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SYMPOSIUM
4. Fachsymposium Schmerz
Schmerzen im Alter – Prävention und Therapie
Schmerz ist bei älteren Menschen ein häufiges Phänomen. Rund 60 Prozent der über 65-Jährigen sind betroffen. Dabei wird Schmerz bei älteren Menschen deutlich unterbewertet. Der Hauptfokus liegt meist auf der Behandlung anderer körperlicher Erkrankungen. Am Symposium wurde der Schwerpunkt deshalb auf die Zusammenhänge zwischen Erkrankungen im Alter und Schmerz, aber auch auf die Notwendigkeit spezifischer und für das Alter geeigneter Therapieansätze beim Schmerz gelegt.
Osteoporose als Schmerzursache
R und 600 000 Personen sind in der Schweiz von einer Osteoporose betroffen. Die Wahrscheinlichkeit, ab dem 50. Lebensjahr infolge Osteoporose einen Knochenbruch zu erleiden, liegt für Frauen bei durchschnittlich 51 Prozent und für Männer bei 20 Prozent. Laut Dr. Christoph Widmer, Chefarzt Rheumatologe an der RehaClinic Bad Zurzach, betrifft es zuerst die ‹poröse› trabekuläre Knochenstruktur, dann die kortikalen ‹festen› Knochenstrukturen wie beispielsweise die Hüfte. Die Anzahl der Menschen über 65 Jahre wird sich sich nach Angaben des Rheumatologen bis 2020 verdoppeln und damit wahrscheinlich auch die Anzahl Knochenfrakturen. Die adäquate Behandlung muskuloskelettaler Schmerzen ist zentral, da sie sonst zu Bewegungseinschränkungen führen kann. Eine derzeit intensiv diskutierte Frage ist, wie die Schmerzbehandlung bei nicht krebsbedingten Schmerzen aussieht, und ob mit Opioiden behandelt werden soll, so Dr. Widmer. Daten aus den USA zeigen einen stark angestiegenen Bedarf und Verbrauch von Opioiden in den USA und Kanada, aber auch in Zentraleuropa. Die Schweiz liegt an 10. Stelle derjenigen Länder mit dem höchsten Opiatverbrauch. Das Problem: In der Zeit von 2007 bis 2013 ist in den USA die Anzahl der Heroinkonsumenten von 400 000 auf 700 000 angestiegen, bei denen Opioide als Schmerzmittel die Einstiegsdroge gewesen waren. Oxycodon beispielsweise wurde zermalmt oder zerstampft geschnupft und intravenös injiziert, bis Druck auf den Hersteller ausgeübt wurde und dieser die Galenik anpassen musste, sagte Dr. Widmer am Symposium. Heute ist die Verschreibung in den USA wieder rückläufig; in der Schweiz nimmt der Opiatverbrauch allerdings noch immer um 5 Prozent pro Jahr zu. Das Thema der Abhängigkeit wird deshalb auch von Schweizer Ärzten intensiv diskutiert. Der leitende Arzt rät dazu, die Opiattherapie sinnvoll durchzuführen. Dazu würde gehören,
Opioide restriktiv zu verordnen und eine obere Dosisgrenze zu setzen. Zudem solle die Dosis langsam angepasst und gesteigert werden. Und starke Opioide sollten nie Erstlinientherapie sein. Zudem gehöre die fundierte und offene Beratung des Patienten dazu. Dr. Widmer gibt beispielsweise Infoblätter zu den Wirkungen, aber auch den Nebenwirkungen der Opioide mit.
