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FORTBILDUNG
Psychiatrische Traumafolgestörungen: Wann Stabilisierung, wann Exposition?
Gemäss verfügbarer wissenschaftlicher Evidenz haben Behandlungsansätze, welche sich konfrontativ mit den traumatischen Ereignissen auseinandersetzen, die beste Wirksamkeit bei einer posttraumatischen Belastungsstörung. Daten zur Evidenz von Stabilisierungsbehandlungen fehlen bis anhin jedoch weitgehend. Welche Faktoren aus theoretischer und empirischer Sicht für oder gegen die Notwendigkeit einer umfassenderen Stabilisierungsphase im Rahmen einer traumafokussierten Behandlung sprechen, wird im Beitrag dargelegt.
Christoph Mueller-Pfeiffer
Christoph Mueller-Pfeiffer 1,2,3
E in Trauma wird in der aktuellen vierten Version des «Diagnostischen und Statistischen Handbuches Psychischer Störungen» (DSM-IV, American Psychiatric Association, 1994) definiert als ein «Ereignis, das eine Person erlebte oder beobachtete und welches mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung oder einer Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen einherging» (Kriterium A1). Die emotionale Reaktion auf das Ereignis muss gekennzeichnet sein durch «intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen» (Kriterium A2). Allgemein kann zwischen Traumatisierungen als Folge von Naturkatastrophen oder technischen Ereignissen (z.B. Unfällen) einerseits und durch Menschen verursachten Traumata (z.B. physischer oder sexueller Angriff ) andererseits unterschieden werden, wobei Letztere schwieriger zu bewältigen sind und häufiger eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge haben (1). Des Weiteren wurde von Terr (2) die Unterscheidung in traumatische Einzelereignisse (sog. Typ-ITraumata) und wiederholte oder länger anhaltende
Merksätze:
● Die konfrontative Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis ist gemäss vorliegender wissenschaftlicher Evidenz die wirksamste Behandlung bei der posttraumatischen Belastungsstörung und sollte bei vorhandener Bereitschaft des Patienten angestrebt werden.
● Bei Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen sollten adaptierte Verfahren zur Exposition angewendet werden.
● Eine Stabilisierung ist notwendig, wenn die Belastungen einer Traumaexposition die individuelle Stresstoleranz (window of tolerance) zu überfordern drohen.
Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend (sog. Typ-II-Traumata) vorgeschlagen. Typ-II-Traumatisierungen wie sexuelle oder physische Gewalterfahrungen können bedeutsame Einwirkungen auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung haben (3).
Behandlungsrichtlinien für Traumafolgestörungen Seit der offiziellen Aufnahme der Diagnose «Posttraumatische Belastungsstörung» (PTBS) ins DSM wurde eine beträchtliche Anzahl gut kontrollierter Studien zur Behandlungseffektivität verschiedener therapeutischer Verfahren bei der PTBS durchgeführt (11). Gemäss der bisherigen Datenlage scheinen psychotherapeutische Behandlungsansätze, welche eine direkte Bearbeitung des traumatischen Ereignisses anstreben, sowohl den nicht traumafokussierten Psychotherapien wie auch der Psychopharmakotherapie überlegen zu sein (12).
Die Traumaexposition Es gibt verschiedene strukturierte Vorgehensweisen zur Traumaexposition. Empirisch am besten belegt sind kognitiv-behaviorale Ansätze, welche auf dem Wirkprinzip der Habituation und der Löschung durch kognitive Neubewertung der Auslösereize beruhen. Die bekanntesten kognitiv-behavioralen Verfahren sind die prolongierte Exposition nach Foa (13), die Cognitive Processing Therapy von Resick (14) und die kognitive Therapie von Ehlers (15). Ein ebenfalls gut belegtes psychotherapeutisches Verfahren ist Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) (16), dessen Grundprinzip auf der Anwendung bilateraler Stimulationen mittels Augenbewegungen oder akustischer oder taktiler Reize beruht. Mit der «sensomotorischen Psychotherapie» (17) wurde ein körperorientiertes Verfahren entwickelt, das einen Zugang zum Traumagedächtnis nicht via Kognitionen oder Affekte sucht, sondern durch die achtsame Wahrnehmung und Ver-
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vollständigung motorischer Handlungsimpulse, welche im traumatischen Ereignis blockiert oder unterbrochen wurden.
