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FORTBILDUNG
ADHS: Medikamentöse und nicht medikamentöse Therapien bei Kindern und Jugendlichen
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist eine chronische Problematik. Umso wichtiger sind eine Diagnostik und eine Betreuung, die zur Verbesserung der Entwicklungsprognose beitragen. An den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen ist die Chefärztin Dr. Suzanne Erb mit Vertretern des Kinderspitals und anderer Fachdisziplinen dabei, in einer Arbeitsgruppe ein Versorgungskonzept aufzustellen, das eine Langzeitbetreuung gewährleistet. Im Interview spricht sie über weitere qualitätssichernde und differenzierte Hilfestellungen für betroffene Kinder und Jugendliche und deren Familien.
Suzanne Erb
Psychiatrie & Neurologie: Was sind die Ursachen für eine ADHS? Dr. Suzanne Erb: Die wirkliche Ursache für ADHS ist unbekannt. Es gibt diverse Erklärungsmodelle. Aus biologisch-medizinischer Sicht wird das Störungsbild als Folge einer angeborenen Neurotransmitterstörung des Gehirns mit vorwiegend genetischer Ursache verstanden. Allerdings kennt man kein einzelnes Gen, auf dem die ADHS «codiert» wäre und dem die Symptomatik zuzuordnen ist. Tiefenpsychologisch orientierte Kinderund Jugendpsychiater und -psychotherapeuten haben sich vor allem um die Jahrtausendwende sehr für ein Erklärungsmodell eingesetzt, wonach die Symptomatik die Folge einer unsicheren Bindung respektive einer frühen Traumatisierung ist. Die ADHS ist dann die Folge von vernachlässigenden und schädigenden Umwelteinflüssen beim Kind. Wir gehen heute davon aus, dass die Störung multifaktoriell bedingt ist und dass es präund perinatale wie auch frühkindliche schädigende Einflüsse – organischer oder psychologischer Art – auf die Gehirnentwicklung gibt, die schliesslich für dieselben oder ähnliche Symptome verantwortlich sein können. Tatsächlich sind Kinder, die frühe Traumatisierungen erlitten haben, und Kinder mit einer ADHS in ihrer Symptomatik oft nur schwer oder fast gar nicht zu unterscheiden. Für die Praxis ist es einfach wichtig, von einer sinnvollen Arbeitshypothese auszugehen: Ein Kind mit einer ADHS leidet an einer Schwäche der Fähigkeit zur Steuerung seiner Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen. Unter günstigen und strukturierenden Umweltbedingungen muss sich die Symptomatik gar nicht als ADHS manifestieren, oder die Kinder können eine positive Entwicklung durchlaufen. Das heisst, Kinder mit konstitutionellen Schwächen leiden im Allgemeinen mehr und zeigen auch mehr Symptome, wenn Belastungen zunehmen und der Schutz seitens ihrer Bezugspersonen und unterstützende Faktoren wegfallen.
Ist demnach eine ADHS gar keine Krankheit? Ab welchem Lebensalter ist es trotzdem sinnvoll, nach einer Diagnose zu suchen? Suzanne Erb: ADHS ist keine nosologische Entität im klassischen Sinn. Sie hat beispielsweise kein pathologisch-anatomisches Korrelat, und es gibt auch keine Stoffwechselprodukte, die eine ADHS beweisen kön-
nen. Das heisst, es ist eine Krankheitsbeschreibung aufgrund von empirischen Beobachtungen, für die eine ätiologische Zuordnung fehlt – ein Syndrom! Eine ADHS ist aus psychiatrischer Sicht zudem eine Ausschlussdiagnose – eines der Diagnosekriterien ist, dass keine andere psychiatrische Störung primär für die Symptomatik verantwortlich ist. Auch hat eine gestörte Aufmerksamkeitsleistung an sich noch keinen Krankheitswert. Entscheidend dafür ist der Ausprägungsgrad und letztlich der Leidensdruck. Man spricht deshalb von einer «dimensionalen» – ausprägungsabhängigen – im Gegensatz zu einer «kategorialen» – vorhandenen oder nicht vorhandenen – Störung. Ist der Leidensdruck gross genug, hilft jedoch die Diagnose, um auf dieser Verständnisgrundlage mit den Eltern und Bezugspersonen nach einer geeigneten Unterstützung zu suchen. In welchem Alter die Diagnose gestellt werden muss, wird kontrovers diskutiert: Führende amerikanische Vertreter des «0–5-Bereichs» sprechen sich für eine Diagnosestellung ab dem 3. Lebensjahr aus. Unsere Kleinkindspezialisten raten davon ab, plädieren aber für eine symptomorientierte Behandlung und sorgfältige Verlaufsdiagnostik bei diesen Kleinkindern.