Schmerzverarbeitung bei Demenz Schmerz ist im Alter weitverbreitet: 40 bis 79 Prozent der über 85-Jährigen geben chronische Schmerzen an. Wie sieht es mit den Schmerzen bei Demenzkranken aus? Haben diese mehr oder weniger Schmerzen? Nimmt die Schmerzwahrnehmung aufgrund der Demenzerkrankung ab? Das waren die Eingangsfragen von Monika Zemp, Leitende Neuropsychologin an der RehaClinic in Bad Zurzach. Rund 116 000 Menschen sind nach Schätzungen der Alzheimer-Vereinigung Schweiz aus dem Jahr 2014 von Demenz betroffen. Die Inzidenz nimmt mit dem Alter exponentiell zu. Daten zeigen, dass mit zunehmendem Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung die Häufigkeit berichteter Schmerzen von Demenzkranken und die daraus abgeleiteten Analgetikaverordnungen abnehmen. «Haben demenziell Erkrankte vielleicht ein anderes Schmerzempfinden?», so hinterfragte Monika Zemp diese Verschreibungspraxis. «Oder erhalten sie einfach keine oder zu wenig Schmerzmedikamente?» Studien von Shega (2010) und Corbett (2012) weisen darauf hin, dass 50 Prozent der Demenzkranken regelmässig unter Schmerzen leiden. Die Folgen von unbehandelten Schmerzen sind vielfältig und für die Betroffenen verheerend: Sie haben weniger Appetit, schlafen schlechter, bewegen sich weniger, ziehen sich zurück, haben schlechtere kognitive Leistungen und häufiger neuropsychiatrische Symptome und müssen vermehrt in Institutionen versorgt werden.
Neuere experimentelle Untersuchungen künstlicher Schmerzreize weisen darauf hin, dass die Schmerzverarbeitung bei den verschiedenen Demenzarten unterschiedlich ist. So scheint die Toleranzschwelle für Schmerz bei der Alzheimer-Demenz genauso hoch zu sein wie bei nicht demenziell Erkrankten, allerdings zeigen sie weniger vegetative Reaktionen auf Schmerz. Bei der vaskulären Demenz scheint die subjektive Schmerzschwelle hingegen eher niedriger zu sein: Der Analgetikaverbrauch ist dreimal höher als bei einer Alzheimer-Demenz. Bei einer frontotemporalen Demenz hingegen sind sowohl Schmerzschwelle wie Schmerztoleranz erhöht. Für die Klinik sollte daraus folgen, dass Klagen über Schmerzen immer ernst zu nehmen sind – unabhängig vom Demenzgrad, so Monika Zemp. Und Berichte von dementen Patienten seien genauso ernst zu nehmen wie solche kognitiv gesunder Patienten. «Allerdings ist die Schmerzerkennung bei demenziell erkrankten Menschen wirklich eine Herausforderung», so Monika Zemp. Wie also in der Praxis vorgehen? Bei einem leichten bis mittleren Demenzstadium sind der subjektive Schmerzbericht und die üblichen in der Praxis verwendeten Schmerzskalen noch valide. Ab einem MiniMental-Status von weniger als 12 hingegen können mit den üblichen Verfahren kaum mehr valide Schmerzangaben gemacht werden. Im deutschen Sprachraum häufig eingesetzt wird dann der BESD (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz). Die Beobachtungsskala wurde aus dem Amerikanischen übersetzt, sie ist einfach anwendbar, weist eine gute Reliabilität auf und scheint auch valide zu sein, so Monika Zemp. Allerdings existiert kein offizieller Cut-off-Wert. Ein besonders guter und einfacher Schmerzindikator sind spezifische Muster von Mimikreaktionen. Dazu zählen das Zusammenziehen der Augenbrauen, die Kontraktion der Muskulatur um die Augen, das Anheben der Oberlippe und das Öffnen des Mundes. Die Mimikreaktion Dementer als Schmerzäusserung scheint auch dann noch verlässlich zu sein, wenn die verbale Kommunikation nicht mehr möglich ist. Beim Schmerzassessment von demenziell erkrankten Menschen sollte insbesondere bei höherem Schweregrad neben der subjektiven Schmerzangabe die Fremdeinschätzung (möglichst in unterschiedlichen Situationen) hinzugezogen werden. «Das Ausbleiben einer Schmerzangabe eines dementen Menschen bedeutet nicht, dass keine Schmerzen vorhanden sind», so Monika Zemp. Möglich wäre bei
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Die Experten im regen Austausch (Die Sprecher: 3. von links, PD Dr. Andreas Gantenbein, Monika Zemp, Prof. Peter Sandor, Dr. Michael Dapprich, Roberto Brioschi).
Verdacht auf das Vorliegen von Schmerzen eine feste Medikation von beispielsweise Paracetamol 3 × 500 mg.
