Transkript
BERICHT
Auch alte Patienten haben das Recht auf eine besttolerierbare Therapie
Spezielle Herausforderungen durch geriatrische Patienten in der Onkologie
Auch bei hochbetagten Lymphompatienten ist eine Behandlung effektiv und machbar – wenn man weiss, auf welche Faktoren zu achten ist. Einen Überblick gaben Experten am interdisziplinären 2. Fachtag Onko-Geriatrie in Zürich.
Lydia Unger-Hunt
Die demografischen Trends sind bekannt: Der Prozentsatz der älteren Bevölkerung nimmt ebenso zu wie die Inzidenz der Lymphome; die Mehrheit der Lymphompatienten ist über 70 Jahre alt. «Dies ist sicher eine schwierig zu behandelnde, häufig komorbide Patientengruppe, deren Tumoren sich von denjenigen jüngerer Patienten schon allein durch die höhere Anzahl genetischer Mutationen und Alterationen unterscheiden», sagte Prof. Dr. Michele Ghielmini, ärztlicher Direktor des Onkologischen Instituts der Südschweiz (IOSI), einleitend zu seinem Vortrag. Bei der Betreuung dieser älteren Lymphompatienten stünden zwei Ängste im Vordergrund: «Erstens wollen wir eine Überbehandlung vermeiden, also dem Patienten nicht zu viel Therapie zumuten, die er nicht tolerieren kann. Zweitens wollen wir auch eine Unter-
behandlung vermeiden, also einem Patienten keine unzureichende Therapie verabreichen, nur weil er eben älter ist», präzisierte der Experte. Grundsätzlich sollte gelten: Der Patient, egal welchen Alters, hat immer das Recht auf die beste Therapie, die er tolerieren kann.
Unterbehandlung weitverbreitet
Klar ist allerdings auch, dass eine Unterbehandlung wesentlich häufiger ist als eine Überbehandlung. Kurz gesagt: «Je älter ein Patient ist, desto weniger wird er behandelt», berichtete Ghielmini von den Ergebnissen einer USAmerikanischen Studie mit Patienten mit B-Zell-Lymphom (BCL); ab einem Alter von über 85 Jahren liegt die Chance, überhaupt nicht behandelt zu werden, sogar bei 37 Prozent (1). Und selbst wenn Ältere behandelt werden, erhalten sie nicht unbedingt die optimale Therapie: Wie eine niederländische Studie mit BCL-Patienten zwischen 75 und 95 Jahren zeigte, erhalten Patienten umso seltener die effektive CHOP-Therapie (Cyclophosphamid, Doxyrubicin, Vincristin, Prednisolon), je älter sie sind. (2).
Vorgehen
bei älteren Krebspatienten
B-Zell-Lymphom Das diffuse grosszellige B-Zell-Lymphom (DLBCL) überleben Betroffene ohne Behandlung wenige Wochen bis Monate; bei aggressiver Behandlung ist
eine Heilung bei 50 bis 60 Prozent der Patienten möglich. Laut IOSI-Guidelines kommen als Erstlinientherapie Rituximab + CHOP (R-CHOP), Strahlentherapie sowie eine hochdosierte Chemotherapie (HDCT) beziehungsweise HD-Methotrexat in Betracht. Auch für Ältere gilt: Wer weniger als sechs Zyklen R-CHOP oder eine andere Chemotherapie erhält, hat ein schlechteres Überleben als sechsmal mit R-CHOP Behandelte, während bei Nichtbehandlung rasch der Tod eintritt – «daher ist diese Behandlung auch Älteren zu verabreichen» (2). Allerdings sollte die Therapie nach deutschem Vorbild bei Älteren mit einer Präphase eingeleitet werden, da die behandlungsassoziierte Mortalität und die Toxizität in den ersten Therapiezyklen am grössten sind. Das heisst: Der Patient erhält zunächst sieben Tage lang Vincristin und Prednisolon in niedriger Dosierung, erst danach wird die restliche Chemotherapie in voller Konzentration eingeleitet. «Mit diesem Vorgehen ist die Mortalität älterer und gebrechlicher Menschen stark gesunken.» Die Wirkstoffe selbst können ebenfalls angepasst werden: Bei einer (häufigen) kardialen Komorbidität kann beispielsweise Gemcitabin anstelle des Anthracyclins Doxorubicin eingesetzt werden (3). Und auch die autologe Transplantation bei Rezidiv ist bei Älteren durchaus möglich, wie eine japanische Studie gezeigt hat, «solange die Patienten gut ausgewählt werden» (4).