Welches Prozedere in der Abklärung bietet sich dann an? Suzanne Erb: Ein sorgfältig und individuell abgestimmtes. ADHS ist eine Ausschlussdiagnose, und die Diagnostik ist kompliziert, weil die Kinder oft nicht nur eine ADHS haben. Zu 70 Prozent liegt zusätzlich eine komorbide Störung vor. Das können psychische oder Entwicklungsstörungen sein – entweder konstitutioneller Natur, gleichzeitig vorliegend, oder als Folge der ADHS. Es gilt also, weder die ADHS oder die komorbiden Störungen zu übersehen, noch ein anderes Störungsbild fälschlicherweise für eine ADHS zu halten.
Wie erfolgt die weitere Betreuung bei den KJPD St. Gallen? Was läuft gut, was wäre zu verbessern? Suzanne Erb: Mit einem unterstützenden und kompetenten Umfeld ist die ADHS-Problematik zu handhaben. Sorgen machen uns Kinder, die grossen Belastungen im familiären oder schulischen Umfeld ausgesetzt sind und nicht die geeignete Unterstützung erhalten. Im Kanton St. Gallen ist in den letzten Jahren eine Arbeitsgruppe mit Vertretern aus medizinischen, thera-
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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peutischen und schulischen Fachbereichen entstanden, die sich für ein gemeinsames Verständnis der ADHSProblematik, für ein gemeinsames Behandlungskonzept und qualitätssichernde Massnahmen in der Versorgung dieser Kinder einsetzt. Was fehlt, ist die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit, daran arbeiten wir in der Arbeitsgruppe. Unser Ziel: die richtige Behandlung zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Bis heute ist es Zufall, wo ein Kind angemeldet wird und was für eine Form der Hilfe es erfährt. Wir möchten ein gemeinsam, konsensuell getragenes Verständnis der ADHS und ein einheitliches Vorgehen entwickeln, damit alle beteiligten Fachpersonen vom gleichen Inhalt reden und dementsprechend handeln. Einen grossen Unterschied könnten zudem sogenannte Case-Manager machen, die die Familie langfristig betreuen, wie dies bereits heute engagierte Kinderärzte, -psychologen und -psychiater tun. Wir hoffen, dass uns die Umsetzung in den nächsten Jahren glückt.
Korrepondenzadresse: Dr. med. Suzanne Erb Ärztliche Direktorin Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste St. Gallen Brühlgasse 35/37 Postfach 447 9004 St. Gallen E-Mail: suzanne.erb@kjpd-sg.ch
Welche beratenden und psychotherapeutischen Möglichkeiten gibt es für Kinder und Jugendliche mit ADHS? Suzanne Erb: Für die Behandlung liegen Leitlinien vor. In Kürze sollte eine neue, überarbeitete Version dieser Leitlinien erscheinen. An erster Stelle steht die Psychoedukation: Die Eltern müssen aufgeklärt sein. Gemeinsam mit ihnen wird beraten, was das Kind braucht. Die Behandlung soll also sehr individuell erfolgen. Es braucht zudem Massnahmen und Unterstützung im Alltag, in der Schule und so weiter. Nebst dieser bekannten, individuell multimodalen Behandlung kann aus meiner Sicht als neueres Psychotherapieverfahren die Mentalisierungsinformierte oder -basierte Therapie (MBT) ein überzeugender Ansatz für betroffene Familien und Kinder sein. Denn ADHS kann bezüglich der sozialen Auffälligkeiten selber als eine Störung der Mentalisierungsfähigkeit verstanden werden: Die sozialen Beziehungen sind dadurch belastet, die soziale und die Selbstwahrnehmung sind für diese Patienten erschwert. Mentalisierungsinformierte Ansätze sind sehr schöne Möglichkeiten, die helfen, die Beziehungsqualität in der Familie zu verbessern.