Kopfschmerzen im Alter Die Häufigkeit von Migräne und Kopfschmerz nimmt mit zunehmendem Alter ab. «Aber das bedeutet nicht, dass Kopfschmerzen im Alter nicht mehr auftreten», so PD Dr. med. Andreas Gantenbein, Chefarzt Neurologie an der RehaClinic Bad Zurzach und Präsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft. «Insbesondere in den hausärztlichen Praxen sind sie ein häufig berichtetes Problem.» Der Kopfschmerzspezialist stellte einige der häufigsten Kopfschmerzformen im Alter vor. Beispielsweise kann es ab dem 50. Lebensjahr insbesondere bei Frauen zum sogenannten schlafgebundenen Kopfschmerz (Hypnic-Kopfschmerz) kommen. Der Schmerz stellt sich jeweils etwa zur gleichen Zeit nachts ein, tritt in zwei Drittel der Fälle bilateral auf und hat keine autonomen Begleitsymptome. Das Spezielle: Dieser Kopfschmerz reagiert sehr gut auf Kaffee oder koffeinhaltige Getränke. Dann kann unterschieden werden zwischen einem Kopfschmerz, der in der Nacht oder in den Morgenstunden auftritt. PD Dr. Gantenbein: «Stellen Sie die zusätzliche Frage, ob der Patient wegen der Kopfschmerzen aufwacht oder diese wahrgenommen werden, weil man wegen anderer Bedürfnisse wie einem Toilettengang aufwacht, dann kann die Kopfschmerzart noch weiter eingegrenzt werden.» So sind der Donnerschlagkopfschmerz und die subarachnoidale Blutung Schmerzen in den Morgenstunden, die Betroffene aufwecken, wohingegen eine Migräne in den Morgenstunden eher ein Begleitsymptom darstellt. Clusterkopfschmerzen wiederum sind nächtliche Kopfschmerzen, die einen aufwachen lassen. Die kortikale Spreading Depression (CSD) kann ebenfalls eine klinische Bedeutung haben, und zwar sowohl für die Erklärung der MigräneAura als auch bei der Schädigung von bereits mangelhaft mit Sauerstoff versorgtem Hirngewebe nach Schlaganfall oder mechanischem Trauma. Wenn Kopfschmerzen plötzlich
oder/und neu auftreten, «was als Red Flag zu bewerten ist, gehört der Patient in den Notfall», so PD Dr. Gantenbein. Differenzialdiagnostisch wäre bei neu auftretendem Kopfschmerz auch eine Riesenzellarteriitis möglich, die Kopfschmerzen sind meist einseitig, temporal, und es soll im Labor nach Entzündungszeichen gesucht werden. Gehäuft tritt auch eine Trigeminusneuralgie im Alter mit den typischen, kurz dauernden Schmerzattakken auf. Zusammenfassend sagte Dr. Gantenbein, dass auch im Alter Kopfschmerzen aufträten und bei neu auftretenden Kopfschmerzen eine gute Abklärung erfolgen sollte.
