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Serie Kunsttherapie
Kunst als Behandlungsoption
Teil 2: Fachrichtung Gestaltungs- und Maltherapie
Wie Herr M. sein Burn-out-Syndrom überwindet
Im Zentrum der Gestaltungs- und Maltherapie steht das Erarbeiten eines bild-
Ulrike Breuer*
treuen. Mitte März wandte sich M. in seiner Verzweiflung an seinen Betriebsarzt, der ihm voll-
nerischen oder dreidimensionalen Werks. In der schöpferischen Auseinandersetzung und im bildhaft-sinnlichen Umgang mit dem Material erlebt der
Atelier für Kunsttherapie Schützenmattstrasse 1
4051 Basel E-Mail: ulrike.breuer@bluewin.ch
ständige Arbeitsunfähigkeit attestierte und empfahl, sich in eine spezialisierte Klinik zu begeben. Während des 6-wöchigen Aufenthalts in der
Klient/die Klientin die Konsequenzen
Klinik nahm er an verschiedenen Therapiean-
des eigenen Handelns unmittelbar und
geboten teil, unter anderem an einer Gestal-
stärkt die Fähigkeit, auf innere und äussere Um-
tungs- und Maltherapie und einer Gesprächstherapie. Beide
stände Einfluss zu nehmen. Im Bewusstwerden und
Angebote nahm er nach seiner Entlassung ambulant auf; zu-
der gestaltenden Weiterarbeit an den Bildprozessen
erst die Gesprächstherapie und im September 2015 die Ge-
wird die experimentierende Veränderung innersee-
staltungs- und Maltherapie.
lischer wie handlungsbezogener Phänomene möglich. Dies fördert kreative Lösungsstrategien im Um-
Behandlungsschwerpunkt und Therapieziel
gang mit Problemen, Störungen und Ressourcen.
Gestaltungs- und Maltherapie ermöglicht Erkenntnisse, fördert das Farb- und Formempfinden und stärkt die Beziehungsfähigkeit. Ihr Erlebnisraum weckt Spiel- und Gestaltungsfreude. Gestaltungs- und Maltherapie setzt alle Mittel der bildenden Kunst situativ ein. Die Arbeit verläuft im Wech-
* Diplomierte Kunsttherapeutin (ED) mit Fachrichtung Gestaltungs- und Maltherapie. Sie präsidiert die Dachorganisation OdA ARTECURA – ehemals OdA KSKV/ CASAT.
Bereits im Erstkontakt zeigte sich bei Herrn M. ein gewisser Humor, der sich in der Therapie als nützlich erweisen könnte. Humor hat grossen Einfluss auf das Wohlbefinden, trägt zur Stressreduktion bei und unterstützt die Entfaltung kreativer Prozesse. M.s Initialbild (Abbildung 1) zeigte, dass bei ihm Spannung und Entspannung sehr nahe beieinander liegen und dass die
sel zwischen praktischem Tun und distanzierender Wahrneh-
Themen Selbstachtung, Selbstwahrnehmung und Selbstfür-
mung. Die begleitende Therapeutin unterstützt die orientie-
sorge ein wichtiger Bestandteil der Therapie sein würden. Er
rende Reflexion der Prozesse (1).
selbst bezeichnete sich als «Kopfmensch», und die Wertvor-
Im folgenden Patientenbeispiel werden die konkreten Wirk-
stellung: «Ich darf keine Gefühle zeigen», war tief in ihm ver-
faktoren und Interventionsmöglichkeiten der Gestaltungs-
und Maltherapie aufgezeigt.
Abbildung 1
Wie und wann begann der Patient die Therapie? Im November 2014 brach sich Herr M. (2) beim Fussballspielen mit seinem Sohn den Arm, dadurch wurde ein zweiwöchiger Krankenhausaufenthalt notwendig. Diese Auszeit half ihm, die Wochen zuvor zu reflektieren. Ihm war aufgefallen, dass er im Spital fast den ganzen Tag schlief. Die Ärztin musste bis zu drei Versuche unternehmen, um mit ihm sprechen zu können. Auf eigenen Wunsch begann er nach seiner Entlassung eine Gesprächstherapie und im Januar 2015 wurde die Diagnose Burn-out gestellt. Gleichzeitig nahm er seine Arbeit mit 30 Prozent wieder auf. Sein Chef nahm die Diagnose Burn-out allerdings nicht ernst; trotz eingeschränkter Arbeitsfähigkeit musste er alle Projekte weiterhin be-
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ankert. Seine Aussagen wie: «Es muss perfekt sein, es muss harmonisch sein, ich muss Leistung bringen, es muss alles einen Sinn ergeben», legen nahe, welche hohen Ansprüche er an sich selbst stellte. In der Kunsttherapie gibt es kein «richtig» oder «falsch». Das bewertungsfreie Arbeiten sollte Herrn M. unterstützen, seine überhöhten Ansprüche unmittelbarer wahrzunehmen, neue Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu entdecken und so den Stress aktiv bewältigen zu können. Ein weiteres Ziel war, den Patienten positive Bewältigungsstrategien erleben zu lassen und zu üben, Anforderungen als Herausforderung und nicht als Bedrohung zu bewerten, was sich grundlegend stressmindernd auswirken würde.
