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SCHWERPUNKT
Erfolgsfaktoren und Stolpersteine
Hilfen für Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil erfolgreich aufgleisen
Studienergebnisse zeigen, dass gut gemeinte und innovative Unterstützung Familien mit einem psychisch kranken Elternteil oftmals nicht erreicht. In diesem Beitrag werden praktische Stolpersteine und Erfolgsfaktoren zur Aufgleisung von Hilfen für diese Familien benannt, auch für Kinder, die wegen eines psychisch kranken Elternteils in Pflegefamilien leben. Als Option für das konkrete klinische Vorgehen wird die «Multisystemische Therapie Kinderschutz» (MST-CAN) vorgestellt.
Von Stephanie Hefti, Bruno Rhiner und Marc Schmid
Bei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil kann sich die psychische Erkrankung stark auf die gesellschaftliche Teilhabe der Familien auswirken (1). Beispielsweise hängt die psychische Erkrankung eines Elternteils mit zahlreichen Belastungsfaktoren zusammen, darunter sozioökonomische Aspekte wie Armut, unzureichende Wohnverhältnisse, soziale Randständigkeit, niedriger Ausbildungsstand oder Arbeitslosigkeit (2). Für das Kind wirkt sich der spezifische Risikofaktor «elterliche psychische Erkrankung», je nach der Entwicklungsphase des Kindes, unterschiedlich aus. Trotz multipler Risiken und erhöhten familiären Belastungen entwickeln nicht alle Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil psychische Auffälligkeiten. Dennoch ist es von Bedeutung, dass hilfsbedürftige Familien Zugang zu angemessenen Hilfen haben. Die Studienergebnisse von Kölch und Kollegen (3) zeigen, dass die Hälfte der psychisch auffällig eingeschätzten Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil keine adäquate Unterstützung erhält. Für Familiensysteme mit Kindern, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, gibt es verschiedene Unterstützungsangebote, von niedrigschwelligen Angeboten über Patenschaften mit ehrenamtlichen Engagements bis zu Fremdplatzierungen. Trotzdem werden diese Unterstützungsangebote von betroffenen Familien selten in Anspruch genommen (4, 5). Ein wichtiger Grund dafür ist die grosse Sorge der Eltern, dass ihnen aufgrund von Schwierigkeiten im Zusammenhang mit ihrer psychischen Erkrankung das Sorge- oder das Obhutsrecht für ihre Kinder entzogen wird und diese allenfalls fremdplatziert werden. Weitere von den Eltern angegebene Gründe für die Nichtinanspruchnahme von Hilfen waren, dass ihnen die Angebote nicht bekannt oder die Kosten zu hoch
waren. Studien haben gezeigt, dass die Eltern die Versorgungssituation der Kinder als unbefriedigend bewerten (6). Vor allem Verwandte und Bekannte tragen viel zur Unterstützung dieser Familien bei.
Parentifizierung – wenn das Kind die Erwachsenenrolle übernimmt
Ist ein Elternteil von einer psychischen Erkrankung betroffen, sehen die Kinder die Bedürftigkeit der Eltern und möchten diese entlasten. Dabei kann es zu einem Rollentausch kommen, wobei die Kinder die Rolle des Elternteils oder des Partners übernehmen (2). Das Kind wird parentifiziert und orientiert sich an den Bedürfnissen des erkrankten Elternteils und der bedürftigeren Geschwister. Die eigenen kindlichen Bedürfnisse werden unterdrückt. Es übernimmt zunehmend Aufgaben, die nicht seinem Entwicklungsstand und Verantwortungsbereich entsprechen, und beschäftigt sich beispielsweise mit Finanzen, den Hausaufgaben der Geschwister, kocht Essen und managt die Termine der Mutter (7). Bei Familien mit Migrationshintergrund kann dieser Prozess durch die höhere Sprachkompetenz der Jugendlichen noch ausgeprägter sein. Diese Art der Verantwortungsübernahme kann adaptiv sein, wenn das Kind dabei nicht in seiner Entwicklung gefährdet ist und beispielsweise seine Leistungen anerkannt werden und es seinen Selbstwert oder seine Empathiefähigkeit steigern kann. Gelingt dies nicht, besteht bei Kindern und Jugendlichen die Gefahr, dass das Kind (vor allem die ältesten Kinder im Familiensystem) durch die Übernahme von elterlichen Aufgaben instrumentell (z.B. finanzielle oder organisatorische Angelegenheiten regeln) oder emotional (z.B. Partnerersatz, Ersatztherapeut) langfristig überfordert ist und eine solche Parentifizierung zu einer eingeschränkten Autonomieentwicklung, einer patho-
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«Wir können Kinder aus Familien nehmen, aber die Familien nicht aus den Kindern.»