Die Stabilisierung Insbesondere im deutschen Sprachraum hat sich in den letzten Jahren in der klinischen Versorgung von Patienten mit Traumafolgestörungen vor allem bei Betroffenen komplexer Traumatisierungen ein phasenorientiertes Behandlungsmodell etabliert, welches den Schwerpunkt auf eine Stabilisierungsphase legt, in der die Grundlagen für eine erfolgreiche Traumabearbeitung gelegt werden sollen (9, 18). Im Gegensatz zur Expositionsbehandlung, deren Wirksamkeit bei der PTBS empirisch gut belegt ist, gibt es bisher jedoch nur wenige Studien, welche die Wirksamkeit oder Notwendigkeit stabilisierender Interventionen untersuchten. Die entsprechenden Behandlungsempfehlungen, die vor allem aus der Praxis der Therapie von komplexen Traumafolgestörungen entwickelt wurden, müssen somit als provisorisch erachtet werden. Neben einer Stabilisierung der äusseren Situation (kein Täterkontakt, keine fortgesetzten missbrauchenden Beziehungen, stabile psychosoziale Situation) liegt der Fokus in der Stabilisierungsphase auf den spezifischen Schwierigkeiten in der Emotions- und Impulskontrolle sowie der Beziehungsgestaltung, die Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen aufweisen. Das übergeordnete Ziel dieser Bemühungen ist es, den Betroffenen zu ermöglichen, die durch die Traumaexposition induzierte physiologische und emotionale Erregung im Rahmen des individuellen Toleranzrahmens (window of tolerance) zu halten. Die besondere Berücksichtigung dieser individuellen Stresstoleranz in der Traumatherapie geht zurück auf die Beobachtung, dass viele Traumatisierte zwei charakteristische Arten von Stressreaktionen auf traumatische Hinweisreize aufweisen: einen als überwältigend erlebten Zustand einer akuten physiologischen und emotionalen Übererregung (Hyperarousal) und einen Zustand der emotionalen Betäubung und Distanzierung, der charakteristischerweise mit einer physiologischen Untererregung (Hypoarousal) einhergeht. Befunde aus der bildgebenden Forschung liefern Hinweise dafür, dass beide Zustände mit einer Dysfunktion in Teilen des Präfrontalhirns einhergehen könnten und damit möglicherweise die kognitive Verarbeitung und Integration der aktivierten Traumaerinnerungen während einer Expositionsbehandlung beeinträchtigen (17). Durch die Stabilisierungsarbeit soll nicht nur verhindert werden, dass die Traumakonfrontation wirkungslos bleibt, sondern auch, dass es zu einer Symptomexazerbation und Destabilisierung mit möglicherweise gefährlichen Sekundärfolgen wie parasuizidalem oder suizidalem Verhalten kommt. Die traumatherapeutische Stabilisierung entspricht in starkem Masse einem ressourcenorientierten Therapieansatz. Durch Aktivierung und Ausbau von Ressourcen, die wichtige Wirkprinzipien in Psychotherapien generell darstellen (19), sollen spezifisch die notwendigen Ressourcen etabliert werden, um die Konfrontation mit den traumatischen Erinnerungen erfolgreich bewältigen zu können. Der Vorschlag eines phasenorientierten Behandlungsansatzes bei komplexen Traumafolgestörungen ist
nicht neu und wurde bereits vom französischen Psychiater Pierre Janet (1859–1947) formuliert, der sich als einer der Ersten systematisch mit den psychologischen Folgen traumatischer Erfahrungen auseinandersetzte (20). Später wurde dieser Ansatz vor allem für Opfer von Typ-II-Traumatisierungen empfohlen (21) und fand auch Eingang in die Behandlungsrichtlinien von traumaassoziierten dissoziativen Störungen, wie sie die International Society for the Study of Trauma and Dissociation (www.isst-d.org) verfasst hat. Die in der hiesigen klinischen Versorgung verbreitete Betonung auf der