Transkript
2 • 2017
Fortbildung
Neuropathischer Schmerz
Therapieoptionen für alte Patienten
Stechend, dumpf oder bohrend, einschiessend, kribbelnd oder brennend – Schmerzen haben viele Gesichter. Auf der Suche nach dem Schmerzverursacher geht der Arzt meist von degenerativen Auslösern aus, zum Beispiel von einer Osteoporose, einer Gelenkarthrose oder von Wirbelsäulenbeschwerden. Beim alten Patienten treten allerdings auch Schmerzen häufiger auf, die durch eine Erkrankung oder Schädigung des Nervensystems ausgelöst werden. Gemeint ist der sogenannte neuropathische Schmerz, der unterschiedliche, wechselnde Symptome hat und einer speziellen Therapie bedarf.
Etwa 8 Prozent der Patienten mit chronischem Schmerz klagen über neuropathische Schmerzen (1, 2). Das zeigen aktuelle Daten aus Grossbritannien und Frankreich. Bei etwa 11 Prozent der niederländischen Altenheimbewohner wurde ein sicherer neuropathischer Schmerz und bei 5,6 Prozent ein möglicher neuropathischer Schmerz eruiert (3). Eingeteilt wird diese Schmerzform in zentrale neuropathische und periphere neuropathische Schmerzen – nach den betroffenen Anteilen. Ursachen für zentrale neuropathische Schmerzen können im Alter zum Beispiel ein Apoplex, vor allem im Thalamusbereich, und Morbus Parkinson sein. Periphere neuropathische Schmerzen finden sich vor allem bei Diabetikern und als Folge einer Herpes-zoster-Erkrankung. Als weitere Ursache sollte ein Mangel an Vitamin B12, Vitamin B1 und Eisen beim alten Patienten abgeklärt werden. Ausserdem treten hier Trigeminusneuralgien und ischämische Neuropathien auf. Natürlich löst auch eine Spinalkanalstenose neuropathische Schmerzen aus. Eine ausführliche Liste möglicher Ursachen ist in neuen Veröffentlichungen nachzulesen (4).
Dr. med. Corinna Drebenstedt
Diagnostik Woran erkennt man, dass die Schmerzen, über die der Patient klagt, neuropathischer Natur sind? Neuropathischer Schmerz äussert sich meist als brennender oder einschiessender Schmerz. Sogenannte Plussymptome wie Hyperalgesie und Allodynie, aber auch Minussymptome wie Hypästhesie und Hypalgesie können auf neuropathische Schäden hindeuten. Schon eine einfache klinische und neurologische Basisuntersuchung kann also einen ersten Hinweis geben. Hilfreich sind auch spezifische Fragebögen, mit denen die typischen Symptome abgefragt werden können (5). Ein Goldstandard in der weiteren Diagnostik wurde bisher noch nicht festgelegt. In der Regel wird die Vermutung durch neurophysiologische Tests untermauert. Die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit erfasst keine Schädigungen der dünnen Nervenfasern, und auch zentral ausgelöste neuropathische Schmerzen können so nicht erkannt werden. In den letzten Jahren hat sich die Quantitative Sensorische Testung (QST) als sehr hilfreiche, aber auch aufwendige Untersuchung etabliert. Des Weiteren sind sensorisch-sensible evozierte und laserevozierte Potenziale und Hautbiopsien zu empfehlen. Bei einem Verdacht auf neuropathische Schmerzen sollte also ein Neurologe hinzugezogen werden (6).