R. Portengen
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Das Übernehmen von viel Verantwortung sollte auch als Kompetenz und Stärke des Kindes gesehen werden.
logischen Bindungsbeziehung sowie einer eingeschränkten Teilhabe des Kindes an der Lebenswelt der Gleichaltrigen beiträgt und deswegen als Hochrisikofaktor für psychische Erkrankungen gilt (7). Da das Übernehmen von viel Verantwortung schon in jungen Jahren bei vielen Kindern von psychisch kranken Eltern gut erlernt ist, sollte das auch (in einem adäquaten Mass) als Kompetenz und Stärke des Kindes gesehen werden. Passiert dies nicht, fühlt sich ein Kind nicht gesehen oder ernst genommen darin, was es für die Familie übernommen und für das Funktionieren der Familie beigetragen hat. Bei einer allfälligen Fremdplatzierung des Kindes müssen dessen Sorgen, wer sich nun um den Elternteil und die jüngeren Geschwister kümmert, sehr ernst genommen werden.
Erfolgsfaktoren und Stolpersteine: Wie sollten Hilfen aufgegleist werden?
Die Spannbreite möglicher Hilfsangebote für Familien mit einem oder zwei psychisch kranken Elternteilen ist erheblich. Die sehr heterogenen Angebote reichen beispielsweise von Kinderbetreuungsangeboten, welche die Familien im Alltag entlasten und Kinder gezielt bei ihren Entwicklungsaufgaben unterstützen können (z.B. Kindertagesstätten), über spezifische ambulante Angebote, welche die psychisch kranken Eltern stärken (8), bis zu ambulanten oder stationären psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen für die Kinder oder die Eltern. Bei all diesen Angeboten ist es entscheidend, die Interaktion zwischen Eltern und Kind bei der Behandlungs- und der Hilfeplanung adäquat zu berücksich-
Kasten 1: Tipps: Wie können Eltern von Hilfen überzeugt werden?
• Vermeiden von Kritik an den Eltern, sondern sie für die Bemühungen um das Wohl des Kindes loben.
• Das vergangene Engagement der Eltern wertschätzen und besorgt analysieren, in welchen Bereichen Entwicklungsaufgaben dennoch nicht erreicht werden können.
• Die Teilhabebeeinträchtigung ressourcenorientiert beschreiben – so oft wie möglich das Zauberwort «noch nicht» benutzen. Den pädagogischen Bedarf des Kindes so detailliert und verhaltensnah wie möglich beschreiben.
• Die anstehenden Entwicklungsaufgaben und die Zukunftswünsche der Eltern für das Kind und ihre diesbezüglichen Sorgen «zementieren».
• Die Bedeutung der elterlichen Beziehung für das Kind betonen. Entlastung der Beziehung vom Erziehungsalltag führt oft zu nachhaltiger Verbesserung der ElternKind-Beziehung.
• Ausführlich und fallbezogen über die Unterstützungsmöglichkeiten der aversiven Hilfen informieren. Es ist von Vorteil, die Hilfen zu kennen und gegebenenfalls regelmässig Kontakt zu den triagierenden Stellen zu haben.
