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VERSAGEN UND INSUFFIZIENZ DES INTESTINUMS
Das Kurzdarmsyndrom im Kindes- und Jugendalter: Pathogenese und Therapieoptionen
Katharina Glock
Beim Kurzdarmsyndrom (KDS) handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, verursacht durch unzureichende Absorption von Nährstoffen und inadäquate Länge des Dünndarms (1). Patienten in dieser Altersgruppe, vom Neugeborenen bis zum Adoleszenten, benötigen aufgrund der Heterogenität und der altersbedingten Besonderheiten bei diesem komplexen Krankheitsbild eine umfassende Betreuung. Am meisten profitieren diese Patienten durch ein multidisziplinäres Behandlungsteam an einem Zentrum für intestinale Rehabilitation (1). Im Folgenden sollen die typischen Ursachen des KDS im Kindes- und Jugendalter sowie die notwendigen kurz-, mittel- und langfristigen Behandlungsschritte dargestellt werden.
Le syndrome du grêle court chez l’enfant et l’adolescent: pathogenèse et options thérapeutiques
Im Rahmen des Kurzdarmsyndroms (KDS) kommt es zu einer gravierenden Störung der intestinalen resorptiven Kapazität. Geschätzt liegt die Inzidenz des KDS bei 24,5 per 100 000 Lebendgebore-
Mots clés: Prise en charge nutritionnelle – équipe thérapeutique – réhabilitation intestinale
nen, mit einer Zunahme bei Frühgeborenen (2). Der wachsende und sich entwickelnde Organismus weist zahlreiche
En raison de l‘hétérogénéité des particularités du SGC liées à l’âge, une prise en charge interdisciplinaire exhaustive de cette pathologie complexe est nécessaire tant chez le nouveau-né que chez l‘adolescent.
altersabhängige Besonderheiten auf. Dies betrifft unter anderem den Bedarf bezüglich der Nährstoffe, Elektrolyte, Vitamine und der Flüssigkeitssubstitution. Eine mehrere Tage andauernde Nahrungskarenz, welche häufig nach einem viszeral-
chirurgischen Eingriff notwendig ist, be-
dingt ein exaktes Management der Flüssigkeits- und
Nährstoffzufuhr. Je jünger das Kind ist, desto exakter
gilt es die einzelnen Substrate festzulegen. Ist auf-
grund der ursächlichen Erkrankung eine enterale Er-
nährung gar nicht oder nur teilweise möglich, müssen
begleitende Risiken und weitere therapeutische Op-
tionen bedacht werden, welche eine annähernd phy-
siologische Ernährung ermöglichen.
Ursachen des Kurzdarmsyndroms
Es wird unterschieden zwischen einem funktionellen Darmversagen und dem Darmversagen durch einen tatsächlich «zu kurzen Darm». Beim funktionellen Darmversagen, zum Beispiel durch eine angeborene Motilitätsstörung, kann die Anlage eines endständigen oder doppelläufigen Anus praeters (AP) notwendig sein. Liegt der AP im mittleren bis oberen Dünndarmbereich, führt dies zu einer funktionellen
Verkürzung des Darms mit relevanten Problemen für den Patienten. Bei einem Stoma im Jejunum oder proximalen Ileum geht die Nährstoffaufnahme von Vitamin B12, Folat, Spurenelementen und einigen fettwie wasserlöslichen Vitaminen verloren. Dies kann relevante Folgen für den Knochenstoffwechsel, die Blutbildung und das physiologische Gedeihen des Kindes haben. Hinzu kommen erhebliche Flüssigkeitsverluste über das hohe Stoma, welche eine genaue, engmaschige Bilanzierung und Anpassung des intravenösen Flüssigkeitsregimes nach sich ziehen. Ursächlich für ein KDS können beim Neugeborenen und Säugling angeborene Fehlbildungen wie Darmatresien, Bauchwanddefekte mit Darmanlagestörung oder sekundärer Darmschädigung (Laparoschisis, seltener Omphalocele), eine Malrotation mit Volvulus, ein langstreckiger Morbus Hirschsprung mit notwendiger ausgedehnter