabsichten, Zielsetzungen und Werte des Individuums, zum anderen die Erwartungen, Wertvorstellungen und der kulturelle Druck der Gesellschaft sowie die physische Reifung des Organismus. Gerade in Bezug auf Sexualität sind Entwicklungsaufgaben bei Teenagern mit Aspekten verbunden, die im Kindesalter anders oder noch nicht ausgeprägt sind und die in der Pubertät erarbeitet werden (1): • Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung
und effektive Nutzung des Körpers • Übernahme der (männlichen respektive weiblichen)
Geschlechterrolle
• Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts
• Streben nach und Erreichen eines sozial verantwortungsvollen Verhaltens
• Aufbau eines Wertesystems • über sich selbst im Bilde sein • Aufnahme intimer Beziehungen zum Partner re-
spektive zur Partnerin. Diese Aufgaben sagen noch nichts über das Verhalten oder die Ausdrucksform aus, aber sie machen uns bewusst, auf welche Aspekte das Verhalten im Jugendalter begründet ist. Neugierde am Sexuellen, experimentieren mit Körper und Sprache gehören zu zentralen Ausdrucksformen, die sich in wichtige Entwicklungsaufgaben einordnen lassen. Neue Medien sind dafür prädestiniert, diese Neugierde zu stillen und Antworten zu sexuellen Fragen zu suchen, die im direkten Kontakt mit Erwachsenen so schambesetzt sind, dass Fragen dazu kaum gestellt werden. Wie weit neue Medien die Entwicklungsaufgaben und die damit verbundenen Verhaltensstrategien von Jugendlichen beeinflussen, muss ständig überprüft, diskutiert und wissenschaftlich erforscht werden. Um sich von Verhaltensweisen einzelner Jugendlicher nicht blenden zu lassen, ist es zentral, wissenschaftliche Befunde, die etwas über Jugendsexualität und den Einfluss von Medien aussagen, zu betrachten. Was schauen, machen und produzieren sie?
Jugendsexualität und neue Medien
In der Schweiz existieren verschiedene Studien, die etwas über den Konsum von sexualitätsbezogenen Inhalten und Pornografie aussagen. Die James-Studie der ZHAW zeigt auf, dass «rund drei Viertel der befragten Jungs zwischen 12 und 19 Jah-
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Man sollte vom Verhalten einzelner Jugendlicher nicht auf alle schliessen.
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Abbildung 1: Konsum erotischer oder pornografischer Inhalte Jugendlicher in der James-Studie (2)
Sexuelle Darstellungen im Internet liefern anscheinend genau die Antworten, die Jugendliche brauchen. Dabei unterscheiden sich die Mädchen von den Jungs sehr stark. Eine deutsche Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (4) zeigt auf, dass bei der Frage «… möchte ich gerne mehr darüber wissen …» Themen wie sexuelle Praktiken oder Geschlechtskrankheiten an oberster Stelle stehen. Bei einer Schweizer Befragung (5) aus dem Jahr 2009 stehen sexuelle Praktiken, Zärtlichkeit und Liebe sowie Geschlechtskrankheiten bei den Bereichen mit offenen Fragen zuoberst. Trotz der medialen Überflutung mit sexualitätsbezogenen Inhalten hat sich der Prozentsatz der 17-Jährigen, die angaben, schon mindestens einmal vollständigen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, in den letzten 30 Jahren mit kleineren Schwankungen kaum verändert (Abbildung 2) (4–6).