• Die Hindernisse der Eltern erfragen und sich dafür interessieren; diese Argumente ernst nehmen.
• Die (allenfalls) stationäre Massnahme als Übergang und Chance für maximale Unterstützung zu einer entwicklungspsychologisch wichtigen Zeit definieren.
• Aktiv benennen, wie schwer dieser Schritt ist.
tigen (9). Das eingreifendste Hilfsangebot ist die längerfristige Fremdplatzierung des Kindes (sozialpädagogische Wohngruppe oder Pflegefamilie). Bei der Aufgleisung von Hilfen bergen die unterschiedlichen Finanzierungssysteme der Hilfsangebote die Gefahr von Delegationsketten und Verschiebebahnhöfen, erlauben aber im günstigen Fall ein Gesamtpaket intensiver Hilfen zu schnüren und verschiedene Interventionen zu kombinieren.
Der richtige Zeitpunkt
Wann der richtige Zeitpunkt ist, um in Familien mit einem psychisch kranken Elternteil Hilfen zu installieren, kann nicht so einfach beantwortet werden – grundsätzlich ist aber zu empfehlen, Hilfen so früh wie möglich aufzugleisen. Teilweise werden Hilfen leider erst dann installiert, wenn es bereits zu Eskalationen gekommen ist, das fragile Familiengefüge zusammenbricht oder Kinder sehr auffällige Verhaltensweisen zeigen und in schwere Krisen geraten. Häufig kommen in solchen Situationen entsprechend intensive Hilfen zum Einsatz, die eine schnelle Entlastung und eine sofortige Sicherung des Kindeswohls versprechen. Dies können beispielsweise Fremdplatzierungen sein oder stationäre Behandlungen in der Erwachsenen- oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Um langfristige Folgen bei den Familien, Eltern oder Kindern zu verhindern, wäre es sehr wünschenswert, diesen Familien in einem früheren Stadium Hilfen zukommen zu lassen, welche so massive Eingriffe nicht nötig machen würden oder welche die Familie in Krisen gut begleiten können.
Eltern aktiv einbeziehen
Zum Gelingen installierter Hilfen für die Familie hat sich gezeigt, dass jene langfristig Erfolg versprechend waren, bei denen die Eltern aktiv miteinbezogen wurden. Bei Familien mit psychisch kranken Eltern sind diese Prozesse wesentlich komplexer als bei Familien ohne psychisch erkrankten Elternteil, da sich gerade parentifizierte Kinder sehr in der Verantwortung für ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister fühlen und die Eltern ihre Kinder oft zur emotionalen Stabilisierung und Bewältigung ihres Alltags benötigen, sodass diverse Hindernisse überwunden werden müssen. Die Eltern werden häufig durch die installierten Hilfen in einer neuen Art und Weise mit ihrer Erkrankung konfrontiert. Sie können sich durch die neuen Angebote in ihrer Elternrolle angegriffen fühlen, wenn sie beispielweise das Gefühl haben, die Bedürfnisse ihres Kindes würden in einer Pflegefamilie besser erfüllt werden. Die Akzeptanz der Hilfen durch die Eltern trägt wesentlich dazu bei, dass positive Veränderungen zugelassen werden können, vom Kind aber auch von der gesamten Familie. Insbesondere im Fall von Fremdplatzierungen ist es für Eltern und Kinder wichtig, ein entsprechendes Narrativ über die Notwendigkeit einer Hilfsmassnahme zu erarbeiten. Dies erfolgt am besten, indem ein gemeinsamer Satz für Eltern und Kinder entwickelt wird, mit welchem auf Nachfragen von Nachbarn, Mitschülern und Kollegen geantwortet werden kann (10).