Stellenwert der Schmerzen in der Geriatrie Über die Hälfte der zu Hause lebenden älteren Schmerzpatienten erhält keine adäquate Analgesie. Bei den institutionalisierten Senioren liegt der Wert noch bei rund 25 Prozent. «Viele alte Menschen sagen, dass der Schmerz halt zum Altern dazugehört», sagte Prof. Reto W. Kressig, Chefarzt und Bereichsleiter Universitäre Altersmedizin am Felix-Platter-Spital in Basel. Allerdings hat die inadäquate Schmerzmedikation grosse Konsequenzen: Alte Menschen bewegen sich schmerzbedingt weniger, essen weniger, der Diabetes verschlechtert sich, soziale Isolation setzt ein. Die Studie von Kitayuguchi et al. (2016) zeigt eine Assoziation von Rücken- und Knieschmerz und erhöhter Sturzgefahr. «Schmerzen haben Konsequenzen hinsichtlich der Aktivitäten des tägliches Lebens, die nicht zu unterschätzen sind», so Prof. Kressig. Umso wichtiger ist es, Schmerzen systematisch zu erfassen und auch konsequent zu behandeln. Studien zeigen allerdings, dass Demenzkranke schmerzmässig unterbehandelt werden und generell weniger Opioide verschrieben erhalten als nicht demente ältere Menschen. Das könnte damit zusammenhängen, dass Demenzkranke ihren Schmerz schlechter signalisieren können und/oder sich Schmerzen bei ihnen anders, zum Beispiel im Auftreten eines Delirs, manifestieren. Forschungen lassen vermuten, dass die Schmerzschwelle bei Demenzkranken gleich ist wie bei
kognitiv Gesunden, aber die biologische Reaktion auf Schmerz bei Demenz verändert ist. So wird der bei gesunden Senioren typische Herzfrequenzanstieg bei einem Schmerzstimulus bei demenziell Erkrankten nur verzögert und in einem signifikant kleineren Ausmass beobachtet. Ähnliches wurde beim schmerzassoziierten Blutdruckverhalten von Alzheimer-Patienten beobachtet: Demenzkranke zeigen nur ein unmerkliches Ansteigen des Blutdruckes bei Schmerzen! Bei Verhaltensänderungen von Demenzkranken muss immer auch an einen Schmerz als Ursache gedacht werden. Häufig schafft ein Therapieversuch mit Paracetamol diesbezügliche Klarheit. Aufgrund der negativen Auswirkungen von analgetisch nicht behandelten Menschen rät der Geriater, Schmerzen standardisiert zu messen und während der Therapie – auch bei Dementen – systematisch zu reevaluieren. Bei ungenügender Wirkung von Paracetamol sollte nicht gezögert werden, niedrig dosiert Morphin oder ein anderes Opioid zu geben. An die Konstipationsprophylaxe ist dabei immer zu denken, und bei unerträglichen Opioidnebenwirkungen sollte eine Opiatrotation vorgenommen werden.
Multimodale Schmerztherapie im Alter Der geriatrische Patient gilt oft als multimorbid mit Abnahme der kognitiven, physischen und emotionalen Fähigkeiten. Kann der alte oder betagte Mensch trotzdem noch an einer multimodalen Schmerztherapie teilnehmen, oder ist dies in diesem Alter unmöglich und unwirksam? Was ist wichtig und zu bedenken, sodass eine Teilnahme möglich ist? Roberto Brioschi, Leiter am Schmerzzentrum/Psychosomatik, ging dieser Frage nach. Erst einmal, so der Schmerzspezialist, sei das biologische Alter nicht immer mit dem kalendarischen Alter gleichzusetzen. Zudem solle beachtet werden, dass die Geschwindigkeit der Kommunikation dem Alter angepasst erfolgen soll, wobei immer auf eine wertschätzende Kommunikation zu achten sei. Denn Konzepte bringen nichts, wenn sie nicht auf die Person abgestimmt umgesetzt werden. Allgemein akzeptiert ist eine multidimensionale und interdisziplinäre Therapie basierend auf dem Modell der biomedizinischen Schmerzentstehung. Dazu gehören körperliche Therapien wie die aktive Bewegungstherapie, psychologische Schmerztherapien und eine Zielsetzung, die dem Individuum entspricht und vorher abgesprochen werden soll. Genauso wichtig sei es aber auch, dass die Therapie manchmal wirksamer sein kann, wenn sie entmedizinalisiert und erlebnisorientiert erfolgt und wenn naturnahe Aktivitäten einfliessen. G
Annegret Czernotta
Quelle: 4. Fachsymposium Schmerz, Schmerzen im Alter – Prävention und Therapie, 2. Juni 2016 in Bad Zurzach.
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Pharmakotherapie älterer Menschen
Körper und Geist werden im Alter reifer, aber auch anfälliger für Krankheiten. Mit dem Alter steigt deshalb die Zahl der Menschen, die wegen chronischer Erkrankungen Medikamente einnehmen müssen. Welche Fehler auftreten und wie sie auch vermeidbar wären, erklärt Dr. med. Michael Dapprich, Leitender Arzt Neurologie an der RehaClinic in Bad Zurzach.
