Transkript
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Weniger Zeit in der Hypoglykämie für Typ-1- und Typ-2-Diabetiker
Neue Daten zum Flash Glucose Monitoring und zur kontinuierlichen Glukosemessung
Ein wichtiges Thema im Diabetesmanagement der nächsten Jahre ist die kontinuierliche Messung der Glukosewerte. In welchem Umfang sie letztlich die Stelle der herkömmlichen Blutzuckerselbstkontrolle übernehmen kann, ist eine Frage des Nutzens, aber auch der Kosten. Was also bringt die kontinuierliche Messung eigentlich für die Therapie? Im Rahmen der 52. Jahrestagung der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in München wurden hierzu neue Studien zu verschiedenen Geräten vorgestellt.
Diabetespatienten mit Insulintherapie müssen regelmässig ihre Glukosewerte kontrollieren, um ihre Therapie sicher steuern und zum Beispiel Unterzuckerungen rechtzeitig behandeln oder vorbeugen zu können. Die klassische Blutzuckerselbstkontrolle hat allerdings Schwächen. So erfordert sie jedes Mal einen Stich in den Finger. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern bei vielen Patienten auch sehr oft nötig. Bei einem 5-Punkte-Tagesprofil etwa kommen damit im Jahr 1825 Stiche zusammen und in 10 Jahren mehr als 18 000. Pro Fingerbeere bedeutet das trotz der kleinen verfügbaren Fläche jedes Jahr rund 180 Stiche. Dazu kommt, dass selbst ein MehrPunkte-Profil nur wenige und sehr kurze Blicke auf den Glukosespiegel bietet. Bei fünf Messungen zum Beispiel sind das fünf aktuelle Werte am Tag. Was dazwischen passiert, bleibt im Dunkeln. Im Gegensatz dazu kann eine kontinuierliche 24-Stunden-Glukosemessung ständig Werte in kurzen Abständen ermitteln. Das ermöglicht das frühe Erkennen von potenziell riskanten Änderungen im Glukoseverlauf. Oft wird neben dem Wert noch ein Trendpfeil abgebildet, der anzeigt, ob die Werte gerade steigen, fallen oder eher stabil bleiben. Dank der engmaschigen Werte bietet sich den Patienten also die Chance, Unter- und Überzuckerungen frühzeitig zu begegnen. Die Messung erfolgt in der Regel in der interstitiellen Flüssigkeit. Je nach Gerät können herkömmliche Blutzuckermessungen, die jedes Mal einen Stich in den Finger erfordern, grösstenteils oder fast ganz entfallen.
Flash Glucose Monitoring mit dem FreeStyle Libre
Weitgehend frei vom lästigen Piksen in die Finger können Patienten werden, die das FreeStyle-Libre-System zum Flash Glucose Monitoring (FGM) verwenden. Es besteht aus einem Sensor und einem Lesegerät. Der Sensor liefert zwei Wochen lang Glukosewerte. Er ist mit 35 mm im Durchmesser nicht viel grösser als eine 5-FrankenMünze, 5 mm flach und wird am Oberarm platziert. Da er vorkalibriert ist, ist eine Blutzuckermessung zum Kalibrieren nicht nötig, so Prof. Thomas Haak aus Bad Mergentheim (D). Die Messung erfolgt über ein 5 mm langes, unter der Haut platziertes Filament. Die Patienten können ihre Messwerte schmerzfrei und unauffällig mit dem
Lesegerät scannen, so oft sie wollen. Dafür fahren sie mit dem Gerät kurz über den Sensor; Kleidung dazwischen ist kein Hindernis. Das Lesegerät zeigt den Glukosewert und einen Trendpfeil an, sowie grafisch den Glukoseverlauf der letzten acht Stunden. Es kann auch als Blutzuckermessgerät genutzt und mit einem PC verbunden werden.
