Transkript
Was tut sich in der Onkogeriatrie?
Die wichtigsten Publikationen der letzten Zeit
BERICHT
In seinem Journal Club stellte Prof. Dr. med. Jörg Beyer, stellvertretender Direktor der Klinik für Onkologie des Universitätsspitals Zürich, die wichtigsten Publikationen des letzten Jahres aus dem Bereich Onkogeriatrie vor. Diese befassten sich mit der nach wie vor ungenügenden Vertretung geriatrischer Patienten in Krebsstudien, mit der Möglichkeit der Verminderung toxischer Nebenwirkungen der Chemotherapie nach vorgängigem geriatrischen Assessment, den vermehrten Komplikationen nach Tumoroperationen ab 65 Jahren sowie dem unverzichtbaren Stellenwert der Angehörigen bei der Pflege alter Menschen.
Marianne I. Knecht
Das Alter der Patienten, welche heute onkologisch behandelt werden, hat sich deutlich nach oben verschoben: 50 Prozent der Patienten der Onkogeriatrie sind 78-jährig und älter. Grafik 1 zeigt die erwartete Entwicklung der neu diagnostizierten Krebsfälle in den USA: Eine deutliche Zunahme ist vor allem in der Altersgruppe der über 75-Jährigen und insbesondere in derjenigen der über 85-Jährigen zu erwarten. In der Schweiz wird die Zahl der Krebsdiagnosen bei älteren Patienten in den nächsten Jahren ebenfalls stetig zunehmen.
3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5
0 2000
2010
2020
2030
Jahr
2040
*85 75–84
65–74
50–64 50 2050
Abbildung 1: Zunahme der Krebsfälle in den nächsten Jahrzehnten (USA) in Abhängigkeit vom Alter (nach [11])
Ältere Menschen
in Studien untervertreten
Ältere Patienten werden zwar zunehmend in Studien eingeschlossen, und insbesondere der Anteil an Frauen wird grösser. Jedoch sind geriatrische Patienten in Studien generell immer noch untervertreten. Wichtig für den behandelnden Arzt ist laut Beyer das Bewusstsein, dass die zur Verfügung stehenden Studien in der Regel nur eine ganz eng definierte Subgruppe aller Krebserkrankten umschliessen, nämlich Patienten bis zu einem gewissen Alter (meist ≤ 65 Jahre) und ohne Komorbiditäten. Insofern können die Daten aus den aktuellen Studien nicht ohne Weiteres auf die heutige Gruppe der geriatrischen Patienten übertragen werden. Der Experte stellte zwei interessante Studien zu diesem Thema vor. Pang et al. konnten zeigen, dass das Alter der Patienten, welche in Studien zum nicht kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC) eingeschlossen wurden, in den Jahren 1990 bis 2012 signifikant zugenommen hat (1). Frauen wurden ebenfalls häufiger eingeschlossen. Beim kleinzelligen Bronchialkarzinom (SCLC) konnte dagegen eine solche Zunahme nicht festgestellt werden. Ein wichtiger
Krebsfälle (Millionen) Alter (Jahre)
Grund für diese Entwicklung liegt laut den Autoren in der Tatsache, dass für die Therapie des NSCLC mittlerweile weniger toxische Chemotherapien zur Verfügung stehen, welche die Therapie von älteren und sehr alten Patienten mit Komorbiditäten erlauben. Entsprechend ist diese Altersgruppe vermehrt auch in Studien vertreten. Bei der Interpretation dieser Resultate gilt es zu beachten, dass es sich bei all den retrospektiv untersuchten Studien um Studien des nationalen amerikanischen Krebsinstituts handelt, welches dazu verpflichtet ist, ältere Patienten generell in Studien mit einzuschliessen. Die beobachtete Alterszunahme ist deshalb längst nicht für alle Studien repräsentativ. Generell kann festgestellt werden: Je erträglicher eine Krebstherapie wird, desto eher können auch ältere Patienten in eine Studie eingeschlossen werden. Le Saul et al. gingen der Frage nach, ob und wie sich die Datenlage zur onkologischen Therapie von geriatrischen Patienten in zwei definierten Zeiträumen (2001–2004 bzw. 2011–2014) verändert hat (2). Angeschaut wurden insgesamt 1084 Studien (Phase I, II und III) mit 366 bzw. 718 Studien pro Zeitperiode. Auch diese Studie konnte zeigen, dass