Abbildung 2: Anteil der 17-Jährigen, die angeben, mindestens einmal vollständigen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben (1972–2014) (5)
ren auf dem Handy oder dem Computer schon Pornofilme angeschaut haben, während dies bei den Mädchen lediglich ein Fünftel getan hat (grosser Effekt). Auch gibt es einen Unterschied beim digitalen Versand von Pornofilmen: Jungen haben dies signifikant häufiger getan als Mädchen (kleiner Effekt). Beim Verschicken von erotischen Fotos und Videos von sich selbst sind die Jungen und Mädchen gleichauf» (2) (Abbildung 1). In einer Befragung von Lust und Frust aus dem Jahr 2010 waren dabei die Jungen und Mädchen aktiver (3): «Im eindimensionalen Vergleich geben doppelt so viele Jungen (88,7%) wie Mädchen (43,5%) im Alter zwischen 13 und 16 Jahren an, Pornos gesehen zu haben.» Gemäss James-Studie spiegelt sich das unterschiedliche Interesse der Mädchen und Jungen auch in den bevorzugten Webseiten wider (2): «Die sozialen Netzwerke facebook.com und instagram.com werden häufiger von Mädchen als von Jungen als bevorzugte Webseiten angegeben, ebenso der Modeanbieter zalando.ch. Jungen hingegen nannten häufiger das Pornografieportal xnxx.com sowie die Video-Plattform twitch.tv.»
Pornofilme oder Castingshows als Risikofaktor?
Eine Dramatisierung der Wirkung von Pornografie auf das Sexualverhalten der Jugendlichen ist genauso wenig sinnvoll, wie diese zu bagatellisieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirkung pornografischer Mediendarstellung sind vorhanden, zeichnen aber kein eindeutiges und abschliessendes Bild. Bezüglich sexueller Gesundheit sind Risiken auszumachen, wie zum Beispiel die Entstehung von sexuellem Leistungsdruck (7), sexueller Unzufriedenheit (8) oder suchtartiger Sexualität (9). Als positive Wirkungen werden unter anderem die Überwindung sexueller Hemmungen oder die Bereicherung des verfügbaren Repertoires sexueller Praktiken (8) genannt, was wiederum zu grösserer sexueller Erfüllung führe. Alexander Rihl spricht davon, dass Pornografie zwar zur Lebenswelt der Jugendlichen gehört, jedoch kein vorrangiges Thema in Gesprächen sei, sondern mehr ein unwichtiger Themenbereich von vielen (10). Gunter Schmidt unterstützt diese Befunde und meint (11): «Schon lange vor dem Internet war unsere Umwelt durch und durch sexualisiert, Reize sind spätestens seit den Siebzigerjahren in den westlichen Gesellschaften omnipräsent, und auch heute ist das Netz nur ein Teil unserer sexualisierten Umwelt. Bei Jugendlichen hat das eher zu einem gelassenen Umgang mit Sexualreizen geführt.» Der Vergleich der beiden oben genannten Studien zeigt, dass der Pornografiekonsum in den letzten Jahren eher rückläufig ist. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass alle Jugendlichen bereits Pornografie konsumieren, sondern einige Jungen wie Mädchen gar kein Interesse danach verspüren. Interessant ist der Blick auf andere Medienformate wie zum Beispiel «Germanys Next Topmodel», «Bachelor», Online-Spiele (12, 13) oder Musikvideos, in denen weibliche Akteurinnen häufig Ausgrenzung und Abwertung erfahren. Das Interesse an diesen Formaten ist gross, und die Frage stellt sich nach der entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkung solcher Inhalte. Der Sexualwissenschaftler Frank Herrath erläutert, dass es in der Wirkung nicht nur um explizite Darstellungen geht, sondern auch um die subtilen Inhalte
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(14): «Wenn Gewalt und Übermächtigung als geil, normal, wünschens- und erstrebenswert sowie statusverbessernd präsentiert wird – sowohl im sexuellen wie im nicht sexuellen Kontext – und je subtiler, geschickter, hinterhältiger dies geschieht, desto beeinträchtigender kann die Wirkung ausfallen. Ich glaube fest, dass die – im engeren Sinne eher nicht sexuellen – Demütigungsrituale bei Germanys Next Topmodel deutlich problematischere Effekte hinsichtlich des Hinnehmens von Fremdbestimmung bei jungen Frauen haben als ein SM-Porno.» Petra Grimm geht noch weiter und bemerkt, dass sich alle Experten weitgehend einig sind, dass «die Jugendlichen auf der kognitiven Ebene durchaus zwischen Realität und den in den Medien dargestellten pornografischen Inhalten unterscheiden können» (7). Allerdings ist der Transfer zwischen realer und virtueller Welt abhängig vom Grad kognitiver und emotionaler Reife, wie Klaus M. Beier vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin erwähnt (15).
