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POLITFORUM: XUNDHEIT IN BÄRN
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27970
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POLITFORUM

Xundheit in Bärn

INTERPELLATION vom 18.12.2015
Abklärung von psychosomatischen Beschwerden für die IV-Renten. Welche Folgen hat der Bundesgerichtsentscheid?

Ignazio Cassis Nationalrat FDP Kanton Tessin
Das Bundesgericht hat am 3. Juni 2015 seine Rechtsprechungspraxis bezüglich der Beurteilung, ob Personen mit organisch nicht nachweisbaren Beschwerden IVRenten erhalten, geändert. Aufgrund der veränderten Rechtsprechung hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) seine Beurteilungspraxis zur Vergabe von IV-Renten überdacht. Die Unterscheidung zwischen psychoso-

matisch und organisch begründeten Beschwerden wird im Zuge des Abklärungsverfahrens fallen gelassen. Neu soll für jede Person im Rahmen eines vereinheitlichten Verfahrens eine umfassende Einzelfallbetrachtung betreffend Gesundheit, soziales Umfeld, Persönlichkeit etc. durchgeführt werden, um abzuklären, ob ein Anspruch auf eine IV-Rente besteht oder nicht. Eine solch umfassende Abklärung als Standard einzuführen, ist fraglich. Ausserdem ist gemäss dem jüngsten EGMR-Urteil «Spycher c. Suisse» die bisherige Unterscheidung bezüglich IV-Ansprüchen zwischen Personen mit organischen und nicht organischen Be-

schwerden gerechtfertigt. Die unterschiedliche Behandlung stelle keine Diskriminierung dar, da keine vergleichbare Situation gegeben ist. Damit stützt der EGMR die Rechtsordnung vor dem neuen Bundesgerichtsentschied. Der Bundesrat wird gebeten, folgende Fragen zu beantworten: 1. Sind unterschiedliche Abklä-
rungsmethoden in der IV von Personen mit organischen Beschwerden und solche mit psychischen Beschwerden unrechtmässig? 2. Wird die veränderte Rechtsprechung in der Schweiz zusätzliche Abklärungskosten zulasten der IV verursachen? Falls ja, können diese quantifiziert werden?

3. Verlagert sich mit dieser Änderung die Abklärungskompetenz von den IV-Stellen hin zu den Ärzten, welche den Gutachtenauftrag ausführen?
4. Wird die neue Rechtsprechung vom Bundesgericht die Zahl der neuen Renten? Falls ja, mit welchen finanziellen Folgen?
5. Verlängert die neue Rechtsprechung das IV-Abklärungsverfahren?
6. Wie hoch sind die durchschnittlichen Abklärungskosten für psychisch bedingte IV-Renten in den letzten 5 Jahren gewesen?
7. Wie werden sich diese in den nächsten 5 Jahren entwickeln?

Und dies ist die Antwort des Bundesrats vom 4.3.16

Indem das Bundesgericht mit seinem Entscheid vom 3. Juni 2015 die sogenannte Überwindbarkeitsvermutung zugunsten eines offenen, ressourcenorientierten Abklärungsverfahrens aufgegeben hat, entfällt in der IV ein Sonderfall der Abklärung. Damit eröffnet sich der IV die Chance, die ressourcenorientierte Abklärung in allen Fällen anzuwenden, was aber nicht eine Vereinheitlichung oder Standardisierung der Abklärung bedeutet. Die Intensität der notwendigen Abklärungen hängt von den Ausprägungen ab, wie offensichtlich sich ein Gesundheitsschaden auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit auswirkt.
1. Bei einer körperlichen, psychischen oder psychosomatischen Beeinträchtigung bzw. bei Vorliegen aller drei Arten zusam-

men sind verschiedene Abklärungen der Arbeitsfähigkeit notwendig. Dabei stellen die psychosomatischen Leiden nach wie vor höhere Anforderungen an die Abklärungen als somatische Leiden, sodass stets eine differenzierte, einzelfallgerechte Abklärung notwendig ist. Unterschiedliche Abklärungen sind demnach gesetzeskonform.
2. Der Bundesrat geht davon aus, dass das ressourcenorientierte Abklärungsverfahren auch bei psychosomatischen Leiden zu keinen wesentlichen Zusatzkosten für die IV führen wird. Mit der Einführung von Suissemedap und dem neuen, gestaffelten Tarif für polydisziplinäre Gutachten im Jahre 2012 hat die IV die Anforderungen an komplexe medizinische Abklärungen bereits erfüllt.