Stabilisierungsarbeit und die Zurückhaltung gegenüber traumafokussierten Ansätzen bei Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen kam in letzter Zeit vermehrt in die Kritik (22). Es wurde auf das weitgehende Fehlen empirischer Daten hingewiesen, die eine längere Phase stabilisierender Interventionen vor einer Traumabearbeitung als notwendig und sinnvoll erachten lassen. Es wird gar gewarnt, dass durch die therapeutische Zurückhaltung bezüglich traumakonfrontativer Verfahren den Betroffenen wirksame Behandlungsoptionen vorenthalten werden. Andererseits äussern Befürworter eines phasenorientierten Behandlungsansatzes Bedenken, ob die Schlussfolgerungen aus den Resultaten der PTBS-Behandlungsstudien korrekt sind, da die Studienteilnehmer möglicherweise kein repräsentatives Abbild der traumatisierten Patienten im klinischen Alltag darstellen (23) oder die Abbruchraten unter Studienteilnehmern einer Traumaexpositionsbehandlung höher sein könnten als bei weniger belastenden Therapien (24). Offen ist auch die Frage, ob Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen die Kriterien einer PTBS immer erfüllen und damit für eine PTBS-Therapiestudie qualifizieren, wenn beispielsweise traumabedingte dissoziative Symptome im Vordergrund des Beschwerdebildes stehen.
Diagnostik und differenzielle Indikationsstellung Diagnostik Die Traumaanamnese kann sowohl in der offenen psychiatrischen Exploration als auch mithilfe von Fragebogen wie Posttraumatic Diagnostic Scale (25), Traumatic Experiences Checklist (26) oder Childhood Trauma Questionnaire (27) erhoben werden1. Von möglicher Bedeutung ist die Unterscheidung, ob es sich bei den traumatischen Ereignissen um Einzelereignisse (Typ-ITraumata) oder wiederholte beziehungsweise länger anhaltende Ereignisse in Kindheit/Jugend (Typ-II-Traumata) handelt. Diese Unterscheidung stellt für sich allein allerdings noch keine genügende Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine Traumaexpositionsbehandlung dar. In einem weiteren Schritt sollte geprüft werden, inwiefern berichtete traumatische Ereignisse einen relevanten Faktor für Entstehung oder Aufrechterhaltung der vorliegenden psychischen Störung sowie eine aktuelle Einschränkung der Lebensqualität darstellen. Bei traumaassoziierten Störungen im engeren Sinne wie der PTSB liegt dies auf der Hand, doch wie
1 Sämtliche in diesem Abschnitt aufgeführten Instrumente oder deren Bezugsquellen sind auf Anfrage beim Autor erhältlich.
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oben ausgeführt kann eine traumatische Genese auch bei anderen psychischen Störungen eine Rolle spielen. Häufig können die Betroffenen selber gut abschätzen, wie weit die früheren belastenden Ereignisse im heutigen Alltag und Erleben noch eine Rolle spielen. Eine Reihe von (semi-)strukturierten diagnostischen Interviews stehen zur Verfügung für eine systematische Prüfung auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (Clinician-Administered PTSD Scale, CAPS [28]), einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (Interview zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, IK-PTBS [29]) und einer komorbiden dissoziativen Störung (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV Dissoziative Störungen, SKID-D [30]). Selbstbeurteilungsfragebogen wie der Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (31) eignen sich, um das Vorhandensein einer klinisch relevanten Dissoziationsneigung zu prüfen. Eine zeitökonomische traumatherapeutische Basisdiagnostik kann beispielsweise mit dem PDS- und dem FDS-Selbstbeurteilungsfragebogen durchgeführt werden.