der Einschluss von Patienten ab 60 Jahren zwar zugenommen hat und das Interesse an dieser Altersgruppe in den letzten 10 Jahren deutlich angestiegen ist. Dennoch liegt die Zahl der Studienteilnehmer, insbesondere derjenigen über 70 Jahren, im ein- beziehungsweise im tiefen zweistelligen Bereich. Diese Zahlen bilden die demografische Realität noch immer nur ungenügend ab. Die Ergebnisse für diese Altersgruppe stammen zudem grösstenteils aus retrospektiven Subgruppenanalysen. Auch grössere prospektive, randomisierte Studien wurden nicht für die Altersgruppe geriatrischer Patienten
ARS MEDICI 3 I 2017
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BERICHT
Überlebenswahrscheinlichkeit
1,0 CGA-Arm Standard-Arm
0,8 CGA-Arm: Median TFFS: 3,1 Monate (95%-KI: 2,7 bis 4,4 Monate) Standard-Arm: Median TFFS: 3,2 Monate (95%-KI: 2,9 bis 4,1 Monate; p = 0,32)
0,6
0,4
0,2
0
CGA-Arm
243
Standard-Arm 251
10 20 Überlebenszeit (Monate)
29 7 21 5
30
0 1
40 0
Grafik 2: Die Durchführung eines Comprehensive Geriatric Assessment (CGA) vor Chemotherapie führt nicht zu einer besseren Überlebensrate (TFFS: treatment failurefree survival; KI: Konfidenzintervall; nach [4]).
angelegt, weshalb deren Ergebnisse trotz allem als vorläufig gelten und mit Vorbehalt zu interpretieren sind. Noch immer besteht ein Mangel an aussagekräftigen Studien zur onkologischen Therapie geriatrischer Patienten.
Weniger Toxizität, aber keine
verbesserte Überlebensrate
durch geriatrisches Assessment
An einem unabhängigen Kollektiv (n = 250, Durchschnittsalter: 73 Jahre) wurde nochmals extern validiert, was Hurria bereits 2011 feststellen konnte: Ein geriatrisches Assessment, basierend auf dem Comprehensive Geriatric Assessment (CGA), eignet sich gut für eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit von toxischen Nebenwirkungen unter Chemotherapie bei älteren Patienten (3). Das CGA erlaubt diesbezüglich eine bessere Vorhersage als der Karnofsky-Index. Hingegen lässt sich mit keinem der Instrumente eine Aussage über die Überlebenswahrscheinlichkeit treffen. Bei der Studie von Corre et al. handelt es sich um die erste prospektiv randomisierte Phase-III-Studie, welche der Frage nachging, ob sich ein vorgängiges, auf dem CGA basierendes, geriatrisches Assessment bei Patienten im Alter über 70 Jahre mit NSCLC positiv auf ein Therapieversagen (primärer Endpunkt, treatment failure-free survival [TFFS]) beziehungsweise die Gesamtüberlebensrate (sekundärer Endpunkt, overall survival [OS]) auswirkt (4). 494 Patienten, welche alle ein NSCLC im Stadium IV
und einen Performancestatus von 0 bis 2 aufwiesen, wurden randomisiert in zwei Gruppen eingeteilt und vor Chemotherapie entweder mit einem herkömmlichen Performancestatus oder mit einem CGA abgeklärt und der entsprechenden Therapie zugeführt (Kombinations- oder Monotherapie bzw. best supportive care). Die Patienten mit vorgängigem CGA konnten zwar dank der genaueren geriatrischen Einschätzung einem ihrem körperlichen und mentalen Zustand adäquateren Therapieschema zugeteilt werden. Eine verbesserte Überlebensrate konnte aber nicht nachgewiesen werden; der primäre und der sekundäre Endpunkt wurden nicht erreicht (Grafik 2). Hingegen kam es bei der Interventionsgruppe zu signifikant weniger Nebenwirkungen unter Chemotherapie, weniger Therapieabbrüchen wegen Toxizität sowie zu weniger Über- beziehungsweise Untertherapie des einzelnen Patienten. Aus einer etwas älteren Studie aus dem Jahr 2011 von F. Peyrade et al. (5) geht klar hervor, dass Patienten mit diffus grosszelligem B-Zell-Lymphom und einem IADL-Score (Instrumental Activity of Daily Living) < 4 vor Chemotherapie im Anschluss eine deutlich verminderte Überlebensrate aufzeigen. Der IADL-Score kann mit wenigen Fragen im Patientengespräch relativ schnell abgeschätzt werden (Selbstständigkeit im