3. Es ist nach wie vor die Aufgabe und Verantwortung der IVStellen, im gesetzlich geregelten Amtsermittlungsverfahren die notwendigen Abklärungen und Entscheide im Hinblick auf einen möglichen Leistungsanspruch der Versicherten vorzunehmen. Mit der Beantwortung der vom Bundesgericht eingeführten Indikatoren steigen zwar die Anforderungen an die Gutachterinnen und Gutachter, eine Veränderung in den Abklärungskompetenzen erfolgt damit jedoch nicht.
4. Die neue Rechtsprechung ändert nicht die Anspruchsvoraussetzungen, sondern den Nachweis für den Anspruch, was die derzeitige Tendenz der Anzahl Neurenten nicht tangieren dürfte.
5. Da die Frist von 130 Tagen ab Erteilung des Auftrages an die Gutachterstelle bestehen bleibt, dürfte die neue Rechtsprechung

sich nicht auf die Dauer des Verfahrens zur Abklärung des IVRentenanspruchs auswirken.
6./7. Aus methodischen Gründen erfolgt keine Zuteilung zum ursächlichen Gebrechen. Dieses steht in der Regel erst nach Abschluss der Abklärung fest. Seit Einführung von Suissemedap im Jahr 2012 beliefen sich die jährlichen Gesamtkosten auf durchschnittlich 53,7 Millionen Franken, was 10 300 Franken pro Bezügerin bzw. Bezüger entspricht (Datawarehouse der ersten Säule: Register der IV-Sachleistungen/ Rechnungen). Dank Suissemedap kann die IV die neuen Anforderungen des Bundesgerichtes in Bezug auf die medizinische Abklärung erfüllen, und die Abklärungskosten dürften sich nicht wesentlich verändern.

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MOTION vom 18.12.2015
ADHS ist keine Krankheit! Die wirklichen Ursachen müssen nun angepackt werden

Verena Herzog Nationalrätin SVP Kanton Thurgau
Der Bundesrat wird beauftragt, dafür zu sorgen, dass die wirklichen Ursachen, die sich hinter der «Diagnose» ADHS verbergen, angepackt werden und damit die viel zu hohe Verschreibungspraxis in der Deutsch- und Westschweiz massiv reduziert wird.
Begründung In der Stellungnahme zur Motion «Ritalinkonsum in der Schweiz» sagt der Bundesrat: «Das Tessin scheint in dieser Frage stark von Italien geprägt zu sein, das aus unbekannten Gründen weniger

Verschreibungen von Methylphenidat aufweist.» Eine genauere Analyse der Tatsache, wieso im Tessin fünfmal weniger solche Substanzen verschrieben werden, zeigt Folgendes: a. Im Interview mit dem Schweizer
Radio (SRF, 16. Februar 2015, «Warum Tessiner Kinder weniger Ritalin erhalten») sagt der Tessiner Kinderarzt Andreas Wechsler: «Niemand hat es gern, wenn Kinder lärmen, aber im Tessin stört dies weniger.» Die Toleranz der Gesellschaft sei grösser, was Kinder angeht. Dies habe zum einen mit der Mentalität südlich des Gotthard zu tun. Dazu komme ein Schulsystem, das seit Jahrzehnten auf den integrativen Ansatz setzt. b. Zusätzlich zeigt dies unmissverständlich, dass es sich bei

ADHS nicht um eine Krankheit handelt, wie dies auch vom Erfinder von ADHS, Dr. Leon Eisenberg, in seinem letzten Interview (Spiegel 6/2012) bestätigt wird: «Niemals hätte er gedacht, dass seine Erfindung einmal derart populär würde. «ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung. Die genetische Veranlagung von ADHS wird vollkommen überschätzt. Stattdessen sollten Kinderpsychiater viel gründlicher die psychosozialen Gründe ermitteln, die zu Verhaltensauffälligkeiten führen können», sagte Eisenberg. c. Die Schlussfolgerungen der im November 2014 veröffentlichten Studie «Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich», welche im

