Transkript
BUCH
Autismus, genetisch betrachtet
Rolf Knippers, emeritierter Professor für molekulare Genetik der Universität Konstanz, gibt in einem knappen, übersichtlich gestalteten Buch einen Überblick über dieses komplizierte und sich ständig verändernde Gebiet.
Nach einem Einführungskapitel über die Pioniere Leo Kanner und Hans Asperger schreibt Knippers ausführlicher über Bruno Bettelheim und seinen Irrtum eines durch die Mutter verursachten Autismus. Es folgt ein Kapitel über Diagnosen, Häufigkeiten und Verläufe und unter dem Titel «Erblichkeiten» die Hinweise auf eine genetische Ursache von Autismus. Anschliessend werden Studien zum Kopfumfang, zu Besonderheiten in der Entwicklung des Kleinhirns und zur Connectivity vorgestellt. Sehr klar sind die Kapitel über die monogen verursachten Syndrome, die häufig mit Autismus assoziiert sind: Fragiles-X-Syndrom, tuberöse Sklerose, Rett- und AngelmannSyndrom. Die Stärke des Buches sind die Kapitel zu den genetischen Forschungsmethoden und den bislang gefundenen Mutationen. Knippers kann auch dem genetischen Laien die Konzepte der Assoziationsstudien, der Copy-Number-Variation, der Genom- oder genauer der Exom-Sequenzierung und der Epigenetik erläutern. Grosse Studien werden erwähnt und Bezüge der genetischen Resultate zur Synapsenentwicklung und zu Neurotransmittersystemen hergestellt. Dabei werden auch widersprüchliche Befunde und offene Fragen nicht ausgeklammert. Der Autor ist sicher kein Autismusexperte, was er auch nicht für sich in Anspruch nimmt. Trotzdem stören Ungenauigkeiten. So schreibt er zum Einfluss des Testosterons auf die Hirnent-
wicklung, dass das Hormon kaum zu messen sei und man deshalb die Fingerlänge als Mass des Testosteroneffektes beiziehen müsse. Die umfangreichen Amniozentesestudien von Simon Baron-Cohen zu diesem Thema bleiben unerwähnt. Die Aussagen zum Blickkontakt sind ungenau, ein Hinweis auf die vielversprechende Technik des «eye-tracking» fehlt. Umweltfaktoren nehmen in einem Genetikbuch vielleicht zwangsläufig wenig Raum ein. Es gibt aber viele Hinweise, dass exogene Faktoren während der Schwangerschaft, vermutlich in Verbindung mit einer genetischen Vulnerabilität, bei der Entstehung autistischer Störungen eine Rolle spielen. Dies wird sehr knapp abgehandelt. Das wichtige Thema des Wiederholungsrisikos bei Geschwistern fehlt. Das eigentliche Problem des Buches hat nichts mit dem Autor zu tun. Es ist die frustrierende Erkenntnis, dass auch nach 30 Jahren intensiver Forschung in erster Linie deutlich geworden ist, wie gross die Zahl der beteiligten Gene wirklich ist (500 bis 1000). Bei monogen verursachten autistischen Störungen (vielleicht 10% aller Fälle) taucht am Horizont die Möglichkeit einer gezielten Behandlung auf. Für die anderen 90 Prozent wird die genetische Forschung noch für lange Zeit ohne therapeutische Relevanz bleiben, und sie hat bis anhin auch zum Verständnis der autistischen Störung noch wenig beigetragen. Aber vielleicht sind da meine Erwartungen einfach zu hoch.
Die Lektüre des Buches hat sich für mich trotzdem gelohnt, und ich würde den Text auch anderen Autismusfachpersonen empfehlen, die sich für die medizinisch-genetische Seite der tief greifenden Entwicklungsstörung interessieren.
Dr. Ronnie Gundelfinger Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie, Fachstelle Autismus
Rolf Knippers: Autismus, genetisch betrachtet. Georg-Thieme-Verlag, Stuttgart, 2016. 248 Seiten, 8 Abbildungen, gebunden. ISBN Buch: 978-3-13-220801-8 ISBN E-Book (PDF): 978-3-13-220811-7 ISBN E-Book (ePub): 978-3-13-220821-6
28 6/16