Transkript
EDITORIAL
Herausforderungen in der Suchtmedizin – eine Frage des Alters?
H erausforderungen in der Suchtmedizin können über die Lebensspanne betrachtet ganz unterschiedlich sein: Jugendliche und junge Erwachsene mit einem Risikokonsum psychotroper Substanzen und neu mit exzessivem Internetgebrauch oder mit beginnender Abhängigkeitserkrankung kommen oftmals nicht rechtzeitig in die Therapie. Dabei könnte eine frühzeitige Behandlung vielleicht helfen, eine Chronifizierung der Sucht mit ihren bekannten Folgeschäden zu verhindern. Die Realität zeigt leider, dass im Durchschnitt weniger als 10 Prozent der Betroffenen eine suchtspezifische Behandlung erhalten, und wenn sie in die Therapie kommen, dann erst nach ungefähr zehn Jahren. Dabei sind die Erfolge der Behandlungen viel besser als allgemein angenommen. Die Motivierende Gesprächsführung («Motivational Interviewing») ist für Suchterkrankungen evidenzbasiert und mittlerweile in fast allen psychiatrischen Institutionen etabliert (siehe S. 4). Auch die Sucht begleitenden komorbiden psychischen Störungen, wie die posttraumatische Belastungsstörung (siehe S. 10), werden eher diagnostiziert und können in der Regel auch sehr gut behandelt werden. Aber die jungen Patienten kommen nur bedingt in unsere Behandlungen. Woran liegt das? Ist der Leidensdruck nicht hoch genug? Bieten wir vielleicht nicht die richtigen Therapien an? Oder ist die «Selbstmedikation» mit ihren positiven Effekten auf das individuelle Erleben einfach zu stark? Junge Menschen sollten in die Therapie, wenn sich die schädlichen Auswirkungen der Sucht in Grenzen halten. In der Regel braucht es den Arztbesuch in diesem jungen Alter nicht. Und auch die Impulsivität ist – wenn noch nicht pathologisch und psychiatrisch auffällig – für viele Suchtphänomene ein Charakteristikum der Grenzerfahrungen junger Menschen. Für die Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung können sie im Einzelfall sogar sehr wertvoll sein. Für uns Suchttherapeuten muss es also eher darum gehen, diejenigen jungen
Patienten frühzeitig zu erkennen, die dringend einer Suchttherapie bedürfen.
Und dann später – bei den älteren Menschen? Wenn die Lebensstrecke sich im letzten Drittel befindet oder sich dem Ende neigt? Was passiert dann mit den süchtigen älteren und alten Menschen? Hier haben bereits die Erfolge der Substitutionsbehandlung und der medizinischen Versorgung, wie etwa die der Behandlung von HIV und jetzt verstärkt von Hepatitis C (siehe S. 15), zu einer höheren Lebenserwartung drogenabhängiger Patienten geführt. Die meisten Studien zeigen zwar, dass ältere alkohol- und drogenabhängige Patienten mehr körperliche Beschwerden als Jüngere haben, aber auch, dass sie weniger zusätzliche psychische Störungen aufweisen als jüngere Patienten. Bei den häufiger werdenden älteren Suchtpatienten stehen eine gute Prognose und gute therapeutische Möglichkeiten hingegen einem teilweise wenig ausgebauten und spezialisierten Behandlungsangebot gegenüber. Manchmal wird die Sucht im Alter auch einfach «vergessen» – erfahrene Kollegen gehen teilweise davon aus, dass Suchtbehandlungen im Alter grundsätzlich weniger Chancen auf Erfolg haben. Dabei haben wir es generell mit weniger Impulsivität und einer grösseren Therapiemotivation bei den älteren Suchtpatienten zu tun. Gemäss Studien bleiben ältere alkohol- und drogenabhängige Patienten auch länger in Therapie und können von einer suchtspezifischen Behandlung eher profitieren als Jüngere. Das ist sehr erfreulich. Wer hätte das erwartet oder gedacht? Ich wünsche Ihnen jetzt – ganz unabhängig vom Alter – eine informative und spannende Lektüre. G
PD Dr. med. Marc Walter Chefarzt Erwachsenen-Psychiatrische Klinik und
Stv. Klinikdirektor Privatkliniken Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
E-Mail: marc.walter@upkbs.ch
3/2016
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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