Transkript
EDITORIAL
Alles für jeden?
ie Medizin ist – Gott sei dank» dem Fortschritt verpflichtet, und so kommt es, dass immer neuere und bessere Techniken und Medikamente alte Verfahren ablösen. Zum Beispiel in der Kardiologie, wo ausgeklügelte Devices wie die Stents die chirurgische Bypassoperation in der Masse abgelöst haben, weil sie einfacher und sicherer sind. Bis es aber so weit war, vergingen viele Jahre. Bei der Transkathether-Aortenklappenimplantation (TAVI) sind die Uhren wieder auf null gestellt. Auch hier ist der Fortschritt gross, am Tag nach dem Eingriff sind die Patienten schon wieder auf den Beinen. Doch kommen nur solche Patienten in den Genuss einer TAVI, die ein hohes Operationsrisiko haben oder nicht operiert werden können (1). Alle anderen müssen diesen Eingriff aus eigener Tasche bezahlen oder sich einer chirurgischen Operation unterziehen. Das hält die Nachfrage tief. Man fragt sich, wie viele folgekostenintensive chirurgische Klappenersatzoperationen noch durchgeführt werden müssen, bis das neue Verfahren allen zugutekommen kann, die es nötig haben. Auf den ersten Blick ist dies verwirrend, sollten doch wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Behandlungen möglichst für alle zugänglich sein. Ein weiteres Beispiel ist in der Diabetestherapie zu finden. Lange Zeit konnten Antidiabetika nur mikrovaskuläre Komplikationen wie Retinopathien, Nephropathien oder Neuropathien verhindern, bei makrovaskulären Komplikationen wie kardiovaskulären Ereignissen waren sie jedoch machtlos. Das hat sich seit der Einführung der SGLT-2-Hemmer und der GLP-1-Agonisten geändert.
Beide haben in Studien erstmals eine Mortalitätssenkung gezeigt (2, 3). Das sind wirklich gute Nachrichten. Denn auch hier können neben dem Leiden auch die enormen Folgekosten, die kardiovaskuläre Ereignisse mit sich bringen, vermieden werden. Ausserdem vermeiden sie Hypoglykämien und führen zu Gewichtsverlust (2, 3). Dennoch dürfen die beiden Substanzklassen nicht miteinander kombiniert werden, wenn eine Substanz für die Erreichung der Blutzuckerzielwerte nicht ausreicht, was ja häufig ist. Dies nicht etwa aus pharmakologischen Gründen, sondern weil es die Krankenkasse nicht übernimmt (4). So muss der Vorteil, den die neuen, aber teuren Mittel bieten, durch die zwingende Kombination mit altbekannten Antidiabetika, die wieder dick machen oder zu Unterzuckerungen führen können, wieder aufgegeben werden. Diabetiker, die Kombinationen brauchen, aber nicht scharf sind auf kardiovaskuläre Ereignisse, Gewichtszunahme oder unangemeldete Hypoglykämien, müssen die bahnbrechende neue Therapiemöglichkeit selbst bezahlen. Auch dies unverständlich. Fortschritt ist teuer. Doch ist dies ein ethisch vertretbarer Grund, dessen Errungenschaften nur zahlungskräftigen Patienten zu ermöglichen? Krankenkassentechnisch sind solche Limitationen eine Massnahme gegen die Mengenausweitung. Denn sonst käme ja jeder ... Doch sei die Frage erlaubt, wie viel denn eingespart würde, wenn «jeder» komplikationsärmere Therapien erhielte.
Valérie Herzog
1. Eidgenössisches Departement des Innern: Verordnung des EDI über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, Stand 1. März 2017.
2. Zinman B et al.: Empagliflozin, Cardiovascular Outcomes, and Mortality in Type 2 Diabetes. N Engl J Med 2015; 373: 2117–2128.
3. Marso SP et al.: Liraglutide and Cardiovascular Outcomes in Type 2 Diabetes. N Engl J Med 2016; 375: 311–322.
4. Empfehlungen der SGED/SSED: Massnahmen zur Blutzuckerkontrolle bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. http://sgedssed.ch/fileadmin/files/6_empfehlungen_ fachpersonen/61_richtlinien_fachaerzte/SGED_Empfehlung_BZ-Kontrolle_T2DM_ Finale_Version_12_korr_17.10.16.pdf. Letzter Zugriff: 16.3.2017.
ARS MEDICI 6 I 2017
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