Transkript
INTERVIEW
Wie oft sollten Diabetiker ihren Blutzucker selbst kontrollieren?
Interview mit dem Diabetologen Dr. med. Dirk Kappeler, Winterthur
Während die Notwendigkeit der regelmässigen Blutzuckerselbstmessung für insulinpflichtige Diabetiker ausser Frage steht, gehen die Meinungen auseinander, ob dies auch für nicht insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker sinnvoll ist*. Wir sprachen mit Dr. med. Dirk Kappeler über die wichtigsten Aspekte der Blutzuckerselbstmessung in der Praxis.
Die Blutzuckermessungen könnte natürlich auch der Arzt machen, aber da Messungen über mehrere Tage und zu verschiedenen Zeiten nötig sind, ist es einfacher, wenn dies der Patient selbst macht. Ausserdem sollten auch Messwerte von verschiedenen Tagen und Uhrzeiten vorliegen, wenn eine Therapieintensivierung wie beispielsweise der Beginn einer Insulingabe nötig wird, also bei schlechtem HbA1c. Die Wahl des passenden nächsten Antidiabetikums hängt unter anderem vom Verlauf der Blutzuckerkurve über den Tag ab, so dass Messwerte von verschiedenen Tageszeiten vor allem für
ARS MEDICI: Herr Dr. Kappeler, müssen nicht insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker ihren Blutzucker wirklich selbst messen, oder reicht es nicht doch, wenn der Arzt das in regelmässigen Abständen tut? Dr. med. Dirk Kappeler: Sie müssen nicht, aber sie dürfen. Messen allein konnte bei Patienten ohne Insulin und damit ohne die Möglichkeit einer Anpassung der medikamentösen Therapie in verschiedenen Studien zu keiner Verbesserung der durchschnittlichen Blutzuckereinstellung führen. Trotzdem
«Die Anzahl der Messungen sollte der Anzahl von Insulinspritzen pro Tag entsprechen.»
ist es aber sinnvoll, dass auch ein nicht insulinpflichtiger Patient entsprechend geschult ist und ein Gerät zu Hause hat, denn es gibt eine Reihe von Situationen, in denen auch er seinen Blutzucker bestimmen muss.
Welche Situationen sind das? Kappeler: Diabetiker ohne Insulin sollten ihren Blutzucker kontrollieren, wenn eine Entgleisung befürchtet wird, also bei Symptomen einer Hypoglykämie, was insbesondere bei Patienten unter Sulfonylharnstoffen zu beachten ist, oder bei einer Hyperglykämie. Vor allem die Entgleisung nach oben wird ohne Messungen gern verpasst, wenn sie aufgrund einer Erkrankung oder Infekten passiert. Das kann dann recht akut geschehen, auch ohne vermehrte Zufuhr von Kohlehydraten. Die gleiche Gefahr besteht auch bei Steroidgabe.
* Das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kommt zu dem Schluss, dass bei nicht insulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern zwar ein statistisch signifikanter Unterschied in der HbA1c-Kontrolle mit oder ohne Blutzuckerselbstmessung besteht, dieser aber nicht klinisch relevant sei. In der Schweiz werden nicht insulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern maximal 400 Teststreifen pro Jahr von der Krankenkasse bezahlt.
