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STUDIE REFERIERT
Neue Option bei MS in Sicht – auch bei primär progredienter Form
In einer Phase-III-Studie zeigte der CD20-Antikörper Ocrelizumab als erstes Medikament Wirksamkeit bei primär progredienter multipler Sklerose (MS). In zwei weiteren Phase-III-Studien war Ocrelizumab bei schubförmig remittierender MS wirksamer als Interferon beta-1a.
New England Journal of Medicine
Bei multipler Sklerose (MS) greifen Immunzellen Antigene des zentralen Nervensystems an. Dies führt zur Demyelinisierung sowie zur Aktivierung von Gliazellen und letztlich zum Verlust von Neuronen und Axonen (3). Die MS wird in drei Verlaufsformen eingeteilt. Bei der schubförmig remittierenden MS wechseln sich Phasen der aktiven Erkrankung und der Remission ab. Die sekundär progrediente MS ist durch Behinderungsprogressionen zwischen den Schüben gekennzeichnet (3). An der dritten Form, der primär progredienten MS, leiden nur etwa 10 bis 15 Prozent der Patienten. Bei ihnen schreitet die Erkrankung von Beginn an ohne Remissionen kontinuierlich fort (3). Im Unterschied zur schubförmigen Erkrankung ist die primär progrediente MS weniger durch entzündliche, sondern vorwiegend durch neurodegenerative Prozesse charakterisiert (1, 3). In den letzten 20 Jahren wurden zahlreiche Medikamente zur Behandlung der MS entwickelt, die allerdings nur bei schubförmiger Erkrankung wirksam sind (3). Zur Behandlung der pri-
MERKSÄTZE
O Ocrelizumab zeigte als erstes Medikament Wirksamkeit bei primär progredienter MS.
O Bei schubförmig remittierender MS ist Ocrelizumab wirksamer als Interferon beta-1a.
O In den drei Phase-III-Studien wurden unter Ocrelizumab keine PML-Fälle beobachtet.
O Zur Evaluierung der langfristigen Wirksamkeit und Sicherheit von Ocrelizumab sind weitere Studien erforderlich.
mär progredienten MS wurde bis anhin noch keine Substanz zugelassen (1). Die meisten MS-Medikamente richten sich gegen die T-Zell-Aktivierung, die T-Zell-Migration ins Zentralnervensystem (ZNS) und die Effektorfunktionen der T-Lymphozyten. Einige Wirkstoffe – wie Rituximab (MabThera®) – weisen aber auch Wirksamkeit gegenüber B-Zellen auf, die bei allen Verlaufsformen der MS ebenfalls am Krankheitsgeschehen beteiligt sind. B-Zellen beeinflussen die MS-Pathogenese durch Antigenpräsentation, Autoantikörperproduktion, Zytokinsekretion und die Bildung ektopischer lymphoider Aggregate in den Meningen (2). Eine Verminderung oder Eliminierung von B-Zellen könnte somit ein wirkungsvolles Behandlungsziel darstellen (1). Auf der Zelloberfläche von VorläuferB-Zellen, reifen B-Zellen und MemoryB-Zellen befindet sich das Antigen CD20. Auf lymphoiden Stammzellen oder Plasmazellen ist CD20 dagegen nicht vorhanden. Der humanisierte monoklonale Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®, in der Schweiz noch nicht im Handel) eliminiert selektiv CD20 exprimierende B-Zellen. Die B-ZellNeubildung und die humorale Immunität bleiben dabei erhalten (1).