Darmresektion, eine NEC (Necrotizing Enterocolitis) oder eine Ischämie eines Darmabschnitts sein (3). Bei älteren Patienten bis hin ins Erwachsenenalter kommen weitere Ursachen hinzu wie die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Resektionen nach Trauma, bei einem Strahlenschaden, bei Malignomen oder im Rahmen eines Adhäsionsileus. Ein funktionelles Darmversagen kann aufgrund von intestinalen Motilitätsstörungen oder mukosalen Enteropathien entstehen. Grundsätzlich ist für die situative Beurteilung des KDS beziehungsweise des funktionellen Darmversagens das Gestationsalter beim ursächlichen Ereignis wie allgemein der Zeitpunkt des Erkrankungsbeginns ausschlaggebend. In vielen Fällen ist es möglich, dass nur für ein paar Monate eine Entlastung des Darms mittels eines
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hohen AP notwendig ist. Es kann aber auch zu ausgedehnten Darmresektionen kommen, die ein morphologisch echtes KSD erzeugen. Hier zeigt sich, dass Resektion nicht gleich Resektion ist. Die Dünndarmlänge beträgt bei Geburt eines Fetus der 28. Schwangerschaftswoche etwa 200 cm, bei einem termingeborenen Säugling etwa 300 cm und bei einem gesunden Einjährigen schon fast 400 cm (4). Somit ist die tatsächlich verbleibende Darmlänge von grosser Bedeutung für die Nährstoffabsorption. Die Einschätzung der Experten, welche absolute Dünndarmlänge für eine physiologische enterale Ernährbarkeit notwendig ist, schwankt je nach persönlichen Erfahrungswerten sehr stark. Ist die Darmlänge auf weniger als 10 Prozent der altersentsprechenden Norm reduziert, wirkt sich das im Hinblick auf ein «normales» Leben negativ aus. Die Wahrscheinlichkeit, lebenslang eine teiloder vollparenterale Ernährung zu benötigen, mit allen damit verbundenen Risiken und Einschränkungen, steigt deutlich an. Der Erhalt der Ileozäkalklappe und/oder des Kolons sowie die erhaltene Darmkontinuität bestimmen ebenfalls sehr stark die Morbidität des Patienten. In der Regel finden sich bei Frühgeborenen/Neugeborenen Patienten mit bestehender oder
erworbener Lebererkrankung oder einer intestinalen bakteriellen Fehlbesiedlung schwerwiegendere Verläufe mit einer geringeren Rate an intestinaler Autonomie. Die Zeit der intestinalen Adaptation ist sehr variabel und kann 24 Monate und länger dauern. In dieser Zeit soll die Absorptionskapazität so weit ansteigen, dass die durch Resektion oder durch einen vorgeschalteten AP reduzierte Darmoberfläche kompensiert werden kann (5). In der Langzeitbetreuung dieser Patienten finden sich unterschiedliche Probleme, welche die Morbidität und die Mortalität erhöhen. Aufgrund der Transportstörung des Darms kann es leicht zu einer bakteriologischen Fehlbesiedlung des Dünndarms kommen, zum Teil auch mit resistenten Keimen. Zudem ist das Risiko für eine Sepsis bei häufig mehreren Zugängen aus Fremdmaterial wie Magensonde, Gastrostomie, Jejunocath, Darmschienung, Broviac-Katheter, Blasenkatheter deutlich erhöht. Rekurrente Septitiden führen zusätzlich zur hepatischen Belastung durch die parenterale Ernährung zu einer Verschlechterung der Leberfunktion, wodurch das intestinale Versagen verstärkt und damit die Abhängigkeit von der parenteralen Ernährung verlängert wird.
Die Zeit der intestinalen Adaptation ist sehr variabel und kann 24 Monate und länger dauern.
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Die rekonstruktive Kurzdarmchirurgie hat hierbei einen hohen Stellenwert und sollte innerhalb von Kliniken erfolgen, welche mit dem komplexen Krankheitsbild des KDS vertraut sind.