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Häufig sind Tabuisierung der psychischen Erkrankung oder die Stigmatisierung der Familie grosse Hürden, welche die Familien überwinden müssen, um Hilfen zu fordern. Hier wäre das niederschwellige und empathische Nachfragen durch den Kinderarzt, ob die Familie Hilfen oder Unterstützung wünschen würde, sicherlich hilfreich. Der Kinderarzt könnte so den Familien den Zugang zu Hilfsangeboten erleichtern. Es sind die Kinderärzte und -ärztinnen, die häufig in direktem Kontakt mit der Familie stehen, auch wenn die Familie den Kontakt zu anderen Angeboten nicht aufrechterhalten kann. Auf Augenhöhe mit den Eltern zu kommunizieren und die gemeinsame Sorge um das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen, könnte Erfolg versprechend sein, um Hilfsangebote zu installieren (Tipps siehe Kasten 1).
Das passende Hilfsangebot finden
Egal, an welchen Ansprechpartner des Helfernetzes sich die Eltern wenden, es wäre wichtig, dass sie die für sie passgenaue Unterstützung oder Tipps erhalten, wie sie schnell, sicher und ohne Umwege zu den für sie richtigen Hilfsangeboten kommen. Dafür braucht es jedoch eine enge vertrauenswürdige Kooperation der bestehenden Stellen mit Hilfsangeboten, die sehr gut über andere Hilfsangebote und Anlaufstellen informiert sein sollten und die Bereitschaft zeigen, für die Familien eine gemeinsame Verantwortung im Helfersystem zu tragen. In der Praxis steigt die Akzeptanz eines Angebotes durch die Familie, wenn die Eltern mit einer Stelle in Kontakt treten können, bei deren Angebot es nicht ausschliesslich um ihre Erkrankung und deren Einflüsse auf das Kind oder die Familie geht, sondern gleichzeitig die Möglichkeit besteht, Fragen zur Erziehung oder zu Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihrem Kind besprechen zu können. Hierfür wäre beispielsweise eine In-House-Sprechstunde in erwachsenenpsychiatrischen Einrichtungen von enormer Wichtigkeit, um Brücken zwischen den Behandlern der Eltern und jenen der Kinder zu bauen. Als riesige Herausforderung erweist sich hier die sichergestellte langfristige Finanzierung solcher Angebote. Hierfür finden Wagenblass und Schone (11) eine schöne Metapher: «Für die Brücken fühlt sich keiner zuständig.» So schieben sich bei diesem Brückenangebot zwischen Erwachsenen- und Kinderbehandlung die jeweiligen Geldgeber die Verantwortung zu, was folglich dazu führt, dass den Betroffenen ein wichtiges Angebot vorenthalten bleibt.
Eine mögliche Hilfe: MST-CAN in der Schweiz
Die eigene psychische Störung der Eltern kombiniert mit den Erziehungsaufgaben können sehr belastend sein und dazu führen, dass die Kinder nicht mehr angemessen versorgt werden. In diesen Fällen steigt das Risiko für Misshandlungen oder Vernachlässigung (2). Bei betroffenen Familien sind dann Einzeltherapien und Erziehungsberatungen nicht mehr ausreichend. Ist das Kindeswohl gefährdet, erweist sich der Fremdplatzierungsprozess als sehr schwierig. Wenn die Eltern diesbezüglich ambivalent bleiben,
wäre die «Multisystemische Therapie Kinderschutz» (MST-CAN) ein mögliches und wichtiges Angebot. Bei der multisystemischen Arbeit in MST-CAN wird das Augenmerk stark darauf gerichtet, alle beteiligten Systeme wie beispielsweise Behörden, Schulen, Verwandte, bereits installierte Therapeuten der Eltern, der Kinder oder der Geschwister zusammenzubringen und die Informationen all dieser Systeme in die Behandlung der betroffenen Kinder und ihrer Familien einfliessen zu lassen. Bei MST-CAN wird somit ein wesentlicher Kritikpunkt in der sonstigen Betreuung von psychisch kranken Eltern und ihren Familien und Kindern ins Zentrum der Behandlung gerückt: die Vernetzung aller an der Versorgung und Behandlung der Familien beteiligten Systeme und deren Koordination. In den Kantonen Thurgau und Basel wurde MST-CAN erstmals im deutschsprachigen Raum etabliert und kulturell angepasst eingeführt. Familien mit psychisch kranken Eltern sowie auch die von Misshandlung und Vernachlässigung bedrohten Kinder werden in einer intensiven, mehrere Monate andauernden, aufsuchenden Familientherapie mit evidenzbasierten Therapiemethoden familien-, einzel- und traumatherapeutisch behandelt (Übersicht zur MST-CAN-Behandlung siehe Kasten 2). Im aufsuchenden Setting wer-
Der Kinderarzt ist häufig ein wichtiger potenzieller Vermittler von Hilfsangeboten.