Weniger Zeit im hypoglykämischen Bereich für Typ 1 …
In der jetzt publizierten randomisierten, kontrollierten Studie IMPACT erzielten langjährige Typ-1-Patienten deutlichen Nutzen dank des Einsatzes eines FGM-Messsystems im Vergleich zur konventionellen Blutzuckerselbstmessung (n = 241). Da bei Typ-1-Diabetikern häufiger Unterzuckerungen auftreten, erfasste der primäre Endpunkt die Änderung der Zeitspanne im hypoglykämischen Bereich (< 70 mg/dl). Die FGM-Gruppe war nach 6 Monaten eindeutig im Vorteil, wie Prof. Jan Bolinder aus Stockholm (S) berichtete. Die mittlere Scanfrequenz der Glukosewerte sank in dieser Zeit von 18,5 auf 14,5 am Tag. Gegenüber der Vergleichsgruppe nahm die tägliche hypoglykämische Zeitspanne signifikant um 38 Prozent ab, in der Nachtphase zwischen 23 und 6 Uhr sogar um 39,8 Prozent (jeweils p < 0,0001). Dementsprechend war auch die Therapiezufriedenheit höher. Der HbA1c-Wert von anfangs 6,8 Prozent blieb trotzdem stabil und betrug am Ende der Studie 6,9 Prozent. FGM kann auch Therapieprobleme bei Kindern/Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes reduzieren. Bei ihnen ist die Unterzuckerungsgefahr erhöht, weil viele Aktionen viel weniger vorhersagbar sind als bei Erwachsenen. Das reicht von der Nahrungsaufnahme über sportliche Aktivitäten bis zu den häufigeren Infektionen. Die Blutzuckervariabilität der Kinder, sagt Prof. Thomas Danne aus Hannover (D), «ist enorm». Das erfordert eigentlich mehr Messungen als üblich – aber das stresst Kinder und Eltern ebenso wie die nötigen Nachtmessungen. Manche Eltern haben solche Angst vor Hypoglykämien, dass sie auch 12-jährige Kinder noch nachts bei sich schlafen lassen. Nach seiner Einschätzung kann FGM in solchen Fällen helfen, auch weil das Scannen so einfach ist: «Das kann jeder», betonte er, «das Kind, die Mutter, die Oma,
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der Sportlehrer …» Und für die Nachtkontrollen müssen Eltern ihr Kind nicht einmal mehr aufwecken. Da beim FGM sehr viele Daten produziert werden, ist eine Schulung der Patienten/Eltern wichtig, damit sie aus der Anwendung einen hohen Nutzen ziehen können, so Danne.
… und Typ 2: Die REPLACE-Studie
Daten zum FGM-Einsatz bei Typ-2-Patienten liegen aus der ebenfalls randomisierten, kontrollierten REPLACEStudie vor. 224 Patienten mit intensivierter Insulintherapie oder Pumpentherapie und verbesserungsbedürftigem HbA1c (Screening: 8,79% [7,5–11,7]) nahmen teil. Verglichen wurde der Effekt von FGM und konventioneller Blutzuckerselbstkontrolle auf den HbA1c-Wert nach 6 Monaten. Die HbA1c-Verbesserung war in beiden Gruppen vergleichbar (-0,29%, vs. -0,31%). Unterschiede zeigten sich aber in der präspezifizierten Subgruppe der unter 65-Jährigen (n = 142): Hier sank der mittlere HbA1c-Wert im Kontrollarm um 0,2 Prozent, im Interventionsarm dagegen um 0,53 Prozent (p = 0,03), so Prof. Ramzi Ajjan aus Leeds (GB). In der Gesamtpopulation verringerte sich zudem die Zeit im hypoglykämischen Wertebereich (< 70 mg/dl) nur in der FGM-Gruppe deutlich (ca.: –0,6 h/Tag vs. –0,15 h/Tag; p < 0,01); der Vorteil fiel auch bei Werten < 55 mg/dl und < 45 mg/dl signifikant aus. 139 von 149 Teilnehmern der FGM-Gruppe beteiligten sich nach der Studie an einer offenen Verlängerung auf 12 Monate. Die Daten wurden jetzt vorgelegt. Die Analyse zeigt, dass sich die Aufenthaltsdauer der Patienten im Bereich < 70 mg/dl halbiert hatte. Das galt auch für nächtliche Hypoglykämien (jeweils p = 0,0002).