Indikation für Stabilisierung Falls traumatische Lebensereignisse einen relevanten Faktor für das gegenwärtige Beschwerdebild darstellen und damit ein traumatherapeutisches Vorgehen sinnvoll machen, ist die korrekte Indikationsstellung für eine Stabilisierung versus Traumaexposition von essenzieller Bedeutung. Welche Faktoren sprechen für die Notwendigkeit einer vorgängigen Stabilisierungsarbeit? Leitprinzip für die Indikationsstellung ist die Einschätzung, ob es dem Patienten möglich ist, sich mit den Traumaerinnerungen innerhalb der individuellen Stresstolerenz (window of tolerance) therapeutisch kontrolliert zu konfrontieren und er auch nach der Sitzung über genügend Ressourcen verfügt, um sich zu erholen und Nachwirkungen der Expositionssitzungen bewältigen zu können. Grundvoraussetzungen dafür sind eine genügende Sicherheit in der äusseren, psychosozialen Situation, der therapeutischen Arbeitsbeziehung und den psychischen Möglichkeiten zur Kontrolle von Emotionen und Impulsen. Persistierende Gewalterfahrungen im Alltag, zum Beispiel in der Partnerschaft, oder intensivere Kontakte zu ehemaligen Tätern sind in der Regel derart stressinduzierend, dass diese einer psychischen Stabilisierung entgegenstehen. Ebenso ist eine gewisse Stabilität in anderen psychosozialen Bereichen wie Wohn- und Arbeitssituation und bei der körperlichen Gesundheit erforderlich, damit genügend Ressourcen für eine Traumakonfrontationstherapie vorhanden sind. Falls dies bei einem Patienten nicht gewährleistet ist, ist es sinnvoll, vor Beginn einer Traumatherapie die äussere Situation durch sozialpsychiatrische Interventionen zu stabilisieren. Die Bindungsstörung, welche sich häufig als Folge von Beziehungstraumatisierungen wie Gewalt und Vernachlässigung in der Kindheit ausbildet, kann die Etablierung eines sicheren therapeutischen Arbeitsbündnisses erschweren. Charakteristischerweise zeigen die Betroffenen einerseits eine ausgeprägte Angst vor Nähe und Herstellung einer verlässlichen Bindung zum Therapeuten, andererseits fürchten sie dessen Verlust und einen Beziehungsabbruch. Nichtwahrnehmen von Sitzungsterminen oder Schwierigkeiten, die Sitzungen
pünktlich zu beenden, bis hin zum Eindringen in die Privatsphäre der Therapeuten und mehr, können Ausdruck dieses instabilen Beziehungsverhaltens sein. Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen können problematische Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene den therapeutischen Prozess dominieren und einer traumakonfrontativen Arbeit entgegenstehen. Durch eine geeignete Gestaltung des
Kasten 2:
Fallbeispiele für eine traumatherapeutische Expositions- oder Stabilisierungsbehandlung
41-jähriger Patient mit «einfacher» Traumafolgestörung (Typ-I-Trauma) Der Patient wurde nachts auf dem Nachhauseweg von mehreren Jugendlichen ohne erkennbaren Anlass angegriffen und verprügelt. Trotz körperlicher Genesung und einer Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit blieb der Patient belastet durch Albträume vom Ereignis, Konzentrationsstörungen, eine verstärkte Gereiztheit und Schreckhaftigkeit sowie ein Bedrohungsgefühl, sobald er unter Menschen war. Die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung ohne psychiatrische Komorbidität und fehlender psychiatrischer Vorerkrankungen wurden erfüllt. Infolge der stabilen äusseren Situation und der guten Fähigkeiten zur Emotions- und Beziehungsregulation bei dem vorgängig gesunden Patienten wurde die Indikation für eine fokussierte Traumaexpositionsbehandlung gestellt. Trotz seiner Ambivalenz und seiner Angst, sich nochmals mit dem Ereignis auseinanderzusetzen, verstand der Patient das vorgeschlagene Behandlungsrationale und willigte in die Expositionsbehandlung ein.