Therapie Der wichtigste und erste Schritt ist, reversible Ursachen abzuklären und zu behandeln. Dabei müssen sich Arzt und Patient im Klaren darüber sein, dass eine reine Schmerztherapie bei neuropathischen Schmerzen nur bedingt erfolgreich sein kann. So beschreiben die nationale Versorgungsleitlinie für die Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter und weitere Leitlinien zum Thema
neuropathische Schmerzen eine Linderung um 30 bis 50 Prozent, eine Verbesserung der Schlafund Lebensqualität sowie den Erhalt der Teilhabe am sozialen Leben und der Arbeitsfähigkeit als realistische Therapieziele (7). Medikamentös gibt es mehrere Möglichkeiten: Als erste Empfehlung stehen in den Leitlinien trizyklische Antidepressiva, allen voran Amitriptylin. Es ist allerdings für geriatrische Patienten aus verschiedenen Gründen nicht geeignet. Neben starken anticholinergen Nebenwirkungen, die kognitive Einschränkungen auslösen und verstärken können, sind Wechselwirkungen, QT-Zeit-Verlängerung, Schwindel und Erhöhung der Sturzgefahr gute Argumente, um Trizyklika nicht beim alten Menschen einzusetzen. Als weitere Empfehlungen der ersten Wahl gelten die Kalziumkanalliganden Gabapentin und Pregabalin. Pregabalin hat zusätzlich die Zulassung für zentrale neuropathische Schmerzen. Aber auch hier sind die Nebenwirkungen teilweise beachtlich und können im Alter den Einsatz dieser Medikamente verhindern. Zu nennen sind hier vor allem Schwindel und Schläfrigkeit. Beide Medikamente werden renal eliminiert und müssen bei Niereninsuffizienz in der Dosis angepasst werden. Bei Pregabalin können ausgeprägte periphere Ödeme einen Therapieabbruch erzwingen. Mit Duloxetin gibt es ein weiteres Arzneimittel, das für die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie zugelassen und wirksam ist. Der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) ist dabei relativ gut verträglich, hat aber einige Interaktionen zur Folge, die zu beachten sind. So erhöhen sich zum Beispiel die Metoprololspiegel. Und Raucher benötigen die doppelte Dosis. Als eine gewünschte Nebenwirkung ist hingegen die zweite Indikation für Duloxetin bemerkenswert: die Stressinkontinenz. Dies könnte die Medikamentenauswahl beeinflussen. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sind
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Tabelle:
Auswahl von Medikamenten zur Therapie neuropathischer Schmerzen, die für geriatrische Patienten besonders geeignet sind
«Pharmakologisch nicht interventionelle Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen» (8).
Wirkstoff
1. Wahl Pregabalin
Angriffsort
KalziumkanalLigand
Gabapentin
KalziumkanalLigand
Duloxetin
sSNRI
2. Wahl Tramadol
Schwaches Opioid
Dosierung für ältere Patienten
Start mit 25 mg abends, je nach Nebenwirkungen aufdosieren zunächst bis 2 × 75 mg, falls nicht ausreichend wirksam bis 2 × 150 mg Start mit 100 mg abends, aufdosieren auf 300 mg, dann auf 2 × 300 mg bis auf 2 × 600 mg Start mit 30 mg 1 × tgl., dann vorsichtig erhöhen auf 60 mg
Langsam mit 50 mg 1–2 × tgl., aber nur retardiert
Tapentadol* Starker Opioid-
Start mit 2 × 50 mg,
retard (BTM) rezeptor-Ligand ggf. Erhöhung auf
und NRI
2 × 100 mg
Oxycodon
Starkes Opioid
Start mit 2 × 5 mg,
retard
dann langsam Erhöhung
je nach Wirkung/NW
* In der Schweiz auch in einer Dosierung von 25 mg verfügbar.