Mantelzelllymphom Das fortgeschrittene Mantelzelllymphom (MCL) ist derzeit unheilbar, das mediane Überleben liegt bei etwa fünf Jahren; auch bei intensiver Therapie ist die Prognose «nicht wirklich beeinflussbar». Die Therapie laut IOSI-Guidelines besteht aus R-CHOP (alternierend mit
ARS MEDICI 12 I 2016
549
BERICHT
O bei Älteren über 70 Jahre ist ihre Gebrechlichkeit (frailty) zu evaluieren
O Vermeidung von Über- und Unterbehandlung
O Wahl des besten Regimes O vor intensiven Regimes eine Präphase
durchführen O bei vulnerablen Patienten Regime in
reduzierter Dosis (75%) einleiten O mehr G-CSF und Antibiotikaprophy-
laxe als üblich einsetzen O Transfusionen O Anbieten häuslicher Betreuung.
Abbildung: Im interdisziplinären Behandlungsteam arbeiten Arzt, Patient, Apotheker und Pflege optimal zusammen (Quelle: Dartsch).
R-DHAP [Rituximab + Dexamethason, Ara-C-Cytarabin, Cisplatin); bei Rezidiv kommen autogenes oder allogenes Transplantat, Ibrutinib oder Bortezomib zum Einsatz. Ghielmini: «Hier ist eine Alternative für Ältere nicht unbedingt notwendig. Denn die alternierende Behandlung ist bereits weniger intensiv als R-CHOP allein und hat bei Jüngeren ein ähnliches Gesamtüberleben wie die intensivere Therapie mit R-CHOP gezeigt» (5). Zusätzlich wurde nachgewiesen, dass Rituximab + Bendamustin ebenso gut wirkt wie R-CHOP, aber viel weniger Nebenwirkungen aufweist (6). Daher sei «bei älteren MCL-Patienten diese Kombination als Standard zu erwägen.»
Follikuläres Lymphom Beim follikulären Lymphom beträgt das mediane Überleben etwa 15 Jahre, es ist damit trotz der Unheilbarkeit eine indolente Erkrankung mit einer hohen Lebenserwartung. «Die Lebensqualität ist daher bei jeder Form der Therapie sehr wichtig.» Dementsprechend besteht die Erstlinientherapie bei niedriger Tumorbelastung aus «watch and wait», bei hoher Tumorbelastung kommen je nach Malignitätsgrad RituximabMonotherapie oder Rituximab-Bendamustin, Rituximab-Chlorambucil und R-CHOP zum Einsatz. Für Ältere gilt: «Wir wissen, dass sie R-CHOP grundsätzlich tolerieren kön-
nen. Aber die Krankheit ist nicht heilbar, die Prognose ist lang, müssen wir wirklich an der toxischen Behandlung festhalten?» Denn aus einer italienischen Studie ist beispielsweise bekannt, dass auch andere Regime mit Rituximab (Fludarabin + Mitoxantron, Cyclophosphamid + Vincristin + Prednisolon) zu ähnlichen Überlebensraten führen (7).
Chronisch-lymphatische Leukämie Wie sieht es bei der chronisch-lymphatischen Leukämie (CLL) aus, einer klaren Erkrankung der Älteren (laut DGHO Onkopedia 2014 ist die Mehrheit der Patienten über 70 Jahre alt). Für Patienten über 65 Jahre sollte anstelle des für Jüngere üblichen FCR (Fludarabin, Cyclophosphamid, Rituximab) eher Bendamustin + Rituximab (BR) als Standard eingesetzt werden: Laut einer am ASH-Kongress 2014 von Eichhorst et al. vorgestellten Studie haben beide Regime ähnliche Überlebensraten, jedoch ist unter FCR eine 50-prozentige Infektionsrate zu beobachten, dies im Gegensatz zu einer 20-prozentigen unter BR. «Für Patienten, die Bendamustin nicht vertragen, kann Chlorambucil mit entweder Rituximab oder Obinotuzumab kombiniert werden.»