Kasten 2: Multisystemische Therapie Kinderschutz (MST-CAN)
Zuweisungskriterien für MST-CAN • Familien, die wegen akuter Sorge um das Kindeswohl im Kontakt mit den dafür zu-
ständigen Behörden sind • Familien mit Kindern im Alter von 6 bis 17 Jahren mit Verhaltensauffälligkeiten bei
den Kindern und psychischen Erkrankungen bei den Eltern • familiäres Bezugssystem, das in die Behandlung einwilligt
Behandlungsziele bei den Kindern • weniger Verhaltensauffälligkeiten • verbesserte Leistungsbereitschaft in Schule/Ausbildung • weniger Symptome der traumatischen Belastung
Behandlungsziele bei den Eltern • Verbesserung der psychiatrischen Symptomatik • Aufbau einer emotional warmen Beziehung zu den Kindern • Verbesserung der elterlichen Erziehungskompetenz • Stärkung des sozialen Netzes um die Familie • Reduktion von physischer Gewalt und Aggression
Behandlung • Alle Familienmitglieder werden in die Behandlung eingeschlossen. • Alle beteiligten Systeme werden involviert, MST-CAN übernimmt die Koordination
der Helfer. • Behandlungszeit: 6 bis 9 Monate • Der Therapeut hat zirka 3 Termine pro Woche bei der Familie. • Das Team ist rund um die Uhr an jedem Tag der Woche erreichbar (Pikettdienst
24 h/7 Tage).
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Grundsätzlich sollte man Hilfen so früh wie möglich aufgleisen.
Das Narrativ: Eltern und Kinder sollten die Fremdplatzierung in einem Satz begründen können.
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den die Ressourcen der Familie gestärkt und aufgebaut, zudem wird intensiv an der Eltern-Kind-Interaktion gearbeitet (12). Die ersten randomisierten, kontrollierten Studien mit schwer erreichbaren Familien zeigen eine hohe Wirksamkeit der MST-CAN-Behandlung (13). Eine erste Studie in der Schweiz legt ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis von MST-CAN nahe (14).