Nebenwirkungen/ Bemerkungen
Müdigkeit, Schwindel, Ödeme Gewichtszunahme, kreatininabhängig dosieren
Müdigkeit, Schwindel
Cave: Metoprolol, Raucher! Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit
Prodrug mit Aktivierung über Cyp 450 2D6, bei schnellen Metabolisierern Übelkeit und schnelle Anflutung, bei langsamen Metabolisierern keine Wirkspiegel. Interaktion mit Metoprolol und Duloxetin. Typische Nebenwirkungen der Opioide und serotonerge Nebenwirkungen, kumuliert bei Niereninsuffizienz. Opioidtypische Nebenwirkungen
Opioidtypische Nebenwirkungen kumuliert bei Niereninsuffizienz
Nicht medikamentöse Optionen Auch wenn die medikamentöse Therapie beim neuropathischen Schmerz im Vordergrund steht, sollten nicht medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten angeboten und versucht werden. Physikalische Massnahmen, Ergo- und Psychotherapie können sinnvolle Ergänzungen sein. Damit gibt man dem Patienten auch eine Hilfe an die Hand, mit der er lernen kann, selbst etwas gegen den Schmerz zu tun. Eine Behandlung mit transkutaner elektronischer Nervenstimulation (TENS) kann zum Beispiel einen Gegenreiz setzen. Bei einer diabetischen Polyneuropathie gibt es gute Erfahrungen mit Hand- und Fussbädern in Rapssamen. Wichtig ist, die Option neuropathischer Schmerzen in Betracht zu ziehen, die entsprechende Diagnostik anzustossen und gegebenenfalls eine spezifische Therapie zu beginnen. So kann einer Gruppe von Schmerzpatienten geholfen werden, die häufig mit Analgetika fehlversorgt sind. x
Korrespondenzadresse: Dr. med. Corinna Drebenstedt Abt. Geriatrie/Innere Medizin, St. Marienhospital Friesoythe D-26169 Friesoythe
bei neuropathischen Schmerzen nicht wirksam. Das altbekannte Carbamazepin ist nur noch für Trigeminusneuralgie das Mittel der ersten Wahl. Die Interaktionen und Nebenwirkungen machen aber den Einsatz beim multimorbiden Patienten problematisch. Periphere Analgetika haben in Studien keine Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen gezeigt und sind somit nicht indiziert. Opioide haben allerdings einen Platz in deren Therapie, vor allem Tramadol und Oxycodon. Sie sind aber nicht die erste Wahl. Als neuere Substanz ist Tapentadol mit den beiden Angriffspunkten an den Opioidrezeptoren und der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung speziell für neuropathische Schmerzen entwickelt worden. In der Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie zeigt es bis jetzt gute Ergebnisse in den Studien. Durch ein fehlendes Interaktionspotenzial ist es für geriatrische Patienten ein interessantes Medi-
kament. Zu beachten sind jedoch die opioidtypischen Nebenwirkungen. Die eingesetzten Medikamente müssen individuell ausgewählt und titriert werden, und wie immer gilt beim geriatrischen Patienten das Motto «Start low – go slow», um Nebenwirkungen gering zu halten. Mit Capsaicin und Lidocain sind für die Post-Zoster-Neuralgie zusätzlich noch lokale Behandlungsmöglichkeiten verfügbar. Das Capsaicinpflaster kann nach einmaliger Applikation für etwa 3 Monate eine Schmerzlinderung bringen. Die Anwendung selbst ist jedoch schmerzhaft und sollte von erfahrenen Schmerztherapeuten erfolgen. Die Lidocainpflaster werden einmal täglich für 12 Stunden auf die betroffene Stelle geklebt und können für einige Patienten gut schmerzlindernd sein. Eine ausführliche Beschreibung der Medikamente mit Studienlage findet sich in der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zum Thema
Interessenkonflikte: Die Autorin hat in den Jahren 2012 bis 2015 Vortragshonorare der Firmen Pfizer, Lilly und Novartis erhalten.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» Nr. 20/2016. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
Literatur: 1. Torrance N et al.: The epidemiology of chronic pain of predominantly neuropathic origin. Results from a general population survey. J Pain. 2006; 7 (4): 281–289. 2. Bouhassira D et al.: Prevalence of chronic pain with neuropathic characteristics in the general population. Pain 2008; 136 (3): 380–387. 3. Van Kollenburg EG et al.: Prevalence, Causes, and Treatment of Neuropathic Pain in Dutch Nursing Home Residents: A Retrospective Chart Review. J Am Geriatr Soc 2012; 60 (8): 1418–1425. 4. Stengel M et al.: Neuropathischer Schmerz in Baron R et al.: (Hrsg.) Praktische Schmerztherapie, 2. Auflage, Springer-Verlag 2011: 337–353. 5. Haanpää M et al.: NeuPSIG guidelines on neuropathic pain assessment. Pain 2011; 152 (1): 14–27. 6. S1 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Diagnostik neuropathischer Schmerzen, Stand 2012. AWMF Registernummer 030–132. 7. Nationale Versorgungsleitlinie: Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter, Stand 2011. AWMF Registernummer nvl – 001e. 8. S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft der Neurologie: Pharmakologisch nicht interventionelle Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen, Stand 2012. AWMF-Registernummer 030–114.
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