Transkript
EDITORIAL
Die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) ist die grösste pädiatrische Fachtagung im deutschsprachigen Raum. In diesem Jahr waren wir zum ersten Mal dabei und haben für Sie eine Kongressausgabe mit einem breiten Themenspektrum zusammengestellt. Für die Berichterstattung haben wir Symposien und Referate ausgewählt, die alltäglichen Problemen in der Praxis gewidmet waren, beispielsweise der Obstipation im Kindesalter, der Angst vor Wachstumsstörungen wegen inhalativer Steroide oder der Frage, wogegen ein Kind nun allergisch ist und wogegen nicht beziehungsweise ob es sich überhaupt um eine Allergie handelt.
Schuld an der Misere sei zum einen die Umwelt: «In einer Gesellschaft, in der über die Hälfte der Erwachsenen adipös ist, müssen wir Adipositas auch bei Kindern akzeptieren – so bitter das ist», sagte Ines Gellhaus, Vorsitzende der Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche e.V. (KgAS). Zum anderen scheitere die für das Abschmelzen überflüssiger Fettpolster notwendige Verhaltensänderung bei den meisten an biologisch determinierten Prozessen. Das Gewicht wird, ähnlich wie der Blutzucker oder Blutdruck, über zentrale Mechanismen reguliert, die willentlich nur teilweise kontrollierbar sind. Nicht zuletzt hänge es auch von den Genen ab, wie dick oder schlank wir sind, erläuterte Wabitsch.
Dr. Renate Bonifer Redaktorin PÄDIATRIE renate.bonifer@rosenfluh.ch
Dicke Überraschung
Doch so alltäglich die Themen auf den ersten Blick scheinen, jedes Mal waren überraschende Neuigkeiten zu erfahren: zum Beispiel, dass das Mikrobiom einen ganz erheblichen Einfluss auf das Wachstum hat, dass die dickste Quaddel im Allergietest nicht unbedingt vom klinisch relevantesten Allergen verursacht wird oder dass die Neurodermitis eben keine Allergie ist, auch wenn Allergene die Symptome triggern können. Für mich persönlich die dickste Überraschung war jedoch die unverblümte Kapitulation pädiatrischer Adipositasspezialisten. Seit Jahrzehnten mühen sie sich, adipöse Kinder und Jugendliche mit mannigfaltigen Programmen auf Normgewicht zu bringen. Meist vergeblich. Neu ist, dass man es öffentlich zugibt. Auf gerade einmal 1 bis 2 Prozent bezifferte Martin Wabitsch von der Universität Ulm den Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in derartigen Programmen wirklich gute und vor allem auch langfristige Erfolge erzielen.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir der Entdecker des Leptins, Jeffrey Friedman, bereits vor 22 Jahren im Interview gestand, dass die Körperfülle sicher zu mindestens der Hälfte genetisch bedingt sei, man das den Leuten aber besser nicht sagen solle. Das ist heute glücklicherweise anders. Wäre es da nicht konsequent, die offenbar wenig hilfreichen Adipositasprogramme einzustellen? Weit gefehlt: Die Spezialisten trösten sich damit, dass man ein paar wenigen Kindern doch damit helfen könne, und passen im Übrigen ihre therapeutischen Ziele der Realität an. Um als erfolgreich zu gelten, müssen die Kinder nun nicht mehr schlanker werden, sondern sie sollen sich in ihrem Dicksein halt besser fühlen und dank der Schulung vielleicht doch irgendwie ein wenig gesünder leben. Das ist kein Scherz, das meinten die Referenten ernst. Mehr dazu erfahren Sie ab Seite 26 in dieser Ausgabe.
Renate Bonifer
6/16
1