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VITAMIN D
Vitamin-D-Versorgung bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz
Interview mit Professor Christian Braegger, Kinderspital Zürich
Vitamin D fördert in seiner klassischen Rolle die Knochengesundheit bei Kindern, Adoleszenten und Erwachsenen und verhindert Frakturen und Stürze bei älteren Menschen. Neuere Studien bei Kindern und älteren Personen verweisen zudem auf die Rolle von Vitamin D beim Aufbau und der Funktionsfähigkeit der Muskulatur. Während die Unterversorgung mit Vitamin D in der älteren Bevölkerung inzwischen bekannt und wenn auch noch ungelöst ist, so doch zunehmend angegangen wird, zeigen neuste Untersuchungen, dass suboptimale Vitamin-D-Spiegel auch bei Kindern weitverbreitet sind. Die American Academy of Pediatrics (AAP) hat im Oktober 2008 die Empfehlung für die Vitamin-D-Substitution bei Kindern von täglich 200 IU auf 400 IU angehoben. Wir befragten den pädiatrischen Gastroenterologen Professor Christian Braegger, Kinderspital Zürich (Universitäts-Kinderkliniken), zur Situation in der Schweiz.
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin (SZE): Herr Professor Braegger, sehen Sie heute noch Rachitisfälle in der Schweiz? Prof. Christian Braegger (CB): Im Kinderspital Zürich sind Fälle von schwerer Rachitis sehr selten geworden. Für die Situation in der übrigen Schweiz habe ich keine Angaben zur Verfügung.
Wie lässt sich denn eine Rachitis erkennen? CB: Ein Vitamin-D-Mangel führt zu charakteristischen klinischen Zeichen, die durch Störungen der Knochenbildung bedingt sind. Es kommt beispielsweise zu Auftreibungen im Metaphysenbereich, also in der Wachstumszone der langen Röhrenknochen, sowie im Bereich der Rippen zwischen den knöchernen und den knorpeligen Anteilen, was in der älteren Literatur als rachitischer Rosenkranz bezeichnet wird. Es kann zu Deformationen der Extremitäten kommen sowie zum sogenannten Kraniotabes, einer weichen, mit dem Daumen eindrückbaren Schädelkalotte. Dabei handelt es sich um rachitische Spätzeichen, die meist nach lang dauerndem Vitamin-D-Mangel ent-
stehen, jedoch bereits bei Säuglingen und Kleinkindern auftreten können. Vitamin D ist aber nicht nur wichtig für den Knochen- und Knorpelstoffwechsel, sondern hat auch andere Funktionen, zum Beispiel für die Muskulatur. Ein typisches Zeichen für Vitamin-D-Mangel vor allem im ersten Lebensjahr ist die hypokalzämische Tetanie. Betroffene Säuglinge präsentieren sich dabei mit Muskelkrämpfen, die mit einem epileptischen Anfall verwechselt werden können. Bevor klinische Zeichen des Vitamin-D-Mangels auftreten, kann eine Unterversorgung nur durch Bestimmung des Vitamin-DSpiegels festgestellt werden, was in der Regel nur bei begründetem Verdacht erfolgt. Diese Laboruntersuchungen werden auch durchgeführt bei Erkrankungen von Leber oder Bauchspeicheldrüse, da diese mit einer Malabsorption der fettlöslichen Vitamine einhergehen und so ebenfalls zu einem Vitamin-D-Mangel führen können. Die Bestimmungen von Serumkalzium, Phosphat und Parathormon können ebenfalls Hinweise auf Vitamin-D-Mangel geben.
Wie gehen Sie in solchen Fällen therapeutisch vor? CB: Primär gilt es, die Ursache dafür abzuklären. Wenn eine Unterversorgung mit Vitamin D besteht, wird substituiert. Differenzialdiagnostisch gibt es auch Fälle von Vitamin-D-resistenter Rachitis, zum Bespiel im Rahmen eines Phosphatdiabetes; das ist allerdings sehr selten.
Wird bei einem nachgewiesenen VitaminD-Mangel auch die Familie in die Therapie einbezogen? CB: In erster Linie wird das betroffene Individuum behandelt. Es muss nicht so sein, dass andere Familienmitglieder auch betroffen sind. Vitamin D ist ja kein eigentliches Vitamin, das mit der Nahrung zugeführt werden muss, sondern es kann vom Körper bei entsprechender Sonnenexposition selbst synthetisiert werden. Wenn also ein Säugling – beispielsweise in den Wintermonaten – von einem Vitamin-DMangel betroffen ist, heisst das nicht, dass die übrigen Geschwister oder die Eltern auch unter einem Vitamin-D-Mangel leiden, solange sie sich gut ernähren und hin und wieder in die Sonne begeben.
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Das stimmt, dennoch wurde bei Erwachsenen nachgewiesen, dass die VitaminD-Spiegel gerade in den Wintermonaten relativ niedrig sind. Neben älteren Menschen weisen vor allem auch Frauen, die sich aus religiösen Gründen verhüllen, zu niedrige Spiegel auf. CB: Das kann ich bestätigen: Unter den Fällen von schwerer Rachitis, die wir in den letzten Jahrzehnten im Kinderspital noch gesehen haben, waren einige Mädchen, die zum Beispiel aus religiösen Gründen in lange Kleider gehüllt und nicht der Sonne ausgesetzt wurden.