Im Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen
«Während in der frühen Kindheit die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in einem hohen Masse von der sozialen Umgebung des Kindes abhängig ist, nimmt diese Abhängigkeit im Verlaufe der Entwicklung ab», schreibt Nancy Bodmer (1). Diese Entwicklungsaufgaben werden insbesondere in der Interaktion mit anderen Menschen, seien es Peers oder Erwachsene, bewältigt. Die Interaktion geschieht auch mit Hilfe der neuen Medien, in denen oft stereotype Bilder von Sexualität vermittelt oder verhandelt werden. Wenn nun Kinder und Jugendliche auf ihre stereotypen Vorstellungen, wie Sexualität sein sollte, nur die mediale und einseitige Resonanz erhalten, verfestigen sich die medial aufbereiteten Bilder in ihren Köpfen, weil sie keine Alternativen zur Verfügung gestellt bekommen. Insbesondere dann, wenn ein tiefer Grad emotionaler und kognitiver Reife besteht, wird es schwierig mit der Unterscheidung zwischen der Realität und den in den Medien gezeigten Inhalten. Kinder und Jugendliche müssen erleben, dass ihr Tun etwas auslöst. Dieses soziale, emotionale sowie kognitive Lernen funktioniert durch interaktives Tun. Dazu suchen sich Kinder und Jugendliche ein Praxisfeld, in dem sie die Wirksamkeit ausprobieren können. Bekräftigt wird die Aussage von Daniel Süss, dass «je weniger Primärerfahrungen Kinder und Jugendliche in einem bestimmten Bereich (z.B. Sexualität) haben, desto stärker können sie von einseitigen Medienbildern in ihrem Selbst- und Weltbild beeinflusst werden» (16). Diese Primärerfahrungen nimmt die Gesellschaft oft als Zeichen für eine «verdorbene/verruchte Jugend» oder «zu frühzeitige Sexualisierung» wahr – oder wie die Autoren Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche erläutern (17): «Was den meisten Menschen die ‹frühzeitige Sexualisierung› als Schaden erscheinen lässt, ist nichts anderes als ihr Wissen, wie Personen bestimmter Altersgruppen auf sexuelle Reize zu reagieren und wie sie sexuell zu agieren haben – oder eben auch: wie nicht.»
Die Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt und Sven Levandrowski beschreiben neue, gesellschaftlich geprägte Normierungen, die für Jugendliche und Erwachsene zu alltäglichen Herausforderungen werden: • das Lustprinzip der «modernen» Sexualität • sexuelle Selbstbestimmung (gender equalizing) • vom Trieb zum designten Verhalten • Sexualität wird häufiger als eine Erlebnismöglich-
keit unter anderen angesehen und mit solch anderen Möglichkeiten gleichgesetzt • Sexualität verliert den Sonderstatus • scheinbar ist alles möglich.
Moral und Normgebung der Erwachsenen
Das Aufeinandertreffen von Moral und Normgebung der Erwachsenenwelt auf die Neugierde und den Entdeckungsdrang der Jugendlichen ist geprägt von persönlichen Positionen, der gesellschaftlichen Normierung sowie einer Verunsicherung durch Studien, Blogs und Zeitungsartikel. Wie wir mit Primärerfahrungen von Kindern und Jugendlichen umgehen, hängt auch stark von unseren eigenen Wertvorstellungen ab. Woher komme ich? Welche Wirkung hat meine eigene sexuelle Biografie? Welche Werte sind mir wichtig und welche will ich Kindern und Jugendlichen vermitteln? Wie kann oder will ich Dinge beeinflussen? Die Frage, welches