Könnten Sie einen Fall schildern, in dem die Abklärung und die Behandlung funktioniert haben? Und was die Gründe dafür waren? Suzanne Erb: Ein positiver Verlauf ist für mich, wenn die Patienten trotz Schwierigkeiten in der Schule oder im
ADHS und ADS kurz erklärt
Von einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätstörung (ADHS) spricht man bei folgenden Kriterien: G Unaufmerksamkeit, Überaktivität, Impulsivität, Beginn der Störung vor dem 7.
Lebensjahr, regelmässiges Auftreten der genannten Symptome in mehr als einer Lebenssituation des Kindes. Die Auffälligkeiten verursachen deutliches Leid oder Beeinträchtigung. Die Störung kann nicht durch andere, definierte Störungsbilder erklärt werden. G Bei ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) bestehen erhebliche Unaufmerksamkeit und Planungsschwierigkeiten, aber keine Hyperaktivität sowie eine gering ausgeprägte Impulsivität.
Beruf eine gute Entwicklung schaffen, weil durch die Behandlung eine positive Beziehung von Eltern und Kind möglich ist, und wenn Fachleute aktiv zusammenarbeiten und eine Person den Langzeitverlauf im Auge behält und verbindlich übernimmt. Positiv ist für mich auch, wenn immer wieder Standortgespräche geführt werden und das schulische Umfeld an diesen teilnimmt. Zudem sollte es verstärkte Interventionen geben, wenn neue Entwicklungsherausforderungen anstehen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn der Kontakt unter den Fachpersonen aufrechterhalten wird.
Welche Rolle spielen Therapien über das Internet/Computerspiele? Suzanne Erb: Computerbasierte Aufmerksamkeitstrainings werden eingesetzt, aber die Wirksamkeit bezüglich des Transfers in den Alltag ist umstritten. Computerbasierte Trainings der exekutiven Funktionen sind von entwicklungspädiatrischer Seite her hingegen vielversprechend. Die Kinder sitzen bei diesen Trainings allein vor dem Computer und werden gezielt gefördert. Die Eltern können miteinbezogen werden.
Ab welchem Zeitpunkt sollte auch an eine medikamentöse Unterstützung gedacht werden? Suzanne Erb: An eine medikamentöse Unterstützung ist dann zu denken, wenn die therapeutischen Möglichkeiten nicht rasch genug oder zu wenig wirken. Auch in krisenhaften Situationen kann es notwendig sein, ein Medikament zu verordnen. Beispielsweise dann, wenn die Gefahr besteht, dass ein Kind sonst von der Schule ausgeschlossen wird. In den KJPD St. Gallen haben rund ein Drittel der Kinder mit ADHS eine Medikation. Die Standardmedikation ist Methylphenidat. Wenn die Wirkung ausbleibt oder die Nebenwirkungen zu stark sind, kann der Wechsel auf eine andere Stoffklasse wie Atomexitin oder Lisdexamphetamin erfolgen. Die Dosierung ist immer sorgfältig einzutitrieren und dem Tagesverlauf anzupassen. Zudem sollten die Eltern darauf achten, dass das Kind genügend und regelmässig isst und trinkt.
Werden noch immer Medikamente ohne genaue Diagnostik verordnet? Suzanne Erb: Das sehe ich bei uns nur noch selten. Ich beobachte eher, dass die Verschreibung von Kinderärzten und -psychiatern sehr sorgfältig erfolgt. Ich denke, mittlerweile wissen Fachpersonen, dass die Behandlung von ADHS eine sorgfältige Diagnostik voraussetzt. Und dass sie nicht nur die pharmakologische Seite umfasst, sondern die anderen Massnahmen zuerst kommen.
Ist es wichtig, zwischen ADHS und ADS zu differenzieren?
Suzanne Erb: Ja, sonst besteht die Gefahr, dass die ADS
untergeht. Denn der Zugang zur psychiatrischen
Versorgung ist bei ADS schwieriger, weil die Kinder
weniger stören. Häufig sind auch Mädchen betroffen.
Die Unterscheidung ist auch wichtig für die Art der
Intervention.
G
Sehr geehrte Frau Dr. Erb, wir bedanken uns für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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