SZPN: Jährlich sterben in der Schweiz 2500 Menschen aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW). Die Zahlen sind eindrücklich. Welches sind die Gründe? Dr. med. Michael Dapprich: Die Daten beziehen sich auf Schätzungen aufgrund einer Studie von Lazarou et al. (JAMA 1998) in den USA und von Leendertse et al. (Arch Int Med. 2008) aus den Niederlanden. Die Zahlen basieren auf Schätzungen, sind aber so hoch, dass sie nachdenklich stimmen. Meines Erachtens gibt es drei Hauptursachen: 1. zu grosszügige Indikationsstellung; 2. unzureichende Nutzen-Risiko-Abwägung; 3. zu hohe Dosierung und/oder zu rasche
Aufdosierung.
Was bedeutet das für die Praxis? Michael Dapprich: Im Gespräch mit dem Patienten muss beispielsweise abgeklärt werden, ob es sich um ein wichtiges Problem handelt, das den Patienten in seinem täglichen Leben einschränkt, oder «nur» um ein unangenehmes. Starke Schmerzen sind ein behandlungswürdiges Symptom. Die Frage ist aber, ob wir beispielsweise auch bei morgendlichen Rückenschmerzen über einen begrenzten Zeitraum ein Schmerzmedikament verordnen sollen, oder ob es stattdessen nicht sinnvoller ist, eine physikalische Methode sowie Kraft- und Dehnungsübungen in Eigenregie zu empfehlen? In Bezug auf die UAW und Interaktionen ist zu beachten, dass die Abklärung zwar zeitintensiv, aber absolut notwendig ist. Oftmals stellt sich im Gespräch heraus, dass der Patient noch weitere frei verkäufliche Mittel mit potenziellen UAW und Interaktionen einnimmt, oder die Liste kann nicht komplett geführt werden, weil der Patient mehrere Ärzte hat. Die Federführung durch einen Arzt ist dann sicherlich sinnvoll.
Welche Fehler kommen häufig vor beim ärztlichen Personal, der Pflege oder auch aufseiten des Patienten? Michael Dapprich: Ärzte sollten sich wirklich strenge Indikationen stellen, die Besonderheiten älterer Menschen berücksichtigen:
Der Stoffwechsel und das Flüssigkeitsvolumen bei älteren Menschen sind anders, die Leber- und die Nierenfunktion nehmen ab, das Eiweissvolumen geht zurück, gastrointestinal werden Stoffe schlechter resorbiert. All das hat einen Einfluss auf die Bioverfügbarkeit von Medikamenten. Ganz oft wird einfach auch vergessen, ein verordnetes Medikament wieder abzusetzen. Zudem wird noch immer zu selten an nicht medikamentöse Behandlungen gedacht.
Gibt es auch Fehler aufseiten der Pflege oder des Patienten? Michael Dapprich: Die Medikamentenpläne sind in der Pflege oft unübersichtlich und damit fehleranfällig, wenn die Medikamente gerichtet werden. Dann treten Pflegepersonen gerade in Pflegeheimen auch mit Medikamentenwünschen an die Ärzte heran. Oftmals geht es um die Behandlung von herausforderndem Verhalten des Patienten. Demenziell erkrankte Menschen können zum Beispiel ihre Bewegungsunruhe nicht ausleben, oder Schlafstörungen werden beklagt. Oft soll dann ein Medikament her, um Probleme zu behandeln, die aufgrund der Betreuungsstruktur entstehen, beispielsweise,
Michael Dapprich
weil der ältere Mensch tagsüber nicht gefordert wird. Und das ist nicht immer nur eine Frage von Personal- und Zeitmangel, sondern basiert auch auf mangelnder Schulung. Bei den Patienten selber ist die Erwartungshaltung oftmals auch sehr hoch und der Wunsch nach einer Medikamentenverordnung gross. Da bedarf es einer guten ärztlichen Beratung, die die Möglichkeiten und Grenzen einer medikamentösen Behandlung erklärt. Dadurch kann die Akzeptanz des Betroffenen erhöht und – im Idealfall – auch ein Doktor-Hopping verhindert werden.