Auftrag der Regierung des Kantons Zürichs angefertigt wurde, zeigen Folgendes: Der Begriff ADHS hat eine gesellschaftliche Karriere zu verzeichnen: Es scheint, dass damit auch eine bestimmte Art unangepassten Verhaltens von Kindern gegenüber schulischen Leistungsund Verhaltensanforderungen beschrieben wird, das – im Trend der Zeit – mit medizinischen oder psychologischen Mitteln zu korrigieren versucht wird. Es solle deshalb im Schulbereich darüber nachgedacht werden, wie der (schulische) Leidensdruck von ADHS-Kindern (und ihrer Eltern) reduziert oder vermieden werden könnte.

Dies die Antwort des Bundesrats vom 24.2.16

ADHS ist eine im Kindesalter beginnende Störung der Konzentration und der emotionalen Kontrolle. Die Diagnosekriterien für ADHS sind im «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V)» der American Psychiatric Association und in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen enthalten. Dem Krankheitsbild ADHS liegen verschiedene Ursache-WirkungsKetten zugrunde. Da die Entstehung durch individuelle genetische, soziale und kulturelle Faktoren bestimmt ist, gibt es keine generellen Ursachen, auf die allfällige Interventionen ausgerichtet werden könnten. Aufgrund der Komplexität und Individualität der jeweiligen Ursachen muss sich auch die Behandlung gezielt an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren.

Die Meinungen, ob ADHS eine Krankheit im eigentlichen Sinne oder lediglich ein Störungsbild ist, gehen auseinander. Unbestritten ist jedoch, dass die Betroffenen einem hohen Leidensdruck ausgesetzt sind und Hilfe benötigen. In der Regel erfolgt die Behandlung im Rahmen eines umfassenden Behandlungssettings, das sowohl medizinische wie auch psychische und sozialtherapeutische Interventionen umfasst. Das gilt insbesondere auch für die Frage, ob und unter welchen Rahmenbedingungen methylphenidathaltige Arzneimittel, wie zum Beispiel Ritalin, eingesetzt werden sollen. Diese Frage muss unter Berücksichtigung der individuellen Behandlungsbedürfnisse und situativen Gegebenheiten entschieden werden. Der Bundesrat ist bereits auf der Grundlage des Expertenberichtes «Leistungssteigernde Medikamente – Bedeutung, Anwendung und Auswirkungen» in Erfüllung verschie-

dener Postulate zum Schluss gekommen, dass die Verschreibungspraxis bei methylphenidathaltigen Arzneimitteln in der Schweiz den internationalen Empfehlungen und den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft entspricht. Er sieht daher keinen Anlass, in die ärztliche Behandlungsfreiheit einzugreifen. In der Antwort auf die Motion 15.3146 verweist der Bundesrat auf das im Jahr 2013 vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegebene Forschungsprojekt «Interventionsstudie bei Aufmerksamkeits- und Verhaltensproblemen in der Unterstufe». Im Rahmen dieser Studie werden Interventionsmöglichkeiten bei auftretenden Aufmerksamkeits- und Verhaltensproblemen in der Einschulungsphase (erste und zweite Klasse) entwickelt. Die 2015 an die Schweiz adressierten Empfehlungen des UN Committee on the Rights of the Child greifen die Forschung zu nichtmedikamentösen Behandlungsansätzen bei ADHS ebenfalls auf.

Zur Frage, warum im Tessin weniger Ritalin verschrieben wird, liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Bei dem in der Motion erwähnten Zitat handelt es sich um eine Expertenmeinung, die im Grunde lediglich besagt, dass dafür möglicherweise kulturelle Unterschiede verantwortlich sein könnten. Für eine vertiefende Analyse dieser Frage wäre eine systematische Kontrolle der Verschreibungspraxis erforderlich. Das ist jedoch keine Bundesaufgabe, denn die Kontrolle der Ärzteschaft fällt gemäss Artikel 29d Absatz 1 Buchstabe d des Betäubungsmittelgesetzes in die Kompetenz der Kantone. Demgemäss kann der Bund die in die ADHS-Behandlung eingebundenen Akteure (Familien, Ärzteschaft, Lehrerschaft, Sozialbehörden usw.) auch nicht verpflichten, die dafür notwendigen Daten zu erheben und zu liefern.

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