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ALLERGIE
Prävention und Prophylaxe in der Atopikerfamilie
Von Hans-Joachim Mansfeld
Die Behandlung atopischer Erkrankungen wie all-
ergisches Asthma, allergische Rhinokonjunktivitis
und Neurodermitis hat in der Kinder- und Jugend-
medizin einen hohen Stellenwert gewonnen. Bei
zwei Dritteln der Betroffenen liegt eine atopische
Diathese vor. Um schwere progrediente Krankheits-
verläufe zu vermeiden, können primäre präventive
und therapeutische Massnahmen bald nach der
Geburt oder noch während der Schwangerschaft
weichenstellend sein.
Die Häufigkeit allergischer Erkrankungen der Atemwege und der Haut hat in den letzten Jahrzehnten insbesondere bei Kindern und Jugendlichen dramatisch zugenommen. Die Prävalenz für allergische Rhinokonjunktivitis und atopisches Ekzem liegt bei eindrücklichen 20 Prozent. Auch das Asthma bronchiale ist mit einer regionalen und altersabhängigen Häufigkeit von 8 bis 12 Prozent eine der am weitesten verbreiteten und wichtigsten chronischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. (Siehe auch Beitrag «‹Das wächst sich aus!›» Mythen und Realitäten des kindlichen Asthma bronchiale» in dieser Ausgabe.) Bei zwei Dritteln der Asthmabetroffe-
nen liegt eine genetisch fixierte Disposition, eine atopische Diathese, vor, und bereits während der ersten Lebensjahre wird der spätere Krankheitsverlauf entscheidend geprägt: Beim atopischen Kind kann die «Allergiekarriere» in der Regel vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter nachvollzogen werden. Sie beginnt mit den Symptomen einer Nahrungsmittelallergie und tritt häufig gleichzeitig oder nach kurzem Intervall assoziiert mit Symptomen eines Säuglingsekzems oder einer Neurodermitis auf. 50 bis 60 Prozent der Kinder mit atopischem Exzem erleiden zwischen drei und sechs Jahren einen Wechsel des betroffenen Organsystems in Richtung Atemwege. Durch Frühdiagnostik, geeignete Massnahmen der Prävention und Prophylaxe sowie rechtzeitig einsetzende therapeutische Interventionen können heute in der Regel schwere progrediente Verläufe vermieden und eine häufig lang anhaltende Symptomfreiheit erzielt werden. Da Asthma und Neurodermitis in einem sehr frühen Stadium des Lebens beginnen und entsprechende Fehlentwicklungen des Immunsystems bereits im pränatalen beziehungsweise Säuglingsalter erfolgen, sollten primäre Präventiv- und Behandlungsinterventionen idealerweise bald nach der Geburt oder sogar noch während der Schwangerschaft erfolgen.
Primäre Allergieprävention
Empfehlungen zur primären Allergieprävention gelten für Risikokinder bezüglich Allergieentwicklung aus Familien mit allergischer Manifestation bei Verwandten ersten Grades. Die Massnahmen beruhen vor allem auf dem Stillen während der ersten vier bis
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sechs Monate (beziehungsweise hypoallergener Ernährung) sowie auf der Vermeidung von Passivrauchen und Innenraumallergenexposition (siehe Tabelle 1). Während eine präventive Wirkung der Allergenkarenz gegen Hausstaubmilben für die klinische Symptomatik gesichert ist, bestehen hinsichtlich Haustierhaltung kontroverse Ansichten. Während aufgrund früher Hundehaltung kein höheres Allergierisiko besteht, gilt Katzenhaltung als Risikofaktor. Als Präventionsmassnahme ist der Verzicht auf behaarte oder gefiederte Haustiere zu empfehlen. Im Rahmen alimentärer Atopieprävention wird bei nicht gestillten Säuglingen bis zum sechsten Lebensmonat die Ernährung mit Hydrolysatnahrung (EHF oder PHF) empfohlen. Die Stärke der Hydrolyse ist unwichtig. Langfristig günstige Effekte des Einsatzes von Probiotika auf das allergische Geschehen werden nicht einheitlich beurteilt. Falls Beikost bereits ab dem viertem Monat eingeführt werden muss, ist solche mit geringem Sensibilisierungspotenzial (z.B. Reis, Karotte, Kartoffel, Birne, Äpfel) zu verwenden. Im ersten Lebensjahr sollte auf Nahrungsmittel mit hohem Allergenpotenzial (z.B. Ei, Fisch, Nüsse, Zitrusfrüchte, Soja) verzichtet werden. Günstige Effekte diätetischer Massnahmen bei Müttern, welche selbst keine Nahrungsmittelallergie aufweisen, sind weder für die Schwangerschaft noch für die Stillzeit nachgewiesen. Eine Ausnahmesituation liegt bei einer allergischen pneumologisch-dermatologischen Erkrankung des Kindes während der Stillzeit vor.