Kontinuierliches Glukose-Monitoring
Auch das kontinuierliche Glukose-Monitoring (CGM) liefert nicht nur aktuelle Glukosewerte rund um die Uhr. Das Accu-Chek®-Insight-CGM-System etwa befindet sich gerade auf dem Weg zur CE-Zulassung; sie wird für die nächsten Monate erwartet. Das System soll dann in den ersten Ländern zur Verfügung stehen. Es bietet den Patienten unter anderem auch Warnfunktionen. Davon könnten nicht nur – aber besonders – Patienten mit Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen profitieren, so Prof. Jörg Jendle aus Örebro (S). Diese Patienten haben ein 3- bis 6-fach erhöhtes Risiko für schwere Unterzuckerungen. Der Sensor lässt sich mit einer Hand anbringen und arbeitet sieben Tage lang. Eine besonders hohe Messpräzision liefert das System laut Jan Jager von Roche Diagnostics in kritischen Bereichen: bei rascher Fluktuation der Glukosewerte und im Bereich niedriger Werte.
Die Studie IN CONTROL
Ob eine CGM im Vergleich zur Blutzuckerselbstmessung auch bei Typ-1-Patienten mit Hypoglykämie-Wahrneh-
Zeit im normoglykämischen Bereich (%)
ZEIT IM NORMOGLYKÄMISCHEN BEREICH
100
80
60
40 65,0% 55,4%
20
0
CGM
traditionelle
Blutzuckerselbstmessung
Abbildung: Typ-1-Patienten mit HypoglykämieWahrnehmungsstörung: Zeitanteil im normoglykämischen Bereich bei kontinuierlicher Glukosemessung vs. Blutzuckerselbstmessung (p < 0,0001).
Quelle: van Beers et al. (1)
mungsstörungen – also einer Hochrisikopopulation – die Stoffwechseleinstellung verbessern und schweren Hypoglykämien vorbeugen kann, untersuchte die randomisierte niederländische Crossover-Studie IN CONTROL (n = 52). CGM- und Blutzuckerselbstkontroll-Phasen dauerten jeweils 16 Wochen. Das Real-Time-CGM-System bestand aus dem Paradigm® Veo™ System mit Mini-Link®Transmitter und dem Enlite® Glukosesensor. Als primärer Endpunkt wurde der mittlere Zeitanteil (in %) verglichen, den die Patienten im angestrebten Glukosebereich von 4 bis 10 mmol/l verbrachten. Daneben wurden als ein sekundärer Endpunkt schwere Hypoglykämien erhoben. Das Ergebnis: Bei Verwendung des CGM befanden sich die Patienten insgesamt über 65,0 Prozent der Zeit im normoglykämischen Bereich, bei Selbstmessungen dagegen sank dieser Zeitanteil auf 55,4 Prozent (p < 0,0001) (siehe Abbildung). Dabei verbrachten die Patienten mit CGM sowohl im hypo- als auch im hyperglykämischen Bereich signifikant weniger Zeit. Schwere Unterzuckerungen traten zudem mit 14 versus 34 Ereignissen viel seltener auf (p = 0,033) (1).
Helga Brettschneider
Referenz: 1. Van Beers CA et al.: Continuous glucose monitoring for patients with type 1 diabetes and impaired awareness of hypoglycaemia (IN CONTROL): a randomised, open-label, crossover trial. Lancet Diabetes Endocrinol 2016; 4 (11): 893–902.
Quelle: Veranstaltungen im Rahmen der 52. Jahrestagung der European Association for the Study of Diabetes (EASD), u.a. Symposium «Flash Glucose Monitoring» (Sponsor: Abbott) und Pressekonferenz «Innovation for Relief: New solutions for redefine daily diabetes management» (Sponsor: Roche Diabetes Care) am 12. September 2016 in München.
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