kulturelle Verhalten wir uns von den Jugendlichen bezüglich Sexualität wünschen, und das Betrachten gesellschaftlich häufig diskutierter Themen wie Sprache, Körperinszenierung, Fetischismus, Pädophilie, Pornografie, Neigungen, sexuelle Orientierungen und Identitäten oder auch das (sexuelle) Verhalten in Beziehungen können helfen, das Spannungsfeld, in dem wir allenfalls stehen, zu durchleuchten. Dass sich Jugendliche gerade in ihren Entwicklungsaufgaben an den genannten Themen reiben, die notabene von der Gesellschaft und von der Rechtsprechung nicht konsensuell betrachtet werden, erscheint plausibel. Das Inszenieren, Ausprobieren und Suchen nach der richtigen Vorgehensweise eines erwachsenen Sexualverhaltens ist nicht neu. Das haben auch wir durchlebt. Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche sprechen davon, dass sich Jugendliche zu sexuell erwachsenen Personen entwickeln müssen. Sie müssen lernen, wie sie sich im jeweiligen Kontext zu verhalten haben (17): «Was die Gesellschaft auf sexuellem Gebiet als ‹Erwachsen werden› bezeichnet, ist nichts anderes als das Beherrschen der sozialen Regeln im Umgang miteinander.» Diesen Sozialisationsprozess unter Einfluss der Entwicklungsaufgaben müssen Jugendliche erst bewältigen und erlernen. Die Erwachsenenwelt hat mit diesem Sozialisationsprozess immer wieder Mühe. Was passiert da mit dem Sex der Generation Porno, X oder Y? Die folgenden kontroversen Zitate sind subjektive Positionen, die verdeutlichen, dass wir sexuell in einer sehr pluralen und heterogenen Welt leben: • «Diese Generation hat Sex nach einem Drehbuch,
das männliche Bedürfnisse in den Vordergrund stellt, den Hochleistungen der Pornos nacheifert
Soziales, emotionales sowie kognitives Lernen funktioniert durch interaktives Tun.
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Sexuelle Bildung soll zu einem realistischen Selbstkonzept führen.
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und durch unrealistische Ideale Körperhass verbreitet.» (Nina Kunz und Michael Kuratli, WOZ, 3.3.2016). • «Natürlich gehört Sex zu unserem Leben, aber wir sind ganz sicher weder ‹Generation Porno› noch ‹Generation Hochleistungssex› … Wir sind die erste Generation, die Sex endlich für das hält, was er ist: etwas völlig Normales und Natürliches.» (Anna Maltsev, NZZ Campus, 22.6.2016) Die Zitate verdeutlichen die vor zwanzig Jahren von Gunter Schmidt beschriebene Perspektive des «Verschwindens der Sexualmoral». Er sprach bereits damals davon, dass ständig von Sex gesprochen werde, «aber vor allem im Kontext von Gewalt, Ausbeutung und Entwürdigung, also im Kontext von Angst, Empörung, von Schuld und Beschämung» (18). Dies spiegelt sich auch in den Aussagen Erwachsener wider, die von der «Generation Porno» oder der «Generation Hochleistungssex» sprechen und den Jugendlichen dadurch nicht gerecht werden. Jan Winter vom Youtube-Channel «61 Minuten Sex» bleibt gelassen (19): «Eigentlich sind die Jugendlichen heutzutage genau wie früher immer noch ziemlich normal drauf. Man könnte ja denken, durch die Pornografie sind sie abgedriftet. Das stimmt aber nicht, denn die Jugendlichen haben immer noch das Bedürfnis nach einer intimen, zärtlichen Begegnung und ja, einer sexuellen Begegnung.»