38-jährige Patientin mit «komplexer» Traumafolgestörung (Typ-II-Traumata) Die Patientin wurde bis zum 16. Lebensjahr von der Mutter körperlich misshandelt und vom Vater sexuell missbraucht. Sie befand sich seit vielen Jahren infolge posttraumatischer Symptome und Beziehungsschwierigkeiten in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung bei unterschiedlichen Therapeuten. Sie meldete sich mit dem expliziten Wunsch nach einer Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse, wobei sie erwähnte, dass sämtliche Vorbehandler eine Traumaexposition abgelehnt und den Schwerpunkt auf die Stabilisierungsarbeit und die Probleme im Alltag gelegt hatten. In der diagnostischen Abklärung wurden die Diagnosen einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung in aktueller Remission, einer früheren Anorexia nervosa und einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung gestellt. Die Patientin bezog seit einigen Jahren eine 100-prozentige IV-Rente, lebte in stabilen sozialen Verhältnissen mit einem relativ guten Beziehungsnetz, wenn auch ohne feste Partnerschaft, und ging vielfältigen Interessen nach. Da die Patientin trotz der komplexen Traumafolgesymptomatik über gute Möglichkeiten zur Emotionskontrolle verfügte, keine klinisch relevante dissoziative Symptomatik vorlag und der Kontakt zur Mutter als ehemalige Täterin von der Patientin als soweit geklärt und unter Kontrolle erlebt wurde, wurde die Indikation für ein fraktioniertes traumakonfrontatives Vorgehen gestellt.
therapeutischen Settings mit klaren Grenzen, Vereinbarungen bezüglich Krisentelefonaten und so weiter sowie einer therapeutischen Haltung, welche auf Transparenz und Mitverantwortung beruht, wird versucht, den durch die therapeutische Beziehung induzierten Stress in tolerierbaren Grenzen zu halten (32). Eine komorbid vorhandene Suchtproblematik, selbst-
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verletzendes Verhalten oder chronisch-rezidivierende Suizidalität sind Anzeichen ausgeprägterer Defizite in den Fähigkeiten zur Emotions- und Impulsregulierung. Ebenso sind dissoziative Phänomene wie Depersonalisations- und Derealisationserleben oder Trancezustände, die spontan oder bereits bei geringer Belastung auftreten können und häufig mit einer Affektphobie einhergehen, Ausdruck einer Störung der Emotionskontrolle. Ohne Berücksichtigung dieser Probleme in der Therapieplanung birgt eine Traumabearbeitung das Risiko einer Exazerbation von Sucht- oder
Kasten 2 (Fortsetzung):
27-jährige Patientin mit «komplexer» Traumafolgestörung (Typ-II-Trauma) Die Patientin wurde zwischen ihrem 8. und 12. Lebensjahr regelmässig von einem Onkel sexuell missbraucht. Mit dem Lehrabschluss und Beginn als reguläre Mitarbeiterin kam es zu einer schweren psychischen Dekompensation, welche in einem Suizidversuch mündete. Sie konnte sich in einer anschliessenden mehrmonatigen stationären Psychotherapie soweit stabilisieren und die bisherige Berufstätigkeit in reduziertem Umfang wiederaufnehmen. In der im Anschluss an die stationäre Therapie begonnenen ambulanten Traumatherapie wurden die Diagnosen einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung, einer komplexen dissoziativen Störung und einer Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen und ängstlich-vermeidenden Zügen gestellt. Die Patientin wohnte noch im Elternhaus, zum Onkel bestand kein Kontakt mehr. Sie konnte die therapeutischen Sitzungen zwar zuverlässig wahrnehmen, doch wurde der Prozess regelmässig durch akute dissoziative Zustände unterbrochen, in denen die Patientin nicht mehr sprechen konnte und ihr Denken blockiert war. Ausgelöst durch alltägliche Belastungsfaktoren kam es zwischen den Sitzungen regelmässig zu emotionalen Krisen, welche häufig in Suizidgedanken und selbstverletzendem Verhalten mündeten. Die Defizite in der Emotionsregulation, die dissoziativen Zustände während der Sitzungen, die es ihr schwierig machten, im therapeutischen Prozess zu bleiben, die weiterhin häufigen Selbstverletzungen sowie die noch ungeklärte Situation mit der Beziehung zu den Eltern, welche möglicherweise bezüglich des sexuellen Missbrauchs Bescheid wussten, sprachen gegen eine Expositionsbehandlung. Vielmehr wurde vereinbart, dass die Patientin in einer ersten Therapiephase vermehrt Einsicht gewinnen sollte in die innere Dynamik des selbstverletzenden Verhaltens und des Auslösers der akuten dissoziativen Zustände, mit dem Ziel einer besseren Emotions- und Impulskontrolle sowie der Stabilität in der therapeutischen Beziehung beziehungsweise dem therapeutischen Prozess.