Kann man aus den seltenen Rachitisfällen schliessen, dass die empfohlene VitaminD-Prophylaxe für Säuglinge im ersten Lebensjahr eingehalten wird? CB: Das würde ich nicht unbedingt sagen, denn wir wissen nicht, wie konsequent die Eltern unsere prophylaktischen oder therapeutischen Empfehlungen einhalten. Im Fall von Vitamin D gibt es durchaus Hinweise darauf, dass die Prophylaxeempfehlungen nicht flächendeckend umgesetzt werden. So sind die wenigen Tetaniefälle, die wir gesehen haben, vor allem in den Wintermonaten aufgetreten und in der Regel bei Säuglingen, die keine Vitamin-D-Substitution erhalten haben. Sicher ist, dass sich solche Fälle von Vitamin-D-Mangel durch konsequente Einhaltung der Substitutionsempfehlung im ersten Lebensjahr zuverlässig verhindern lassen.
Gemäss den Richtlinien der American Academy of Pediatrics (AAP) soll die Vitamin-D-Substitution, die übrigens im Oktober 2008 von 200 IU auf 400 IU pro Tag angehoben wurde, nicht nur im ersten Lebensjahr, sondern bis über die Adoleszenz hinaus gegeben werden (1). Könnte es sinnvoll sein, dies auch bei uns einzuführen? CB: Die Ernährungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) hat letztes Jahr neue Empfehlungen für die Säuglingsernährung publiziert (2). Dort wird explizit empfohlen, dass alle Säuglinge eine Substitution von täglich 300 bis 500 IE Vitamin D erhalten sollen, und zwar unabhängig von Jahres-
zeit und Sonnenexposition. Dabei soll eine maximale Zufuhr von 1000 IE pro Tag nicht überschritten werden, was der von der EFSA empfohlenen tolerierbaren Höchstaufnahmemenge (tolerable upper intake level) im ersten Lebensjahr entspricht. Was die Weiterführung dieser Prophylaxe über das erste Lebensjahr hinaus betrifft, gibt es in Europa meines Wissens noch keine generelle Empfehlung.
In der entsprechenden Publikation der AAP wird auf die Evidenz aus klinischen Studien verwiesen, die neue Erkenntnisse zur Rolle von Vitamin D in der Prävention von Erkrankungen (z.B. Diabetes) und in der Immunantwort gebracht hätten. Könnte man sich unter diesen Umständen nicht vorstellen, dass eine längere Substitution Vorteile hat? CB: Das wäre gut möglich. Ich glaube nicht, dass eine längerfristige Substitution von Vitamin D mit absehbaren Nachteilen oder Risiken verbunden ist. Um zu beurteilen, ob sie tatsächlich die erwarteten Vorteile bringen wird, müsste meiner Ansicht nach die vorliegende Evidenz der klinischen Daten, insbesondere bei Kindern, genau geprüft werden. Erst dann können fundierte Empfehlungen gemacht werden. Gut belegt ist dagegen der Nutzen der Vitamin-D-Substitution im ersten Lebensjahr – hier gibt es keine Zweifel.
Sehen Sie mögliche Risiken für eine Unterversorgung mit Vitamin D bei Kindern? Kinder, die an der frischen Luft spielen und sich bewegen, sind hier sicher weniger gefährdet als solche, die vorwiegend im Haus sind und am Computer sitzen? CB: Nur zu Hause sitzen ist aus verschiedenen Gründen ungünstig, insbesondere auch für das Körpergewicht der Kinder, das uns zunehmend Sorgen bereitet. Dazu kommt, dass bereits einige Untersuchungen gezeigt haben, dass adipöse Kinder und Erwachsene im Vergleich zu normalgewichtigen einen tieferen Vitamin-D-Spiegel aufweisen. Wie der Zusammenhang zwischen Body-Mass-Index und Vitamin-D-Spiegel genau reguliert ist, wissen wir noch nicht im Detail. Ungünstige Ernährungsgewohnheiten und unge-
nügende Sonnenlichtexposition könnten durchaus eine Rolle spielen. Es ist zudem bekannt, dass Vitamin D eine Rolle spielt als Co-Faktor für die Insulinsekretion. Ein Vitamin-D-Mangel könnte deshalb die Glukosetoleranz reduzieren, die Insulinresistenz fördern und damit das Risiko für einen Typ-2-Diabetes erhöhen. Gerade adipöse Kinder sollten sich unbedingt viel an der frischen Luft bewegen – nicht nur, um ihr Körpergewicht zu normalisieren, sondern auch, weil ihr Körper an der Sonne die Gelegenheit hat, genügend Vitamin D zu produzieren, das sie brauchen, um ihren Stoffwechsel zu unterstützen.
Natürliche Nahrungsquellen für eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung mit beispielsweise 400 IE pro Tag zu finden, ist ja wirklich nicht einfach. Viele Kinder essen oft ungern Fisch, nicht alle mögen Milch oder Milchprodukte. Was tun? CB: Das kann tatsächlich schwierig sein; so gesehen ist es sicher einfacher, regelmässig – und mit der gebotenen Vorsicht, was die Dauer betrifft – die Nase kurz an die Sonne zu strecken.
Besten Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Claudia Reinke
Referenzen: – Carol L. Wagner, MD, Frank R. Greer, MD and the Section on Breastfeeding and Committee on Nutrition; Prevention of Rickets and Vitamin D Deficiency in Infants, Children, and Adolescents. PEDIATRICS Vol. 122 No. 5, November 2008, 1142–1152 (doi:10.1542/peds. 2008–1862). – Baehler P, Baenziger O, Belli D, Braegger C, Délèze G, Furlano R, Laimbacher J, Roulet M, Spalinger J, Studer P. Empfehlungen für die Säuglingsernährung 2008. SMF 2008; 8: 366–369 und Paediatrica 2008; 19: 19–24.
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