ORATORIO –
primär progrediente MS
In älteren Studien wurde unter dem chimären CD20-Antikörper Rituximab bei jüngeren Patienten (< 51 Jahre) mit primär progredienter MS eine Verlangsamung der Behinderungsprogression beobachtet. Aufgrund dieser Ergebnisse untersuchten Xavier Montalban vom Vall-d’Hebron-Universitätsspital und Forschungsinstitut in Barcelona (Spanien) und seine Arbeitsgruppe nun auch die Wirksamkeit und Sicherheit
des von Rituximab abgeleiteten Wirkstoffs Ocrelizumab bei primär progredienter MS (1). In der Phase-3-Studie ORATORIO erhielten 732 Patienten mit primär progredienter MS über einen Zeitraum von mindestens 120 Wochen randomisiert im Verhältnis 2:1 alle 24 Wochen intravenös Ocrelizumab (600 mg) oder Plazebo. Primärer Endpunkt war der Anteil der Patienten, bei denen es in Woche 12 zu einer Behinderungsprogression gekommen war. Der Anteil der Patienten mit Behinderungsprogression in Woche 12 betrug unter Ocrelizumab 32,9 Prozent und unter Plazebo 39,3 Prozent (Hazard Ratio [HR]: 0,76; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,59–0,98; p = 0,03). Nach 24 Wochen lag der Anteil der Patienten mit Behinderungsprogression unter Ocrelizumab bei 29,6 Prozent und unter Plazebo bei 35,7 Prozent (HR: 0,75; 95%-KI: 0,58–0,98; p = 0,04). Bis Woche 120 verschlechterte sich die Leistung in einem Gehtest bei 38,9 Prozent der Patienten unter Ocrelizumab und bei 55,1 Prozent der Patienten, die Plazebo erhalten hatten (p = 0,04). Das Volumen der Gehirnläsionen in der T2-gewichteten Magnetresonanztomografie (MRT) verringerte sich unter Ocrelizumab um 3,4 Prozent, während es unter Plazebo um 7,4 Prozent zunahm. Der Verlust an Gehirnvolumen betrug unter Ocrelizumab 0,90 Prozent und unter Plazebo 1,09 Prozent (p=0,02). Im Score PSC (Physical Component Summary) des 36-Item Short Form Health Survey zeigte sich allerdings kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen. Unter Ocrelizumab kam es im Vergleich zu Plazebo häufiger zu infusionsbedingten Reaktionen, Infektionen der oberen Atemwege und oralen Herpesinfektionen. Neoplasien traten bei 2,3 Prozent der Patienten unter Ocrelizumab und bei 0,8 Prozent unter Plazebo auf. Bezüglich der Raten schwerer unerwünschter Ereignisse und schwerer Infektionen gab es keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen. Aus den Ergebnissen der ORATORIOStudie geht hervor, dass Ocrelizumab bei Patienten mit primär progredienter MS die klinische Progression und die MRTProgression verlangsamt. Somit zeigte Ocrelizumab als erstes Medikament Wirksamkeit bei dieser Verlaufsform (1).
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ARS MEDICI 5 I 2017
STUDIE REFERIERT
OPERA I + II –
schubförmig remittierende MS
Stephen Hauser vom Weill Institute for Neurosciences in San Francisco (USA) und seine Arbeitsgruppe untersuchten die Wirksamkeit und Sicherheit von Ocrelizumab bei Patienten mit schubförmig remittierender MS im Vergleich zu Interferon beta-1a in zwei multizentrischen, doppelblinden, voneinander unabhängigen «Double-dummy»-Studien (2). Im Rahmen von OPERA I und OPERA II erhielten 821 und 835 Patienten alle 24 Wochen intravenös Ocrelizumab (600 mg) oder subkutan Interferon beta-1a (Refbif®; 44 µg 3-mal wöchentlich) über 96 Wochen. Primärer Endpunkt war die jährliche Schubrate. In OPERA I war die jährliche Schubrate unter Ocrelizumab um 46 Prozent niedriger als unter Interferon beta-1a (0,16 vs. 0,29; p < 0,001). In OPERA II wurde eine um 47 Prozent geringere jährliche Schubrate beobachtet als unter Interferon beta-1a (0,16 vs. 0,29; p < 0,001). In der gepoolten Analyse war der Anteil der Patienten mit einer Behinderungsprogression in Woche 12 unter Ocrelizumab signifikant geringer als unter Interferon beta-1a (9,1% vs. 13,6%; HR: 0,60; 95%-KI: 0,45–0,81; p < 0,001). Nach 24 Wochen war die Progressionsrate unter Ocrelizumab ebenfalls signifikant niedriger als unter Interferon beta-1a (6,9 vs. 10,5%; HR: 0,60; 95%-KI: 0,43–0,84; p = 0,003). Die durchschnittliche Anzahl der Gadolinium anreichernden Läsionen betrug in OPERA I unter Ocrelizumab 0,02 und unter Interferon beta-1a 0,29. Die Anzahl der Läsionen war unter