selbstschädigendem Verhalten, oder es können traumatische Erinnerungen zumindest kaum erfolgreich verarbeitet und integriert werden. Es existiert eine Vielfalt von Interventionen wie imaginativen Übungen, Achtsamkeitsübungen oder körperorientierten Ansätzen, durch die eine Verbesserung der Selbstregulation und Stresstoleranz erarbeitet werden kann. Komplexe dissoziative Störungen wie die dissoziative Identitätsstörung bedingen zudem ein adaptiertes therapeutisches Vorgehen (9). Komorbid vorhandene stresssensible, psychiatrische Krankheitsbilder wie Psychosen oder bipolare Störungen sprechen gegen eine Traumaexposition oder bedingen zumindest ein adaptiertes Vorgehen. Schliess-
lich muss festgehalten werden, dass für eine erfolgreiche Traumaexpositionsbehandlung auch die Bereitschaft der Betroffenen vorhanden sein muss, sich dem Schmerz und der Angst zu stellen, die sie unvermeidbar mit sich bringt.
Indikation für Exposition Bei vorhandener sicherer therapeutischer Beziehung, Emotionstoleranz, stabilem Alltag und Motivation des Patienten sollte eine Expositionsbehandlung angestrebt werden. Eine sichere therapeutische Arbeitsbeziehung zeigt sich darin, dass der vereinbarte Behandlungsrahmen eingehalten werden kann. Ebenso muss jederzeit gewährleistet sein, dass der Patient mitteilen kann, wenn er sich nicht mehr innerhalb seines «window of tolerance» befindet oder eine Traumabearbeitung unterbrechen möchte (z.B. durch ein vorgängig vereinbartes Stoppsignal). Bei genügender Emotionstoleranz sollte es dem Patienten möglich sein, von traumatischen Erfahrungen berichten zu können, ohne in überflutende Emotionen oder dissoziative Zustände zu geraten; ebenso sollte es ihm möglich sein, sich durch den Rückgriff auf ihm bekannte Ressourcen gezielt von belastendem Material und Affekten distanzieren zu können; dysfunktionale Selbstberuhigungsstrategien wie Suchtmittelkonsum oder selbstverletzendes Verhalten müssen kontrolliert werden können. Die Patienten müssen motiviert sein, eine durch die Traumabearbeitung anfänglich induzierte erhebliche emotionale Belastung in Kauf zu nehmen, bevor es zu einer Verbesserung des Befindens kommt. Wichtig ist zu betonen, dass chronische posttraumatische Wiedererlebensymptome oder Symptome der Übererregbarkeit, wie sie die PTBS kennzeichnen, nicht zu verwechseln sind mit einer emotionalen Instabilität, die eine Stabilisierungsphase bedingt. Ebenso wenig sollte aus Typ-IITraumata, die dem Störungsbild zugrunde liegen, direkt auf die Notwendigkeit einer Stabilisierungsphase geschlossen werden. Bei Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen wird in der Regel eine Exposition in fraktionierter Form (d.h. Beginn mit weniger belastenden Erinnerungen) und unter Zuhilfenahme von emotionalen Distanzierungstechniken wie zum Beispiel einer Ressourcen-Imagination durchgeführt. Ansatzpunkte für die Expositionsbehandlungen sind diejenigen traumatischen Erfahrungen, welche die im Alltag vorherrschenden Symptome bedingen. Ebenso wird empfohlen, im Sinne eines spiralförmigen Prozesses, je nach momentaner Belastbarkeit des Patienten zwischen Expositionssitzungen und erneuter Stabilisierungsarbeit zu alternieren. In neueren Ansätzen wird die Trennung zwischen Phasen der Stabilisierung und Exposition weniger scharf gezogen und eine kombinierte Behandlung aus konfrontativen und stabilisierenden Elementen empfohlen. Dabei wird nicht ausschliesslich die Erinnerung an das traumatische Ereignis, sondern auch die Konfrontation mit symptomauslösenden Situationen oder sonstigen Auslösereizen im Alltag angestrebt (33). Eine Traumatherapie ist ein individueller Prozess, der sich an der traumaassoziierten Symptomatik im Alltag orientiert und in dem fortwährend die Notwendigkeit weiterer Expositionssitzungen reevaluiert wird.