Alltag, Bewegungseinschränkungen, Abwicklung von Geldangelegenheiten etc.), ohne dass ein aufwendiges Screening durchgeführt werden muss. Das Fazit Beyers aus diesen Studien lautet: Die Durchführung eines geriatrischen Assessments (CGA) vor Beginn einer Chemotherapie verringert zwar das Risiko toxischer Nebenwirkungen und macht es möglich, den Patienten in ein für ihn geeignetes Therapieschema aufzunehmen. Der etwas ausführlichere CGA ist dabei den rein funktionellen Erhebungen wie dem Karnofsky-Index oder dem ECOG (Performancestatus der Eastern Cooperative Oncology Group) überlegen. Ein geriatrisches Assessment dient jedoch nur zur Risikoabschätzung der Chemotherapie, nicht aber dazu, therapeutische Konsequenzen daraus zu ziehen. Um Letzteres zu ermöglichen, bedarf es weiterführender Studien. Nicht beantwortet werden kann laut dem Referenten zurzeit die Frage, ob ein CGA in seiner ganzen Länge ein wirklich nützliches und im onkogeriatrischen Alltag gut umsetzbares Instrument darstellt. Mehr Komplikationen nach Tumor- operation bei älteren Menschen Tan et al. untersuchten 939 150 Patienten im Alter über 65 Jahre, welche sich aufgrund ihrer Krebsdiagnose einer Operation unterziehen mussten, retrospektiv auf geriatrische Folgeerkrankungen wie Delirium, Dehydratation, Stürze oder Knochenbrüche, Gedeihstörungen und Dekubitus (6). Der erwartete Zusammenhang von Schweregrad der Operation und Anzahl damit einhergehender geriatrischer Begleiterkrankungen beziehungsweise postoperativer Komplikationen konnte bestätigt werden. Insbesondere bei grossen abdominalen Eingriffen ist bei älteren Patienten mit mehr schwerwiegenden Komplikationen zu rechnen, wie Grafik 3 deutlich zeigt. Bei der Studie von Takashi et al. handelt es sich um eine vergleichende Risikoanalyse an 2186 Patienten mit NSCLC im Stadium I, welche mit kurativer Absicht operiert worden waren (7). Dabei wurden die lungenkrebsspezifische Mortalitätsrate (cumulative incidence of death, CID) und die Mortalitätsrate aufgrund nicht krebsbedingter Erkrankungen miteinander verglichen. Es zeigte sich, dass bei den über 75-jährigen Patienten während mehr als 2 Jahren nach Operation das Risiko, an einer nicht krebsspezifischen Krankheit zu sterben, grösser ist, als am Lungenkarzinom selbst zu sterben. Bei den 65- bis 74-Jährigen ist dieses Risiko immerhin bis fast 2 Jahre nach Operation grösser. Erst bei den Patienten unter 65 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, auch nach der Operation an den Folgen des 100 ARS MEDICI 3 I 2017 BERICHT Prozentsatz von chirurgischen Zuweisungen mit geriatrischem Ereignis 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Prostata Brust Gebärmutter Niere Alter: 55–64 Jahre 65–74 Jahre ≥75 Jahre Lunge Blase Krebslokalisation Eierstock Kolon/Rektum Magen Bauch- speicheldrüse Grafik 3: Häufigkeit geriatrischer Komplikationen in Abhängigkeit von Alter und Operation (Daten nach [6]) Karzinoms zu sterben, grösser. Bei zumindest in den USA häufiger stattfindenden Screeningmethoden für Lungenkarzinome werden diese zunehmend früher erkannt und können dementsprechend früher operiert werden. Auch bei älteren Menschen werden dadurch vermehrt Karzinome im Frühstadium entdeckt, sodass die Erkenntnisse dieser Studie bei der Entscheidung für oder gegen eine Operation bei Patienten über 75 Jahren mitberücksichtigt werden sollten. Wie Beyer betont, belegen diese beiden Studien, dass bei einem operativen Eingriff in kurativer Absicht mit zunehmendem Alter und je ausgedehnter der Eingriff vorgenommen werden muss, mit vermehrten Komplikationen zu rechnen ist. Diese Tatsache ist an sich nicht neu, kann jedoch aufgrund der vorliegenden Zahlen spezifischer in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Das soziale Umfeld – wichtiger Bestandteil der Betreuung und Pflege alter Menschen Ein spezielles