Welche Prozesse durchlief der Patient? Um die Wahrnehmung zu schärfen und die Grenze zwischen Spannung und Entspannung besser spürbar zu machen, bat die Therapeutin Herrn M., ein Tryptychon zu malen mit den beiden Polen Spannung und Entspannung. Der mittlere Teil blieb für das reserviert, was typischerweise zwischen den Polen liegt (Abbildung 2) M. spielte mit den Farben, malte zunächst die Spannung (rechts), dann die Entspannung (links). Während des Malprozesses näherte er sich immer mehr dem Mittelteil an. Plötzlich sagte er: «Das ist es!» Da-
Abbildung 2: Tryptychon
zwischen liegt ein Schutzraum, und zwar ein Schutzraum gegen den Stress von innen und den Stress von aussen. Diese Aussage kam unmittelbar aus dem Erleben heraus. Selbst etwas geschaffen zu haben, was ihm einen Rückzug ermöglicht und Schutz bietet, überwältigte ihn. Dieses Bild hat er verinnerlicht. Nun war die Frage: Erinnert er sich an diesen Schutzraum, wenn sich ein Stressgefühl von innen oder als Anforderung von aussen anbahnt und er sich die Möglichkeit schaffen will, eine Ruhepause einzuschalten? Die Therapeutin bat ihn, eine Frucht als Erinnerungshilfe zu nennen – es war eine Orange. Bei diesem Bild kam ihm die Erinnerung, dass er kürzlich eine Zeituhr in Form einer Orange gesehen habe, die
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er inzwischen gekauft hat. Diese Zeituhr solle ihn im Alltag immer wieder daran erinnern, eine Ruhepause einzulegen. Auch mit der rezeptiven (aufnehmenden) Kunsttherapie konnte Herr M. an der Erweiterung seiner Wahrnehmung arbeiten. Seine Aufgabe war, sich aus verschiedenen Kunstwerken jenes auszusuchen, das ihn im Moment am meisten anspricht. Er wählte das Bild von Marcel Duchamp («Der Übergang von Virgin in eine Braut», 1912) (Abbildung 3).
Abbildung 3: Marcel Duchamp («Der Übergang von Virgin in eine Braut»). Text des Patienten zum Bild (Elfchen [3]): Chaos, alles auf einmal, orientierungslos, durcheinander, Arm, Hülle, kopflos, Naht, Unruhe, wild Nun sollte er das betrachtete Bild in eine freie Gestaltung transformieren. Es entstand folgendes Bild, das er «Die wartende Frau» nannte (Abbildung 4).
Abbildung 4: Die wartende Frau. Text des Patienten zum Bild (Elfchen): Frau, Regen, Kleid, beschirmt, Tasche, aufgeräumt, ruhig, gelassen, still, vornehm, abwartend
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Die ersten Teile, die ihm ins Auge stachen, waren zwei Arme. Darauf folgten zwei flächige Teile. Als er alles auf dem Tisch anschaute, entstand aus dem braunen Chaos wie von selbst eine Figur. Aus weiteren Teilen schuf er die stolze, modische wartende Frau. Er zeigte sich sehr zufrieden und hatte Freude daran, das Chaos in eine geordnete Form gebracht zu haben. Mit der Arbeit der rezeptiven Kunsttherapie konnte er die heilenden Kräfte, die von Kunstwerken ausgehen können, unmittelbar erleben.
Wie war das Behandlungsergebnis?