Pflegeelternschaft bei Kindern psychisch kranker Eltern
Leider gibt es bis anhin noch keine systematischen Untersuchungen über die psychische Belastung der leiblichen Eltern in der stationären Jugendhilfe oder im Pflegeelternwesen. Wenn nicht direkt die leiblichen Eltern, sondern die Pflegeeltern oder Sozialpädagogen befragt werden, geben diese im Fremdurteil bei 50 Prozent der leiblichen Mütter psychische Erkrankungen oder Suchterkrankungen an (15). Bei vielen wissen sie es aber nicht. Für die Hilfsprozesse in der Jugendhilfe stellen psychisch kranke Eltern oft eine erhebliche Herausforderung dar, da sie einen spezifischen Zugang benötigen und sich oft in den herkömmlichen Angeboten wie Elterntraining und Elternabenden unverstanden und überfordert fühlen (16). Ein transparenter Umgang mit der Frage nach dem Hintergrund, unter welchem die Pflegeverhältnisse eingeführt wurden, trägt zum Erfolg der Massnahme bei. Erfolgreiche Verläufe zeigten sich, wenn die Kinder, die Pflegeeltern und die biologischen Eltern erwarteten, dass es sich um eine Langzeitplatzierung in einer Ersatzfamilie handelte und die Kinder die Möglichkeit hatten, eine Bindung mit ihren Pflegeeltern aufzubauen und gleichzeitig die Bindung zu den leiblichen Eltern zu erhalten. Wenn die Perspektive der Platzierung ungeklärt war, zeigten sich oftmals problematische Verläufe. In diesen Fällen kamen die Kinder in einen Loyalitätskonflikt zwischen Eltern und Pflegeeltern, in welchem die Kinder weder eine Beziehung zu ihren biologischen Eltern noch zu ihren Pflegeeltern aufbauen konnten. Die Erarbeitung eines Narrativs und die Anerkennung des Trennungsschmerzes für die Eltern-Kind-Beziehung ist besonders wichtig. Sowohl Eltern als auch Kinder sollten mit einer Geschichte die Fremdplatzierung begründen können. Für die Kinder ist es besonders wichtig, eine eigene Geschichte über die Hintergründe der Fremdplatzierung zu haben, da sie tagtäglich von anderen Kindern oder in der Schule durch die Lehrer mit diesem Thema konfrontiert werden. Auch die Eltern werden durch ihr Umfeld auf das Thema Fremdplatzierung angesprochen, und sie müssen sich den verschiedenen Akteuren (Grosseltern, Lehrern, Freunden etc.) erklären. Für das Kind und die Eltern ist es ausgesprochen wichtig, in eine solche Geschichte zu investieren, da sie auf Fragen in einem Satz eine Coverstory bereit hätten und nicht jedem die gesamte Geschichte preisgeben müssten. Pflegekinder Schweiz bietet für Pflegeeltern Kurse an, um dort den Umgang mit Kindern von psychisch kranken Eltern vertieft anzuschauen und die spezifischen Besonderheiten dieser Kinder kennenzulernen (Info: www.pflegekinder.ch).
Fazit
Bei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil ist es bei der Aufgleisung von Hilfen wichtig, dass dies klar mit Einbezug der Eltern und möglichst frühzeitig geschieht. Um diese Familien zu versorgen, ist eine Kooperation zwischen den verschiedenen Angeboten und Systemen des Unterstützungsnetzes für Familien unerlässlich. Es reicht nicht, nur innerhalb des psychiatrisch-psychotherapeutischen Systems zu agieren. Kinderärzte können hier als wichtige Brückenbauer fungieren. Innovative Versorgungsformen wie In-House-Sprechstunden sind für schwer erreichbare Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil von grosser Relevanz. Hiermit werden Schwellen, welche die Inanspruchnahme von behördlichen Hilfeleistungen verhindern können, gesenkt. MST-CAN als intensive Behandlungsform kann eine sehr hilfreiche Behandlungsalternative sein, welche evidenzbasierte psychotherapeutische Interventionen für Eltern und Kinder mit lebensweltorientierten Hilfen und einer Ressourcenaktivierung im Umfeld der Familien verbindet. Pflegeeltern und Sozialpädagogen in der Kinder- und Jugendhilfe sollten auf den Umgang mit psychisch kranken Eltern vorbereitet werden und Wissen über die häufigsten Störungsbilder und die Auswirkungen auf die Erkrankung besitzen, weshalb diese in Aus- und Weiterbildungen und Vorbereitungskursen für Pflegeeltern integriert werden sollten.