Augenmerk bei der Betreuung und Therapie von geriatrischen Patienten ist, wie Beyer in seinem Referat ausführte, auf die Angehörigen zu richten: Sie übernehmen einen grossen Teil der Unterstützung und Pflege des Patienten in privatem Rahmen. Dabei besteht das Risiko, dass auch Angehörige an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und Belastbarkeit gelangen. Mit zunehmendem Alter der Patienten nimmt in den meisten Fällen auch das Alter der pflegenden Familienmitglieder zu. Im September 2016 sind zwei Publikationen zu diesem Thema erschienen (8, 9). Ein Editorial, erschienen im «The Lancet» im September 2016, gibt einen kurzen Über- blick über die beiden Publikationen und kommt zum Schluss, dass die pflegenden Angehörigen die «wahren Helden» unseres Gemeinwesens sind, welche sich zum Teil unter grossen eigenen Opfern der Be- treuung hilfsbedürftiger älterer Menschen annehmen. Einige Punkte sind laut dem Artikel in Zukunft besonders zu beachten: Betreuende von alten Menschen sollen sozial weniger ausgegrenzt und besser unterstützt werden. Insbesondere sei das Ungleichgewicht der Betreuungsarbeit zulasten der Frauen zu vermindern. Zudem bedürfe es einer ver- besserten Information von Patienten und Betreuenden über soziale Institutionen, welche bei der Pflege Unterstützung bieten können. Und nicht zuletzt brauche es vermehrt Studien, welche zuverlässige Daten auch über die von Angehörigen und Betreuenden geleisteten Verrichtungen in der Behandlung und Therapie von alten Menschen liefern. O Marianne I. Knecht Quelle: 3. Fachtag Onkogeriatrie, Referat Prof. Dr. med. Jürg Beyer, 19. November 2016 in Zürich. Literatur: 1. Pang HH et al.: Enrollment trends and disparity among patients with lung cancer in national clinical trials, 1990 to 2012. J Clin Oncol 2016; 34(33): 3992–3999. 2. Le Saux O et al.: Inclusion of elderly patients in oncology clinical trials. Ann Oncol 2016; 27(9): 1799–1804. 3. Hurria A et al.: Validation of a prediction tool for chemotherapy toxicity in older adults with cancer. J Clin Oncol 2016; 34(20): 2366–2371. 4. Corre R et al.: Use of a comprehensive geriatric assessment for the management of elderly patients with advanced non-small-cell lung cancer: the phase III randomized ESOGIA-GFPC-GECP 08-02 study. J Clin Oncol 2016; 34(13): 1476–1483. 5. Peyrade F et al.: Attenuated immunochemotherapy regimen (R-miniCHOP) in elderly patients older than 80 years with diffuse large B-cell lymphoma: a multicentre, single-arm, phase 2 trial. Lancet Oncol 2011; 12(5): 460–468. 6. Tan HJ et al.: Burden of geriatric events among older adults undergoing major cancer surgery. J Clin Oncol 2016; 34(11): 1231–1238. 7. Takashi E et al.: Impact of increasing age on cause-specific mortality and morbidity in patients with stage I non-smallcell lung cancer: a competing risks analysis. J Clin Oncol 2016; http://ascopubs.org/doi/pdf/10.1200/JCO.2016.69.0834 (aufgerufen am 01.12.2016). 8. Humphries R et al.: Social care for older people: home truths. The Kings Fund und Nuffield Trust, September 2016, https://www.kingsfund.org.uk/publications/social-careolder-people (aufgerufen am 04.12.2016). 9. Schulz R, Eden J: Families caring for an aging America. Committee on Family Caregiving for Older Adults, National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, ISBN: 978-0-309-44806-2, DOI: 10.17226/ 23606, https://www.nap.edu/ catalog/23606/families-caring-for-an-aging-america (aufgerufen am 04.12.2016). 10. Editorial «Care and society», Lancet 2016; 388: 1249, http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS014 0-6736(16)31704-4 (aufgerufen am 04.12.2016). 11. Edwards BK et al.: Annual report to the nation on the status of cancer, 1973–1999, featuring implications of age and aging on U.S. cancer burden. Cancer 2002; 94: 2766–2792. ARS MEDICI 3 I 2017 101