Therapieoptionen
Ziel aller Massnahmen ist, den Kindern frühzeitig eine komplette enterale Ernährung zu ermöglichen, ohne den nutzbaren Darm in seiner Adaptationsfähigkeit zu überfordern. Hier ist es notwendig, eine gute Balance zwischen schrittweiser enteraler Belastung und parenteral notwendiger Substitution zu erreichen. Das Erleben von wochenlanger Übelkeit und Erbrechen bei unzureichender intestinaler Adaptation führt zu einer negativen Konditionierung bezüglich der oralen Nahrungszufuhr. Dies kann trotz objektiv erfolgreicher Erholung des Darms zu weitreichenden Problemen in Hinblick auf eine enterale Autonomie führen.
Operative Verfahren
Zur Unterstützung der langwierigen Adaptation ist es wichtig, operative Behandlungsoptionen nicht aus dem Auge zu verlieren. Um sekundäre Schädigungen des Darms zu vermeiden, ist auf einen guten Transport innerhalb des Restdarmes mit problemloser Entleerung zu achten. Die rekonstruktive Kurzdarmchirurgie hat hierbei einen hohen Stellenwert und sollte innerhalb von Kliniken erfolgen, welche mit dem komplexen Krankheitsbild des KDS vertraut sind. Die Anlage von gut fördernden Stomata, das Management und die Aufhebung von intestinalen Stenosen und das Darm-Tapering (operatives Angleichen der Darmlumina) verhindern die Stase des Darminhalts und somit daraus entstehende sekundäre Komplikationen wie bakterielle Fehlbesiedlung, Keimtranslokation mit Sepsis, Leberschädigung und Verzögerung der Adaptation. Spezielle operative Verfahren können in der länger dauernden Phase der intestinalen adaptiven Vorgänge überlegt werden. Nach einer ausgedehnten Dünndarmresektion entsteht häufig eine Distension des vorhandenen Restdarms. Diese Situation macht man sich bei den autologen Darmverlängerungsverfahren zu nutze (1):
LILT (Longitudinal Intestinal Lengthening and Tailoring) Aufgrund der mesenterialen Gefässversorgung des Dünndarms ist es möglich, den dilatierten Darm in der Mittellinie der Länge nach zu teilen und zwei voll vaskularisierte Hemischlingen isoperiostaltisch hintereinander zu anastomosieren. Der Dünndarm ist damit bezüglich des Durchmessers halbiert, bezüglich der Länge fast verdoppelt. Dieses Verfahren wurde 1980 von Bianchi erstmals am Schweinemodell beschrieben (6). 1981 wurde es erstmals klinisch an einem 4-jährigen Patienten angewendet (7). Eine Verlangsamung der Transitzeit, eine Reduktion der Stase bei besserer Propulsion mit verbesserter Absorption von Fett und Kohlenhydraten, kann damit erreicht werden und somit ein Weaning von der parenteralen Ernährung. Für den Fall, dass keine spontane Darmdilatation auftritt, entwickelten Georgeson und Bianchi ein Konzept eines «Controllable ExpansionRecycle». Hierbei werden bei einem getrennt doppel-
läufigen Stoma beide Stomata mit Kathetern geschient. Durch Abklemmen derselben nach enteraler Ernährung erfolgt eine kontrollierte Verdopplung des Lumens zur Vorbereitung des LILT.