Altersgrenze
bei der Therapie aufgehoben?
Grundsätzlich ist bei älteren Lymphompatienten zu beachten:
Eine Altersgrenze scheint bei der Behandlung älterer Krebspatienten jedenfalls nicht mehr wirklich zu existieren. Eine französische Studie umfasste beispielsweise 234 Lymphompatienten, die älter als 90 Jahre waren (8). «Bei indolenten Lymphomen war das Überleben mit oder ohne Therapie gleich, doch bei aggressiver Erkrankung hatten auch diese betagten Patienten unter einer Therapie ein besseres Überleben», schloss Ghielmini.
Multimorbid und polypharmaziert
Ältere Krebspatienten sind, wie anfangs erwähnt, häufig multimorbid. Damit war das nächste Thema der Fachtagung vorgegeben: die Polymedikation oder die Polypharmazie. Sie ist bei den meisten dieser Patienten «so gut wie unvermeidbar», betonte Dr. pharm. Dorothee C. Dartsch vom Campus Pharmazie in Hamburg. Welche Daten gibt es zur Polymedikation bei onkologischen Patienten? Eine Studie an einem ambulanten onkologischen Zentrum untersuchte knapp zehn Jahre lang rund 250 Krebspatienten mit einem Durchschnittsalter von 80 Jahren. Die Patienten litten durchschnittlich zusätzlich zu ihrer Krebserkrankung an 7,7 weiteren Erkrankungen, vor allem im kardiovaskulären (> 90% der Patienten), im rheumatischen (> 60%) oder im endokrinologischen Bereich (knapp 50%) (9). Die Prävalenz einer Polypharmazie (definiert als 5 bis 9 Arzneimittel) betrug in diesem Patientengut 41 Prozent, die Prävalenz einer exzessiven Polypharmazie (> 9 Arzneimittel) lag bei 43 Prozent. Polymedikation ist allerdings «nicht per se schlecht», schränkte Dartsch ein. Sie ist vielmehr immer dann vertretbar, wenn
550
ARS MEDICI 12 I 2016
BERICHT
O jedes Arzneimittel angemessen ist (d.h., es besteht ausreichende Evidenz, dass der Wirkstoff mehr Nutzen als Risiken hat)
O Verordnungskaskaden vermieden werden (unerwünschte Nebenwirkungen [UAW] eines Medikaments werden nicht erkannt, sondern als Krankheit eingestuft, dagegen wird das nächste Arzneimittel eingesetzt, das UAW auslöst, etc.)
O immer die niedrigste wirksame Dosis gewählt wird (Niere, Leber)
O schädliche Wechselwirkungen vermieden werden, («die onkologische Medikation darf nicht negativ beeinflusst werden»)
O jeweils das Arzneimittel mit der besten geriatrischen Verträglichkeit eingesetzt wird
O keine UAW auftreten – («und falls doch, muss man sich Alternativen überlegen»).
Beispiele für mögliche Wechselwirkungen zwischen onkologischer Therapie und anderweitiger oraler Behandlung sind: die Beeinflussung des Cumarinmetabolismus durch die onkologische Behandlung, womit eine verstärkte Antikoagulation ausgelöst wird; die verstärkte Wirkung von Vincristin bei gleichzeitiger Gabe von Azol-Antimykotika; die verstärkte Toxizität von MTX unter NSAR sowie der Wirkverlust der Tyrosinkinasehemmer unter Protonenpumpenhemmern (10, 11).