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Wer soll Traumatherapien durchführen Die Therapie insbesondere von Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen ist anspruchsvoll und bedarf einer fundierten traumatherapeutischen Ausbildung und kontinuierlicher Lehrsupervision. Die Universität Zürich und mehrere unabhängige Institute in der Schweiz bieten traumatherapeutische Curricula an. In diesen werden mit unterschiedlichem Schwerpunkt Techniken zur Stabilisierung und Exposition vermittelt. Während bis vor einigen Jahren Therapeuten bei gewissen Patienten möglicherweise zu schnell und zu unbedarft auf die traumatischen Erfahrungen fokussierten, scheint der Trend heute in die Richtung zu gehen, dass generell zur Zurückhaltung und einer unspezifischen «Stabilisierung» geraten wird. Für die Traumaexposition wird, wenn überhaupt, an die deklarierten Traumaspezialisten verwiesen. Angesichts der vielerorts kaum verfügbaren traumatherapeutischen Behandlungsplätze stellt sich die Frage, ob die Exposition an ein traumatisches Einzelereignis bei einem vorgängig weitgehend gesunden Erwachsenen nicht auch in die Kompetenz eines erfahrenen psychotherapeutischen Generalisten gehören sollte. Zwar sind bei dieser Klientel strukturierte Expositionen mittels einer etablierten traumatherapeutischen Technik wie prolongierte Exposition oder EMDR nicht immer zwingend notwendig, sondern es kann ausreichen, den Schrecken des Erlebten in ein Narrativ zu bringen. Die Tatsa-
che, dass sich eine posttraumatische Symptomatik
nach einem traumatischen Ereignis nicht von selbst zu-
rückbildet, weist jedoch darauf hin, dass gewisse Fakto-
ren diesen spontanen Prozess behindern. Die Identifi-
kation und Auflösung dieser aufrechterhaltenden
Faktoren bedingen in der Regel ein störungsspezifi-
sches Wissen und Vorgehen seitens des Therapeuten,
das nur durch eine adäquate Fortbildung erworben
werden kann.
●
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Christoph Mueller-Pfeiffer
Department of Psychiatry
Massachusetts General Hospital
Building 120 – 2nd Ave
Charlestown, MA, 02129, USA
E-Mail: christoph.mueller-pfeiffer@access.uzh.ch
1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UniversitätsSpital Zürich, Culmannstrasse 8, 8091 Zürich.
2 Center of Education and Research (COEUR), St. Gallische Kantonale Psychiatrische Dienste, Sektor Nord, Zürcherstrasse 30, 9500 Wil (SG).
3 Department of Psychiatry, Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School, Boston MA, USA.
Danksagung Ich danke Prof. Ulrich Schnyder und Dr. Erwin Lichtenegger für die Durchsicht des Manuskriptes.
Literaturverzeichnis auf Anfrage unter: info@rosenfluh.ch
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