Tabelle 1:
Primäre Allergieprävention
● Schwangere: Rauchverzicht ● Säugling: 4 bis 6 Monate ausschliesslich
stillen, hypoallergene Milchpräparate, falls Muttermilchzusatz/-ersatz ● stillende Mutter: ausgewogene Ernährung ● Beikost: nach 6. Monat, Vermeidung von allergenen Nahrungsmitteln bis nach dem 12. Monat ● rauchfreie Umgebung ● Hausstaubmilbensanierung ● Verzicht auf behaarte/gefiederte Haustiere
Tabelle 2:
Sekundäre und tertiäre Allergieprävention
● tabakrauchfreie Umgebung ● Verzicht auf behaarte/gefiederte Haustiere ● Hausstaubmilbensanierung/Encasings ● konsequente spezifische Immuntherapie (SIT) ● optimale symptomatische Therapie ● Schulung und Beratung (Asthma-, Neurodermi-
tisschulung) ● Vermeidung von Berufen mit grossem Risiko
für Atopiker
Sekundäre und tertiäre Allergieprävention
Das Ziel sekundärer Allergieprävention ist die Ver- tige Unterscheidung zwischen der im Kleinstkindes-
hinderung einer weiteren Ausdehnung des Allergen- alter häufigen rezidivierenden obstruktiven Bron-
spektrums beziehungsweise weiterer allergischer chitis und dem mit ähnlicher Symptomatik aufwar-
Organmanifestationen im Sinne eines «Etagenwech- tenden frühkindlichen Asthma bronchiale. Denn
sels». Eine wesentliche Massnahme in diesem Rah- Asthma bronchiale beginnt zwar mit Husten und
men stellt die spezifische Immuntherapie dar. Sie ist Dyspnoe im Kindesalter, aber nicht jedes hustende
die einzige Behandlung, die den Krankheitsverlauf und giemende Kind hat beziehungsweise bekommt
kausal beeinflussen kann. Die Symptome nehmen Asthma. Bei rezidivierender obstruktiver Bronchitis
ab, und die Lebensqualität nimmt zu, es kommt zu kann die lediglich bedarfsorientierte Applikation
weniger Neusensibilisierungen, oder solche können von inhalativen Kortikosteroiden (ICS) infektindu-
gar verhindert werden. Vor allem für die subkutane zierte Episoden im Hinblick auf Intensität, Dauer
Variante der Therapie (SCIT) wurde Effizienz nach- und Obstruktion günstig beeinflussen. Eine regel-
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gewiesen. (Siehe Tabelle 2 sowie den Beitrag «Spe- mässige, langfristige Therapie mit ICS bei aus-
zifische Immuntherapie [SIT]» in dieser Ausgabe.)
schliesslich virusinduzierter Obstruktion ist hinge-
Als tertiäre Allergieprävention gelten die zurzeit gen nicht effizient. Anders kann bei frühkindlichem
möglichen und evidenzbasierten medikamentösen leichtem bis mässigem Asthma bronchiale die frühe
Therapiemöglichkeiten. Das Ziel ihres Einsatzes ist therapeutische Intervention mit ICS die Entwick-
eine langfristig gesicherte Krankheitskontrolle.
lung von Lungenfunktionsverlusten verhindern, die
Differenzialdiagnostisch von Bedeutung ist die pro- bronchiale Hyperreagibilität reduzieren und eine 32 gnostisch und therapeutisch ausserordentlich wich- bessere Asthmakontrolle mit längeren symptom-
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Atopiedisposition (Genotyp) Sensibilisierung
Allergische Entzündung Allergische Erkrankung
Primäre Prävention (Risikokinder) Sekundäre Prävention Tertiäre Prävention
Neurodermitis Asthma Heuschnupfen
Abbildung: Massnahmen zur Allergieprävention bei atopischer Diathese
freien Phasen und somit höherer Lebensqualität vermitteln. Als gesicherte langfristig verlaufsrelevante Faktoren für die ganzheitliche Beeinflussung allergischer Erkrankungen bei Kleinkindern erweisen sich zum einen die Frühdiagnostik einschliesslich Schulung und Beratung, zum anderen die Risikominimierung durch das Vermeiden von Exposition gegenüber Allergenen und Irritanzien (Tabakrauch, Feinstaub, Autoabgase usw.) sowie eine Infektprophylaxe und weitere Aspekte wie eine rechtzeitige Immuntherapie. Bei Asthmapatienten ist die therapeutische Frühintervention mit ICS wichtig. Ein wesentlicher Faktor für die Rezidivprophylaxe bei Neurodermitispatienten ist die regelmässige und adäquate Basistherapie mit rückfettenden und feuchtigkeitsspen-
denden Produkten. Weiter spielen die ärztliche Füh-
rung bei der Verlaufskontrolle und dem Erstellen
flexibler und bedarfsorientierter Therapieschemata
und schliesslich familiäre sowie psychosoziale Rah-
menbedingungen für den Verlauf eine wichtige
Rolle.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Hans-Joachim Mansfeld Co-Chefarzt Allergieklinik – Zentrum für Kinder und Jugendliche an der Hochgebirgsklinik Davos 7265 Davos-Wolfgang E-Mail: hansjoachim.mansfeld@hgk.ch
Interessenkonflikte: keine
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