Weniger beachtete Folgen
Die Multimorbidität habe zudem weitere, vielleicht weniger beachtete Folgen, machte Dartsch aufmerksam. Laut der oben erwähnten Untersuchung über Polypharmazie bei Krebspatienten leiden rund 13 Prozent an einer chronischen Niereninsuffizienz, die eine Dosisanpassung erforderlich macht; 10 Prozent leiden an Alzheimer, womit die Therapietreue gefährdet ist; 51,2 Prozent haben eine Osteoarthritis und damit möglicherweise Probleme, Packungen oder Schraubverschlüsse zu öffnen, Tabletten aus einer Blisterpackung herauszubekommen oder diese Tabletten vielleicht noch teilen zu müssen; und bei 27,4 Prozent liegen Augenerkrankungen vor, die das Lesen der Anweisungen erschweren oder unmöglich machen. Trotz aller dieser Punkte sehen viele Patienten eine orale Krebstherapie als Vorteil: Sie ist bequem, erfordert weniger Arztbesuche und gilt als flexibler, alles in allem wird damit eine bessere Lebensqualität verbunden. Ärzte hingegen verweisen auf das schwierigere Therapieüberwachen bei selteneren Patientenbesuchen. Die Lösung besteht laut Dartsch aus einem interdisziplinären Behandlungsteam (siehe Abbildung), «mit dem Onkologen an zentraler Stelle,
umgeben von einem fachärztlichen
Konzil, bestehend aus Kardiologen
oder Diabetologen, Ernährungsbera-
tung, Pflegekräften zum geriatrischen
Assessment sowie Apothekern. «Denn
viele der älteren onkologischen Patien-
ten haben eine Stammapotheke. Und
das ist eine enorme Chance für uns,
alle Fäden zusammenzuziehen und die
Patienten damit insgesamt besser be-
treuen zu können.»
O
Lydia Unger-Hunt
Quelle: 2. Interdisziplinäre Fortbildungsplattform onko. geriatrie 2015, Zürich-Oerlikon, 21. November 2015.
Literatur: 1. Hamlin P et al.: Treatment patterns and comparative
effectiveness in elderly diffuse large B-cell lymphoma patients: a surveillance, epidemiology, and end results-medicare analysis. The Oncologist 2014; 19 (12):1249–1257. 2. Van de Schans SA et al.: Two sides of the medallion: poor treatment tolerance but better survival by standard chemotherapy in elderly patients with advancedstage diffuse large B-cell lymphoma. An Oncol 2012; 23: 1280–1286. 3. Fields PA et al.: De novo treatment of diffuse large B-cell lymphoma with rituximab, cyclophosphamide, vincristine, gemcitabine, and prednisolone in patients with cardiac comorbidity: a United Kingdom National Cancer Research Institute trial. J Clin Oncol 2014; 32: 282–287.
4. Chihara D et al.: Association between decreasing trend in the mortality of adult T-cell leukemia/lymphoma and allogeneic hematopoietic stem cell transplants in Japan: analysis of Japanese vital statistics and Japan Society for Hematopoietic Cell Transplantation (JSHCT). Blood Cancer J 2013; 3:e159. doi: 10.1038/bcj.2013.57.
5. Hermine O et al.: Abstr. 86 12-ICML in Lugano 2013. 6. Rummel MJ et al.: Bendamustine plus rituximab ver-
sus CHOP plus rituximab as first-line treatment for patients with indolent and mantle-cell lymphomas: an open-label, multicentre, randomised, phase 3 noninferiority trial. Lancet 2013; 381 (9873): 1203–1210. 7. Federico M et al.: R-CVP versus R-CHOP versus R-FM for the initial treatment of patients with advancedstage follicular lymphoma: results of the FOLL05 trial conducted by the Fondazione Italiana Linfomi. J Clin Oncol 2013; 31 (12): 1506–1513. 8. Trebouet A et al.: Lymphoma occurring in patients over 90 years of age: characteristics, outcomes, and prognostic factors. A retrospective analysis of 234 cases from the LYSA. Ann Oncol 2013; 24: 2612–2618. 9. Nightingale G et al.: Evaluation of a pharmacist-led medication assessment used to identify prevalence of and associations with polypharmacy and potentially inappropriate medication use among ambulatory senior adults with cancer. J Clin Oncol 2015; 33: 1453–1459. 10. Popa MA et al.: Potential drug interactions and chemotoxicity in older patients with cancer receiving chemotherapy. J Geriatr Oncol 2014; 5: 307–314. 11. Van Leeuwen RW et al.: Prevalence of potential drugdrug interactions in cancer patients treated with oral anticancer drugs. British J of Cancer 2013; 108: 1071–1078.
ARS MEDICI 12 I 2016
551