Sexuelle Bildung nicht den Medien überlassen
Werfen wir noch einen Blick auf den Lernprozess des Auslotens von «normalem» und «deviantem» Verhalten. Kinder und Jugendliche müssen als Grundlage auch ein Wissen über diese beiden Begriffe besitzen. Sie müssen sich im Kontext von Entwicklungsaufgaben mit normal oder deviant auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung und Aufgabe wird zumeist in der Interaktion mit anderen Menschen, seien es Peers oder Erwachsene, bewältigt. Entscheidend ist, dass Räume für Kinder und Jugendliche geschaffen werden müssen, damit sie die einseitigen sexualitätsbezogenen Bilder einordnen und korrigieren können (20). Uwe Sielert fordert für Kinder und Jugendliche sexuelle Bildung mit den Zielen eines realistischen Selbstkonzepts, eines angemessenen Selbstwertgefühls und einer realistischen Selbstwirksamkeit (21). Damit können Kinder und Jugendliche in ihrem emotionalen, aber auch kognitiven Reifeprozess begleitet werden. Für die Umsetzung dieser Ziele und des sexuellen Sozialisationsprozesses helfen folgende Handlungsansätze, die sowohl von Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen, aber auch in der pädiatrischen Sprechstunde mit Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern angesprochen und umgesetzt werden müssen: • Schaffen von Settings, in denen Jugendliche über
Sexualität sprechen können • pädagogisch geführte Diskussionsrunden zu prakti-
schen Erfahrungsfeldern • Vermitteln und korrigieren von medizinischem Wis-
sen sowie Darlegen der Vielfalt sexuellen Verhaltens
• Eltern darauf aufmerksam machen, dass ein zu früher Pornografiekonsum den Entwicklungsprozess empfindlich stören kann
• Angeben von Weblinks, die differenzierte und nützliche Informationen verbreiten
• über positive und negative Seiten von Internetsex diskutieren
• über Begriffe wie Pornografie, Erotik, Liebe und so weiter sprechen, damit Jugendliche ein differenziertes Bild der sexuellen Wirklichkeit erhalten
• realitätsferne Vorstellungen von Sexualität korrigieren • Informationen zu Recht und Gesetzgebung • Grenzen setzen, wenn die Integrität anderer Men-
schen verletzt oder bedroht werden. Menekse Çagliyan erwähnt im Zusammenhang mit Migranten, dass es für Heranwachsende von immenser Bedeutung ist, gerade in der Pubertät kompetente Vertrauenspersonen zu haben, denen sie ihre Fragen über alle sexuellen Themen ohne Peinlichkeit stellen können. Für Beratende, Institutionen und Eltern ist das Kennenlernen der ihnen fremden Kultur (Werte, Normen, Erziehungsziele, Rollenfunktion der Geschlechter) wichtig. Sie müssen lernen, eine Sprache für sexuelle Themen zu finden, sowie erkennen, dass Sexualaufklärung nicht zwangsläufig zu sexuellen Handlungen führt (22). Wenn wir mit den Jugendlichen in Kontakt bleiben wollen, ist es wichtig, dass wir auch einen Einblick in ihre Lebenswelt suchen. Insofern braucht es immer wieder ein Update. Entscheidend ist, dass Erwachsene Empathie im Umgang mit unterschiedlichsten Einstellungen über Sexualität entwickeln, die «Bälle flach halten», unter Beachtung von Menschenrechten Grenzen klar aufzeigen und unseren Kindern und Jugendlichen unterstützend zur Seite stehen.
Korrespondenzadresse: Lukas Geiser Dozent für Sexualpädagogik Fachkoordinator Gesundheitsförderung und Prävention Sekundarstufe 1 Pädagogische Hochschule Zürich Lagerstrasse 2, LAB K050 8090 Zürich E-Mail: lukas.geiser@phzh.ch
Literatur: 1. Bodmer N: Psychologie der Jugendsexualität. Theorie, Fakten und Interventionen. Huber, Bern, 2013. 2. Waller G, Willemse I, Genner S, Suter L, Süss D: JAMES – Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz. Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Zürich, 2016. 3. Geiser L: Medien- und Pornografiekonsum von Jugendlichen im Kanton Zürich. Lust und Frust, Fachstelle für Sexualpädagogik, Zürich, 2011. 4. BZgA: Repräsentative Wiederholungsbefragung. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln, 2015. www.forschung.sexualaufklaerung.de/4763.html 5. Bodmer N: Jugendsexualität heute: Studie zu Verhaltensweisen, Einstellungen und Wissen. In: Eid. Komm. f. Kinder- und Jugendfragen, EKKJ (Hrsg.): Jugendsexualität im Wandel der Zeit. Bern, 2009. 6. BFS: Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB) 2012. BFS, Neuchâtel, 2015. 7. Grimm P, Rhein S, Müller M: Porno im Web 2.0. Vistas-Verlag, Hannover, 2010. 8. Zillmann D: Pornografie. In: Mangold R, Vorderer P, Bente G (Hrsg): Lehrbuch der Medienpsychologie. Hogrefe, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle, 2004.
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