Ocrelizumab somit um 94 Prozent niedriger (p < 0,001). In OPERA II lag die durchschnittliche Anzahl der Gadolinium anreichernden Läsionen unter Ocrelizumab bei 0,02 und unter Interferon beta-1a bei 0,42. Hier war die Anzahl der Läsionen unter Ocrelizumab um 95 Prozent niedriger (p < 0,001). Beim Vergleich der Veränderung im Multiple Sclerosis Functional Composite Score wurde in OPERA II eine signifikante Überlegenheit von Ocrelizumab im Vergleich zu Interferon beta-1a (0,28 vs. 0,17; p = 0,004) beobachtet, in OPERA I allerdings nicht (0,21 vs. 0,17; p = 0,33). In OPERA I und II kam es bei 34,3 Prozent der Patienten unter Ocrelizumab zu infusionsbedingten Reaktionen. Schwere Infektionen traten bei 1,3 Prozent der Patienten unter Ocrelizumab und bei 2,9 Prozent der Teilnehmer unter Interferon beta-1a auf. Neoplasien wurden unter Ocrelizumab bei 0,5 Prozent der Patienten und unter Interferon beta-1a bei 0,2 Prozent beobachtet. Insgesamt war Ocrelizumab bei schubförmiger MS mit geringeren Aktivitätsraten und geringeren Progressionsraten verbunden als Interferon beta-1a. Der CD20-Hemmer erwies sich somit als überlegen gegenüber dem Standardmedikament (2).
Zur Langzeitsicherheit
weitere Studien erforderlich
Die numerischen Unterschiede der Neoplasien, die in OPERA I und in ORATORIO zwischen Ocrelizumab und der jeweiligen Vergleichsgruppe beobachtet wurden, erfordern nach Ansicht der Autoren eine weiterge-
hende Evaluierung im Zusammenhang
mit der Epidemiologie von Neoplasien
bei MS-Patienten. Ausserdem fehlen
zur umfassenden Beurteilung des Neo-
plasierisikos auch noch Langzeiterfah-
rungen mit Ocrelizumab und anderen
CD20-Hemmern (2).
Bis anhin wurden im Zusammenhang
mit Ocrelizumab keine Fälle von pro-
gressiver multifokaler Leukoenzepha-
lopathie (PML) bekannt. Um das
Risiko für ungewöhnliche Nebenwir-
kungen umfassend charakterisieren zu
können, sind ebenfalls noch Langzeit-
studien erforderlich.
Die Sicherheit von Ocrelizumab wird in
einer offenen Verlängerungsphase wei-
terhin untersucht. Eine Interpretation
der Ergebnisse, die über die Studienpo-
pulation und die Studiendauer hinaus-
geht, sollte daher nur mit Vorsicht vor-
genommen werden (1, 2).
O
Petra Stölting
Quellen: 1. Montalaban X et al.: Ocrelizumab versus placebo in
primary progressive multiple sclerosis. N Engl J Med 2016, online first 21 Dec 2016. 2. Hauser SL et al.: Ocrelizumab versus interferon beta1a in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2016, online first 21 Dec 2016. 3. Calabresi PA: B-cell depletion – a frontier in monoclonal antibodies for multiple sclerosis. N Engl J Med 2016, online first 21 Dec 2016.
Interessenlage: 1) und 2) Die referierten Originalstudien wurden vom Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche finanziert. Der Sponsor war am Design und an der Durchführung der Studien beteiligt. 1) Alle 21 Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten oder sind bei Hoffmann-La Roche oder anderen Pharmaunternehmen angestellt. 2) Mehrere Autoren sind beim Sponsor angestellt. Interessenkonflikte einzelner Autoren sind nicht aufgeführt. 3) Hier sind keine Angaben zu den Interessenkonflikten des Autors vorhanden.
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