Welches sind die gefährlichsten Medikamentengruppen? Michael Dapprich: Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die PRISCUS-Liste der potenziell inadäquaten Medikation für ältere Menschen (http://priscus.net/download/PRISCUSListe_PRISCUS-TP3_2011.pdf ). Die Liste ist sehr ausführlich und gibt einen guten Überblick. Ist ein Medikament auf dieser Liste, heisst das aber nicht, dass dies nicht mehr ge-
Kasten:
Typische Fehlerquellen
Verordnung einer inadäquaten Dosis: entweder zu viel oder zu wenig. Verordnung eines unnötigen Medikamentes: zum Beispiel Calcimagon bei terminaler Herzinsuffizienz oder Protonenpumpenhemmer über Monate oder Jahre. Weiterführen einer wirkungslosen Medikation: Antibiotika bei Virusverdacht, Antidepressiva ohne Effekt. Verordnung trotz Kontraindikation: Metformin bei Niereninsuffizienz, Haloperidol bei M. Parkinson. Kombination von Medikamenten, die zur Wirkungsänderung führt: Omeprazol und Clopidogrel, Johanniskraut und NOAK. Inadäquate Einnahmeempfehlung: Levodopa zum Essen, Mirtazapin morgens, Steroide abends. Nichtverordnen eines Medikamentes: OAK und NOAK bei Vorhofflimmern. Addition von Nebenwirkungen: Betablocker und Digitalis.
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geben werden darf, sondern dass die Wirkung beobachtet werden soll. Am gefährlichsten sind Medikamente, die auf die Blutgerinnung einwirken wie Marcumar und Thrombozytenaggregationshemmer. Gerade in Zeiten der interventionellen Kardiologie haben wir oft Patienten mit zwei Antikoagulanzien, weshalb die Blutungsneigung stark erhöht ist. Dann folgen Insuline und orale Antidiabetika. Hinzu kommt, dass die Verordnung eines Medikamentes dann die Verordnung eines anderen aufgrund der Nebenwirkungen nach sich zieht. Diese Verordnungskaskaden können teilweise schwerwiegende Konsequenzen haben.
Könnten Sie ein Fallbeispiel für eine solche Verordnungskaskade geben? Michael Dapprich: Bei einem 82-jährigen Mann mit degenerativer Wirbelsäulenerkrankung verordneten wir ein Opiat. Dies vertrug der Mann gut, entwickelte aber die typi-
schen opioidbedingten Nebenwirkungen wie Obstipation und Nausea. Er erhielt Movicol und Metroclopramid zusätzlich. Die Bauchbeschwerden gingen aber nicht ganz weg und führten zu Schlaflosigkeit, weshalb er ein Benzodiazepin erhielt. Dieses verstärkte wiederum den Effekt des Opiats. Er erhielt daraufhin den Cholinesterasehemmer Donezepil, der wiederum die Bauchbeschwerden verstärkte. Wir hatten also eine Anfangsmedikation, die sich aufgrund der ungünstigen Nebenwirkungen auf insgesamt vier Medikamente ausweitete. Wir begannen dann mit physikalischen Massnahmen und Wärmebehandlung. Die Schmerzen gingen immer mehr zurück, und das Opiat wurde unnötig. Mit dem Absetzen des Opiats verschwanden auch alle anderen Probleme.
Fehler lassen sich wahrscheinlich nie ganz vermeiden. Aber was wäre zu tun, damit zumindest offen darüber kommuniziert wird? Michael Dapprich: Wir sollten lernen, mit Fehlern offen umzugehen. Fehler sind kein Versagen, sondern ein falscher Entscheid! Anonyme Meldesysteme sind nur gut, wenn man sie nutzt. Aber dafür müssen sie einfach sein. Sehr wichtig und hilfreich finde ich ärztliche Veranstaltungen, an denen man auch einmal den schlimmsten Fall vorstellen kann. Das kann hilfreich sein, um zu erkennen, dass auch andere Fehler machen und dazu stehen. Noch hilfreicher ist es, wenn sogar angesehene Kapazitäten über ihre Fehler sprechen. Denn Fehler können auch wirklich gute Ärzte machen!
Sehr geehrter Herr Dr. Dapprich, wir bedanken uns für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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