In der Zeit von Oktober 2015 bis Mai 2016 nahm M. an insge-
samt 15 Therapiesitzungen teil, in denen er sich mit den ver-
schiedensten Materialien auseinandersetzte. Durch die Ar-
beit mit Ton, Farbe, Formen und Sand konnte er den Kontakt
zu sich selbst und seinen Gefühlen erweitern. Der erste
Schritt lag im Wahrnehmen und vor allem dem Annehmen
der Situation, wie sie gerade war. Er erlaubte sich, im krea-
tiven Prozess in allem langsamer zu werden und innezuhal-
ten, auch wenn dies jeweils nur für einen kurzen Moment
war. Er durfte immer wieder erleben, Anforderungen als He-
rausforderung anzunehmen und nicht als Bedrohung zu be-
werten. Auch wenn er sich immer wieder die Frage stellte,
was er noch besser hätte machen können, so gelang es ihm
doch, vermehrt auf die Impulse der Seele zu hören und eben
nicht, alles «perfekt» machen zu müssen. Er lernte, Einfluss
zu nehmen auf die innere Dynamik und konnte somit seine
Handlungskompetenz im Umgang mit Stress
erweitern, was eine deutliche Spannungsre-
duktion zur Folge hat.
Folgendes Erlebnis soll zeigen, wie es dem Pa-
tienten auch immer mehr gelang, Freude und
Humor zuzulassen.
Als Herr M. zu Beginn der letzten Therapiesit-
zung im Mai 2016 das Atelier betrat, erkannte
er sein Bild vom letzten Mal nicht. Als ich ihm
sagte, das habe er gestaltet, lachte er schal-
lend und rief:
«Das ist ja ein Kunstwerk, könnte man glatt
aufhängen und verkaufen, die Farbe des Bildes
springt geradezu ins Auge». Das Bild erhielt
den Titel «Farbsprung» (Abbildung 5).
Abbildung 5: «Farbsprung»
Welches sind die nächsten Schritte? Um sich beruflich wieder zu integrieren, nimmt M. an einem Arbeitsintegrationsprogramm teil und bewirbt sich aktiv um eine neue Stelle, da ihm auf Ende des Jahres gekündigt wurde. Des Weiteren bildet er sich auf eigene Kosten fort; parallel dazu hilft ihm ein spezialisierter Job-Coach bei der Neuorientierung. Die Gestaltungs- und Maltherapie sowie die Gesprächstherapie will er fortsetzen. Beides erachtet er als wichtig, besonders für den Wiedereinstieg ins Berufsleben. Das Arbeitsumfeld ist in der Zwischenzeit kaum besser geworden, und die Gefahr, in alte Muster zurückzufallen, ist noch gegeben.
Wie beschreibt der Patient M. selbst die Therapie?
In E-Mails vom 19.5. und 8.6.2016 beschreibt Herr M. wie er
seine Therapie erlebt: «Die Gestaltungstherapie ist grössten-
teils nonverbal. Gerade wenn man den Körper über den Geist
zu dauerhafter Höchstleistung angetrieben hat und ihn gar
nicht mehr wahrnimmt, fehlen die Worte, um den Zustand zu
beschreiben. Wie soll man dies beschreiben, wenn man erst
noch lernen muss, Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen.
Das Abschalten des Körpers muss zu Beginn erst noch als
Rettung und nicht als Fluch oder Schwäche begriffen werden.
Folglich findet man mit Hilfe von Skulpturen oder Bildern
eine Ausdrucksform, die das Innerste nach aussen kehrt und
sichtbar macht, wenn man sich darauf einlässt und es
schafft, den Kopf auszuschalten. Die anschliessenden Ge-
spräche über das Erfahrene stellen unendlich viele Anknüp-
fungspunkte dar und erleichtern die Therapie. Bessel van der
Kolk schreibt in seinem Buch «Verkörperter Schrecken», dass
man bei traumatischen Belastungen im Gehirn bestimmte
Areale abschaltet. Dazu gehört unter anderem das Broca-
Areal. Dieses ist für die Fähigkeit zu sprechen notwendig.
Hier sehe ich eine klare Parallele zum Burn-out. Dass die Be-
troffenen ihre Sprache zurückerlangen, gelingt eben nur über
Arbeit mittels Gestaltung und dem Körper, wie zum Beispiel
die Gestaltungs- und Maltherapie, Wasser-Shiatsu etc. Eine
reine Gesprächstherapie kann nachweislich ein Trauma allein
nicht überwinden helfen». Soweit Herrn M.s Stellung-
nahmen.
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Referenzen: 1. Berufsbild OdA ARTECURA, www.artecura.ch 2. Name geändert 3. zu beiden Bildern bat ich Herrn M., ein «Elfchen» (11 Wörter) zu schreiben. Diese Form kreativen Schreibens wurde vermutlich in einem reformpädagogischen Kontext entwickelt und trat ab den Siebzigerjahren in Holland und später in Deutschland auf. Verschiedene Autoren verweisen als Quelle auf: Peter Dellensen und Leo René Lentz. Taaldrukken. Verder dan zeggen en schrijven. Een handboek. 1987, Baarn: Betadidact, ISBN 90-321-0633-3.
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