Korrespondenzadressen: Dr. Marc Schmid Leitender Psychologe UPK Basel E-Mail: marc.schmid@upkbs.ch M. Sc. Stephanie Hefti Wissenschaftliche Mitarbeiterin UPK Basel E-Mail: stephanie.hefti@upkbs.ch Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel Forschungsabteilung/Liaisonbereich Schanzenstrasse 13 4056 Basel
Dr. med. Bruno Rhiner Chefarzt KJPD Thurgau Schützenstrasse 15 8570 Weinfelden E-Mail: bruno.rhiner@stgag.ch
iteratur: 1. World Health Organization. (2002). World report on violence and health. www.who.int/violence_injury_ prevention/violence/world_report/en/. 2. Lenz A: Kinder psychisch kranker Eltern – Risiken, Resilienzen und Intervention. In: Kölch M, Ziegenhain U & Fegert JM (Hrsg.): Kinder psychisch kranker Eltern – Herausforderungen für eine interdisziplinäre Kooperation in Betreuung und Versorgung, 2014; Beltz Juventa, 40–79. 3. Kölch M et al.: Kinder psychisch kranker Eltern: psychische Belastung der Minderjährigen in der Beurteilung ihrer Eltern - Ergebnisse einer Befragung stationär behandelter Patienten mit dem SDQ. Nervenheilkunde 2008; 27: 527–532. 4. Hefti S et al.: Welche Faktoren beeinflussen, ob psychisch belastete Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil Hilfen erhalten? Kindheit und Entwicklung 2016; 25: 1–11. 5. Kühnis R et al.: Zwischen Stuhl und Bank – Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Hilfsangeboten für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2016; 65: 249–265.
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6. Schmid M et al.: Kinder psychisch kranker Eltern. Eine Befragung von stationär psychiatrisch behandelten Eltern. Methodik, Studienpopulation und Epidemiologie. Nervenheilkunde 2008; 27: 521–526. 7. Desch E: Parentifizierung. In Kupferschmid S, Koch I (Hrsg.): Psychisch belastete Eltern und ihre Kinder stärken – Ein Therapiemanual, 2014; Kohlhammer, 19–22. 8. Kupferschmid S, Koch I: Psychisch belastet Eltern und ihre Kinder stärken. Ein Therapiemanual. Kohlhammer, Stuttgart, 2014. 9. Kölch M, Schmid M: Elterliche Belastung und Einstellungen zur Jugendhilfe bei psychisch kranken Eltern: Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Hilfen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2008; 57: 774–788c. 10. Friedrich RI, Schmid M: Pflegefamilie oder Heim? Wann und für wen ist ein Leben ausserhalb der eigenen Familie sinnvoll? Pädiatrie 2014; 1: 25–29. 11. Wagenblass S, Schone R: Zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe – Hilfe- und Unterstützungsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern im Spannungsfeld der Disziplinen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2001; 50: 580–592. 12. Rhiner B, Schmid M, Fürstenau U: MST CAN – Multisystemische Therapie Child Abuse and Neglect. Ein evidenzbasiertes Therapieverfahren im Bereich Kinderschutz. Zeitschrift Kindesmisshandlung und Vernachlässigung 2012; 15: 112–125. 13. Swenson CC et al.: Multisystemic therapy for child abuse and neglect: A randomized effectiveness trial. Journal of Family Psychology 2010; 24: 497–507. 14. Pérez T et al.: Neue Wege im Kindesschutz: Wie kosteneffektiv ist MST-Kinderschutz (MST-CAN)? Eingereicht. 15. Pérez T et al.: Zusammenhang zwischen interpersoneller Traumatisierung, auffälligem Bindungsverhalten und psychischer Belastung bei Pflegekindern. Kindheit und Entwicklung 2011; 20: 1–11. 16. Schmid M: Kinder, deren Eltern unter einer psychischen Erkrankung leider – eine kooperative Herausforderung. In: Aktion Psychisch Kranke, Weiss P, Peukert R (Hrsg.): Seelische Gesundheit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen braucht Hilfe! 2011; Psychiatrie Verlag, 193–204.
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