Kontinuierliche Blutzuckermessung und Flash-Glukose-Monitoring
Bei der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) wird über eine dünne Nadel im Unterhautfettgewebe bis zu 1400 Mal täglich der Blutzucker gemessen. Der Patient erfährt so kontinuierlich, wie sich seine Glukosewerte im gesamten Tages- und Nachtverlauf verändern. Er wird alarmiert, wenn Unter- oder Überzuckerungen drohen. Ganz ohne die Messung mit Teststreifen kommen Patienten mit einem CGM-System aber nicht aus. Das CGMS bestimmt die Werte im Unterhautfettgewebe, und dieser Messort hat eine Verzögerungszeit von 10 bis 20 Minuten zum im Blut gemessenen Wert. Darum wird empfohlen, vor jeder Insulingabe den Blutzucker zusätzlich zum CGMS-Wert zu ermitteln. Auch beim Flash-Glukose-Monitoring (FGM; FreeStyle Libre) befindet sich der Sensor im Unterhautfettgewebe, aber die Software des Systems arbeitet mit einem Algorithmus, der die gemessenen Werte umrechnet, sodass sie annähernd mit denen im Blut übereinstimmen sollen. Das Kalibrieren mittels konventioneller Blutglukosemessungen ist beim FGM in der Regel weder nach dem Einsetzen der Sonde noch während der bis zu zweiwöchigen Nutzungsdauer notwendig. Allerdings wird auch bei FGM dazu geraten, in bestimmten Situationen eine Blutzuckermessung per Teststreifen vorzunehmen, zum Beispiel, um eine vom Sensor berichtete Hypoglykämie zu bestätigen, oder in Phasen mit rasch schwankenden Glukosespiegeln. Während ein CGMS die Daten kontinuierlich an einen Empfänger sendet, ist dies beim FGM nicht der Fall. Hier werden die Daten bis zum Auslesen im Sensor gespeichert. Damit werden zu tiefe oder zu hohe Blutzuckerwerte zwar aufgezeichnet, der Diabetiker wird aber nicht alarmiert, wie dies bei einem CGMS der Fall ist. redO
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INTERVIEW
Zur Person
Dr. med. Dirk Kappeler ist Diabetologe in Winterthur und wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI.
Und halten sich Patienten tatsächlich daran? Kappeler: Ich würde aus meiner Erfahrung sagen, dass durchschnittlich etwa einmal weniger pro Tag gemessen wird als empfohlen. Patienen mit zwei Insulininjektionen messen oft nur einmal täglich, und wenn sie nur eine Injektion pro Tag haben, messen sie gerne nur alle zwei bis drei Tage.
die Wahl des richtigen Insulins nötig sind. Ausserdem werden im Hinblick auf die Fahrtüchtigkeit auch von gewissen Diabetikern Blutzuckermessungen verlangt. Vor allem Patienten, die ältere Sulfonylharnstoffe einnehmen, müssen vor jeder Fahrt den Blutzucker kontrollieren, auch ohne Insulin.
«Nicht insulinpflichtige Diabetiker sollten ihren Blutzucker messen, wenn eine Entgleisung befürchtet wird und bevor sie sich ans Steuer eines Autos setzen.»
Wie häufig sollten insulinpflichtige Diabetiker ihren Blutzucker messen? Kappeler: Hier gilt die Faustregel, so häufig zu messen, wie man spritzt. Also Patienten mit einmal täglicher Injektion eines Depotinsulins sollten auch einmal pro Tag den Blutzucker messen, bei zweimaliger Insulininjektion zweimal und so weiter.
Seit Kurzem ist ein Gerät zum sogenannten Flash-GlukoseMonitoring auf dem Markt. Wie schätzen Sie Indikation und Zielgruppe für dieses Gerät ein? Kappeler: Meiner Ansicht nach ist die Zielgruppe recht gross. Im Prinzip gehören dazu alle Diabetiker, die häufiger als einbis zweimal pro Tag den Blutzucker messen. Also neben fast allen Typ-1-Diabetikern auch viele Typ-2-Diabetiker mit Basis-Bolus-Insulintherapie. Für Typ-1-Diabetiker mit hohem Hypoglykämierisiko wäre aber sicher ein CGMSGerät mit Alarmfunktion besser geeignet. Bei einem Teil dieser Geräte wird bei einer Hypoglykämie auch schon automatisch die Insulinabgabe der Insulinpumpe unterbrochen, was natürlich enorm hilfreich sein kann. Für Typ-2-Diabetiker, die nur gelegentlich messen und nur wissen wollen, ob alles in Ordnung ist, sind aber wohl Aufwand und Kosten der Flash-Glukose-Messung zu hoch. Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist zurzeit auch noch nicht definitiv geregelt, und es sollte auf jeden Fall vorgängig eine Kostengutsprache eingeholt werden.
An welche Punkte sollte der Hausarzt in Bezug auf die Blutzuckerselbstmessung seiner Diabetespatienten denken? Kappeler: Zum einen an die Faustregel, dass die Anzahl der Messungen der Anzahl von Insulinspritzen pro Tag entsprechen sollte. Ausserdem sind die Indikationen für die Messung bei Patienten ohne Insulin wichtig: bei Krankheit zum Ausschluss einer Entgleisung nach oben und je nach Medikament zum Ausschluss von Hypoglykämien bei Symptomen sowie bevor sich der Patient ans Steuer eines Autos setzt.
Wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview wurde von Renate Bonifer geführt.
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