Transkript
EDITORIAL
(Zu) lange arbeiten
Ob früher wirklich alles besser war, wie manche sagen, sei einmal dahingestellt – schliesslich handelt es sich dabei immer um eine Frage der Perspektive. Das nachlassende Erinnerungsvermögen mag überdies noch zur retrospektiven Weichzeichnung beitragen. Anders wars, und viele im Spital haben wohl von der – heute gesetzlich verankerten – Wochenarbeitszeit für angestellte Ärztinnen und Ärzte von maximal 50 Stunden nur träumen können. Aber auch heute ist diese zulässige Höchstarbeitszeit gemäss einer aktuellen Umfrage* im Auftrag des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) noch für weniger als die Hälfte der Betroffenen Realität. Trotz eines Rückgangs der vereinbarten Wochenarbeitszeit um durchschnittlich 1,5 Stunden im Vergleich zu 2014 sind 52 Prozent der rund 3300 teilnehmenden Personen im Schnitt fast 56 Stunden pro Woche im Dienst. Zudem werden durchschnittlich 2,6 Stunden der wöchentlichen Mehrarbeit nicht einmal aufgeschrieben – Tendenz steigend. Zwar hat die Anzahl Tage, die am Stück gearbeitet wurden, gesamthaft nachgelassen. Aber immer noch 45 Prozent der jungen Kollegen haben im vergangenen Jahr mehr als 7 Tage am Stück gearbeitet – arbeitsrechtlich ebenfalls nicht zulässig. Das bleibt nicht ohne Folgen für Sicherheit und Gesundheit: Die befragten Ärztinnen und Ärzte beurteilen ihr Befinden heute als schlechter, jeder Zweite fühlt sich «oft oder meist müde», drei von zehn fühlen sich «ausgelaugt». Die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreichten
2014 etwa ein Drittel der Befragten zumindest gelegentlich, in der jüngsten Umfrage waren es 38 Prozent, unter den Teilzeiterwerbenden 35 Prozent. Mal ehrlich, möchten Sie von einem Kollegen behandelt werden, den man im Strassenverkehr wegen Übermüdung nicht mehr ans Steuer lassen würde? Die Hälfte (!) der Befragten hatte in den letzten beiden Jahren persönlich eine Situation erlebt, in der berufsbedingte Übermüdung zur Gefährdung von Patienten geführt habe, auch hier eine Zunahme gegenüber 2014, damals waren es erst 38 Prozent. Abhilfe scheint dringend geboten, aber was tun? Mehr Ärzte einzustellen, wäre nur theoretisch naheliegend, praktisch wohl nicht zuletzt aus Kostengründen eher keine Option. Aber man könnte die Arbeitsverteilung überprüfen und Tätigkeiten delegieren, die nicht unbedingt von Ärzten ausgeführt werden müssen. Die befragten Kollegen nennen konkrete Ansatzpunkte, wie beispielsweise administrative Arbeiten ohne Patientenbezug, die delegierbar wären. Der VSAO will zum Sommer eine Aktion mit konkreten Verbesserungsvorschlägen lancieren. Bis dahin stellt sich die Frage, ob die Spitäler das Problem nicht lösen können oder nicht lösen wollen – möglicherweise ist diese Nicht-Lösung aber auch ein Beitrag zur Behebung des Hausärztemangels. Mag in der Praxis die Stundenzahl auch genauso hoch sein wie im Spital, ist man dort doch sein eigener Chef oder geniesst die Vorteile der Flexibilität einer Gruppenpraxis. Apropos: Wie lange arbeiten Sie pro Woche in Ihrer Praxis? Nehmen Sie an unsere Online-Umfrage teil, wir sind gespannt auf das Ergebnis!
Christine Mücke
* Mehr zur VSAO-Mitgliederbefragung finden Sie unter: www.rosenfluh.ch/qr/vsao-mitgliederbefragung
Wie viele Arbeitsstunden hat die Hausarztwoche? Wie viele Stunden pro Woche arbeiten Sie in der Praxis? Nehmen Sie an unserer Umfrage teil unter www.rosenfluh.ch/qr/umfrage-arbeitszeit
ARS MEDICI 8 I 2017
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