STEP (Serial Tansverse Enteroplasty) Ebenfalls zunächst am Schweinemodell und dann bei einem 2-jährigen Patienten beschrieben Kim et al. 2003 diese Methode zur Darmverlängerung und Verschmälerung. Hierbei werden die mesenterialen Gefässe geschont und auf eine Darmanastomose verzichtet. Mit einem Stapler wird durch alternierendes und gegenüberliegendes Platzieren ein Zickzackkanal erzeugt (8). In einem grossen Literatur-Review 2013 wurden beide Methoden miteinander verglichen. Die Hauptindikation für beide Techniken ist die absehbare Unerreichbarkeit einer intestinalen Autonomie unter konservativem Management, und die Hauptkontraindikation ist offenbar eine hochgradige Schädigung der Leber (9). Allerdings muss man bezüglich der Erfolgsrate bei beiden Methoden bedenken, dass sich eine Verbesserung der enteralen Ernährungssituation und damit ein Weaning von der parenteralen Ernährung innerhalb von 2 Jahren postoperativ in nur 50 Prozent der Fälle erreichen lässt. Es zeichnet sich in der Literatur ab, dass Kinder mit einer Motilitätsstörung im Rahmen einer Gastroschisis ein nicht zufriedenstellendes Outcome nach einer STEP-Prozedur haben (10). Wenn auch mit oben genannten operativen Massnahmen keine ausreichende enterale Autonomie erreicht werden kann, besteht noch die Möglichkeit der intestinalen Transplantation. Hier hat man unterschiedliche Möglichkeiten wie isolierte Dünndarmtransplantation, kombiniert mit Lebertransplantation oder multiviszeral. Die Ergebnisse, besonders im Langzeitverlauf, sind noch nicht zufriedenstellend, wie eine Studie von 2016 aus Paris zeigte. Es werden insbesondere für den Einflussfaktor Mikrobiom und die Tragweite der Immunsuppression gerade bei Darmtransplantationen noch Multizenterstudien benötigt (11).
Fazit
Die Komplexität des Krankheitsbilds KDS im Kindesalter stellt aufgrund der mannigfaltigen Ursachen, der altersspezifischen Besonderheiten und der lebensbestimmenden, langfristigen Therapien wie auch einer heimparenteralen Ernährung und weitreichender operativer Optionen weiterhin eine grosse Herausforderung dar – nicht nur für die Betroffenen und ihre Familien, sondern auch für das Behandlungsteam.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Katharina Glock Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie Ostschweizer Kinderspital 9006 St. Gallen E-Mail: katharina.glock@stgag.ch
Interessenkonflikte: Es liegen keine vor.
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Literatur: 1. Coletta R, Khalil BA, Morabito A: Short bowel syndrome in children: surgical and medical perspectives. j.sempedsurg 2014; 23 (5): 291–297. 2. Wales PW, de Silva N, Kim JH et al.: Neonatal short bowel syndrome: a cohort study. J Pediatr Surg 2004 (39): 690–695. 3. Soden JS: Clinical assessment of the child with intestinal failure. j.sempedsurg 2010; 19 (1): 10–19. 4. Touloukian RJ, Smith GJ: Normal intestinal length in preterm infants. J Pediatr Surg 1983; 18: 720–723. 5. Anagnostopoulos D, Valioulis J, Sfougaris D et al.: Morbidity and Mortality of short bowel syndrome in infancy and childhood. Eur J Pediatr Surg 1991; 1: 273–276. 6. Bianchi A: Intestinal loop lengthening – a technique for increasing small intestinal length. J Pediatr Surg 1980; 15: 145–151. 7. Boeckmamn CR, Traylor R: Bowel lengthening for short gut syndrome. J Pediatr Surg 1981; 16: 996–997. 8. Kim HB, Lee PW, Garza J et al.: Serial transverse enteroplasty for short bowel syndrome: a case report. J Pediatr Surg 2003; 38: 881–885. 9. Frongia G, Kessler M, Weih S, Nickkholgh A, Mehrabi A, Holland-Cunz S: Comparison of LILT and STEP procedures in children with short bowel syndrome – a systematic review of the literature. J Pediatr Surg 2013; 48 (8): 1794–1805. 10. Jones BA, Hull MA, Potanos KM, Zurakowski D, Fitzgibbons SC, Ching YA, Jaksic T, Kim HB: International Data Registry. Report of 111 consecutive patients enrolled in the International Serial Transverse Enteroplasty (STEP) Data Registry: a retrospective observational study. J Am Coll Surg. 2013; 216 (3): 438–446. 11. Lacaille F, Irtan S, Dupic L, Talbotec C, Lesage F, Colomb V, Salvi N, Moulin F, Sauvat F, Aigrain Y, Revillon Y, Goulet O, Chardot C: Twentyeight years of intestinal transplantation in Paris: Experience of the oldest European Center. Transpl Int 2016. Nov 27. doi: 10.1111/tri.12894. [Epub ahead of print].
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