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Titel
Arsenicum: Die Experten sprechen
Untertitel
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Lead
Es ist schön, dass wir so viele Experten haben. Sie bilden Arbeitsgruppen, Stäbe mit vielen Ressortchefs und formulieren Pressecommuniqués. Im Fernsehen sitzen sie im weissen Kittel oder im masskonfektionierten Anzug vor einer beeindruckenden Bücherwand. Zwar wissen sie im Grunde gar nichts über die neue Seuche. Aber das formulieren sie so schön, dass es einem nicht sofort auffällt. Interessant ist, welchen Grad der Besorgnis sie verbreiten. Die mit der Pharmaindustrie verbandelten Experten sind ausserordentlich besorgt.
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arsenicum
E s ist schön, dass wir so viele Experten haben. Sie bilden Arbeitsgruppen, Stäbe mit vielen Ressortchefs und formulieren Pressecommuniqués. Im Fernsehen sitzen sie im weissen Kittel oder im masskonfektionierten Anzug vor einer beeindruckenden Bücherwand. Zwar wissen sie im Grunde gar nichts über die neue Seuche. Aber das formulieren sie so schön, dass es einem nicht sofort auffällt. Interessant ist, welchen Grad der Besorgnis sie verbreiten. Die mit der Pharmaindustrie verbandelten Experten sind ausserordentlich besorgt. Sie lassen einfliessen, dass Grippemedikamente zweier grosser Pharmakonzerne viel versprechend seien. Behördliche Experten hingegen beschwichtigen und geben den etwas bizarren Ratschlag, dass zurzeit nicht empfohlen würde, diese Medikamente – die Markennamen werden aber genannt – bei Reisen in das betroffene Gebiet mitzunehmen. Für die Schweizer Bevölkerung, so tönte das BAG am 26. April 2009, «besteht zurzeit keine Gefahr». Ein vollmundiges Versprechen, das aber wissenschaftlich nicht haltbar ist. Bereits ein einziger infizierter Mexiko- oder USARückkehrer, der vielleicht schon gestern durch die Menschenmengen am Flugplatz ging, für einen Imbiss im überfüllten Fast-food-Laden Schlange stand, dann in öffentlichen Verkehrsmitteln und einem Zürcher Warenhaus hustete und abends noch in die Oper ging, kann eine Epidemie auslösen. «Die Schweiz intensiviert die Grippe-Überwachung», titelt das BAG. Aber augenscheinlich trödelt der Bundesrat und Gesundheitsminister Couchepin insbesondere. Der Bürger vertraut auf die Zollbeamten und Einreise-Kontrolleure, die mit Argusaugen die Reisenden von Flügen aus Mexiko und USA beobachten. Die Obrigkeit hat sicher ein gutes Gespür dafür, ob die Menschen, die da ihre Pässe über den Schaltertisch schieben, das Virus in sich tragen. Müdigkeit aufweisen. Oder gar Kopfweh, Muskel- oder Gelenkschmerzen haben. Von Jean-Louis Zurcher erfährt die Öffentlichkeit, dass es sich beim «Niessen» um eine «akute Atemwegserkrankung» handelt. Bisher hielt ich es – mit nur einem «s» – lediglich für ein unspezifisches Symptom. «Bestätigte Verdachtsfälle», so lesen wir, würden «in Spitalbehandlung verbracht». Man kann Bastian Sick nur zustimmen: Anders als das schlichte Verb «bringen» klingt dieser Polizeijargon mit unnötiger Vorsilbe nach Gewalt. Tja, so schnell wird man vom leidenden Patienten

zum gemeinschaftsgefährdenden Verdachtsfall, bei dem seuchenpolizeiliche Massnahmen greifen. Freundlicher hören sich die Communiqués der Spitäler an – dort sind es noch Menschen, nicht Fälle, die «in eine Isolationskabine geleitet» werden. Prof. Zeltner, vermutlich aus seuchenhygienischen Gründen jetzt ohne Schnauzbart, gibt häppchenweise Infos. Gestern noch keine Reisebeschränkungen, heute um 180° andere Empfehlungen. Den Reporter an der Virusfront erkennt man an der um den Hals getragenen Gesichtsmaske. Doch all die schönen Berichte, die weisen Weisungen und klugen Vorkehrungen können nicht bemänteln, dass Epidemien auch trotz modernster Wissenschaftserrungenschaften nicht vermeidbar sind. Das hat schon Glyphodes perspectalis gezeigt, ein ostasiatischer Kleinschmetterling, der nach Europa verschleppt wurde und dessen Raupen Buchsbaum in Rekordzeit zerstören. Die städtische Behörde empfiehlt, die Buchsbaumzünsler-Raupen abzusammeln «und mit kochendem Wasser zu übergiessen oder sie den Hühnern zum Fressen zu geben». Nun – in meiner Nachbarschaft sind Hühnerhalter rar bis nichtexistent. Wirksam sind sowieso allenfalls Giftspritze oder Rodung. Das Erteilen unsinniger Ratschläge, damit sich Aktivismus statt Panik ausbreitet, ist oft die obrigkeitliche Antwort auf Risikosituationen. Doch wenn die Schweinegrippe kommt, dann helfen keine «Szenarios» und keine Experten, die noch nie eine Pandemie erlebt haben. Sie macht den reichen Industrienationen klar, dass der Mensch vulnerabel und sterblich ist. Lockerer nimmt mein mexikanischer Hausarzt-Kollege die Schweinegrippe. Sie sei nur ein Problem von vielen, seufzt er. Smog und Erdbeben erschrecken seine Landsleute mehr. Hohe Kindersterblichkeit, Unterernährung, Zunahme von Tuberkulose, Diarrhö und Chagas-Krankheit in den Armenvierteln, Teenagerschwangerschaften, Müttersterblichkeit nach illegalen Aborten machen ihm Sorge. Sauberes Trinkwasser, Strom und Kanalisation für alle, das hätte er gerne. Nun, es ist halt alles relativ... Die Aktien von Roche und Glaxo steigen, und der Absatz von Schweinefleisch sinkt. Und Kerry F. geht es hoffentlich immer noch gut.

Die Experten sprechen

398 ARS MEDICI 10 ■ 2009