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FORTBILDUNG
Altersbilder existenziell zweideutig – früher und heute
Bis ins 20. Jahrhundert war das Alter gleichbedeutend mit Invalidität. Erst seit wenigen Jahrzehnten findet eine Transformation statt, die Chancen des Alterns positiv hervorhebt und die hohen kognitiven Leistungsfähigkeiten auch alter Menschen aufzeigt. Trotzdem haben die positiven Altersbilder die negativen weniger verdrängt als ergänzt, und je nach Themenstellung oder Prominenz einer Person werden beide Perspektiven nur anders kombiniert.
François Höpflinger
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François Höpflinger
Einleitung
D as Alter wurde in der europäischen Kulturgeschichte immer doppeldeutig wahrgenommen (vgl. Göckenjan 2000): Zum einen wurde das Alter mit körperlichem und geistigem Zerfall, Gebrechlichkeit und Nähe zum Tod in Verbindung gesetzt. Vor allem auch in der europäischen Kultur, die sich seit der Renaissance stark an der altgriechischen Ästhetik junger Körper anlehnt, wurden und werden alternde Körper besonders negativ beurteilt, speziell bei Frauen (vgl. Fooken 2000). Zum anderen wurden und werden immer wieder auch positive Seiten des Alters – anlehnend an Ciceros Pro Senectute – hervorgehoben, wie Weisheit und Gelassenheit alter Menschen oder das Alter als Erfüllung des Lebens. Allerdings betonen positive Bilder des Alters immer auch einen Gegensatz von Jung und Alt; etwa Ungeduld und Ungestüm der Jugend gegenüber Weisheit und Gelassenheit des Alters. Auch die lateinischen Begriffe «senex, senis» und «vetus, veteris» verweisen in ihrer späteren Verwendung auf das Doppelgesicht des Alters: eine positive Bewertung im Sinne von «Senator/Veteran», eine negative Bewertung im Sinne von «Senilität» beziehungsweise «senil» (Porret 1994: 68). Der Altersforscher Paul B. Baltes (1996) umschrieb die existenzielle Zweideutigkeit des Alter als «Hoffnung mit Trauerflor».
Altersbilder in Europa – historische Anmerkungen Das Alter war bis ins frühe 20. Jahrhundert weitgehend gleichbedeutend mit Invalidität beziehungsweise Infirmität. Es galten jene Menschen als alt, deren körperliche und geistige Kräfte schwanden, nicht jedoch Menschen, die ein bestimmtes kalendarisches Alter überschritten (vgl. Borscheid 1992: 38). Daher waren Ansehen und soziale Stellung älterer Menschen in vorund frühindustriellen Gesellschaften erstens abhängig von der körperlichen Kraft und der Fähigkeit zur Weiter-
arbeit im angestammten Beruf. Entsprechend war die Stellung alter Menschen in Zeitperioden schwacher Staatsgewalt und häufiger kriegerischer Auseinandersetzungen schlechter als in Perioden etablierter Staatsordnungen (Minois 1989). Zweitens war die soziale Stellung älterer Frauen und Männer durch ihre Position im Familienverband und ihre Besitzverhältnisse bestimmt. Die Zahl der Nachkommen, aber auch die Verfügung über Land- und Geldbesitz bestimmten das Ansehen alter Familienangehöriger. Die Stellung und das Ansehen alter Menschen wurden im christlichen Europa – im Vergleich zu vielen aussereuropäischen Kulturen – von vornherein durch zwei kulturelle Besonderheiten wesentlich geschwächt, vor allem im Vergleich zu vielen aussereuropäischen Gesellschaften: Zum einen schloss die christliche Religion Ahnenverehrung und Ahnenkult aus, was Ansehen und Stellung der «Vorfahren» schwächte und mit dazu beitrug, dass sich das europäische Familienmodell der Kernfamilie (mit getrennt lebenden Generationen) früher und stärker durchsetzte als in vielen aussereuropäischen Kulturen. Zum anderen dominierte im religiösen Bereich die schriftliche Überlieferung (Bibel) vor der mündlichen. Vor allem mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks und legaler Dokumente schwand die Bedeutung alter, erfahrener Menschen als Träger kultureller Traditionen (vgl. Heller 1994).
16. und 17. Jahrhundert Im 16. und frühen 17. Jahrhundert wurde das Alter erstmals als Teil des Lebenslaufs thematisiert, und Darstellungen der menschlichen Altersstufen wurden populär. Hund, Katze und Esel waren die Tiergestalten, die alten Menschen auf diesen Lebenstreppen immer wieder zugeordnet wurden, wobei je nach Darstellung die «Hundejahre» mit 50 oder 70 Jahren einsetzen. Wie in späteren Perioden war aber auch im 17. Jahrhundert die Wahrscheinlichkeit, alt zu werden, sozial ungleich verteilt. So erreichten im Genf des 17. Jahrhunderts von 1000 Personen aus der Oberschicht (höhere Amtsträger, Gross- und mittleres Bürgertum) 305 das 60. Le-
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kult erfuhr schon in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eine globale Bedeutung, aber die Jugendkulturen und Jugendbewegungen der Nachkriegszeit haben den Trend zu einer jugendbetonten Gesellschaft noch verstärkt, und dies umso mehr, als in modernen Wohlstandsgesellschaften des späteren 20. Jahrhunderts jugendbetonte Konsummuster, Modeströmungen und Musikstile weltweit diffundierten. Diesen Trends schloss sich ein Teil der älteren Menschen insofern an, als es auch für ältere Frauen und Männer zunehmend Mode wurde, sich möglichst «jugendlich» zu geben und zu verhalten.
Seit der Renaissance, die sich stark an der altgriechischen Ästhetik junger Körper anlehnt, wurden und werden alternde Körper auch in der europäischen Kultur negativ beurteilt.
bensjahr. Bei der Mittelschicht (Kleinbürgertum, Handwerker, qualifizierte Arbeiter) waren es 171, und bei der Unterschicht (unqualifizierte Arbeiter, Handlanger) erlebten nur 106 von 1000 das 60. Lebensjahr (Perrenoud 1975). Ein hohes Alter zu erreichen, blieb bis ins 19. Jahrhundert weitgehend ein «Privileg»« der Reichen (und Armut im Alter war jahrhundertelang deshalb kein Thema, weil die Armen kaum je ins höhere Lebensalter überlebten).
19. Jahrhundert Im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts wurde die gesellschaftliche Stellung alter Menschen durch die raschen und tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Veränderungen zusätzlich geschwächt, da Erfahrungswissen an Bedeutung verlor. Auch der Ausbau der schulischen und beruflichen Bildung trug zum Autoritätsverlust der älteren Generation bei, da die Jungen oftmals besser ausgebildet waren als die Alten. Der Ansehensverlust des Alters wurde durch medizinische Theorien – die Altern einseitig als degenerativen Prozess interpretierten – untermauert (Schmortte 1990). Der relative Statusverlust des Alters kam beispielweise in einer deutlich negativeren Einstellung zur (Wieder)Heirat älterer Männer und Frauen zum Ausdruck, was im 19. Jahrhundert zum deutlich erhöhten Witwenund Witweranteil beitrug.
20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert wurde Jugendlichkeit zu einem umfassenden gesellschaftlichen Wert, und die Ästhetik junger Körper in Mode und Kultur gewann durch die Massenmedien eine rasche Verbreitung. Der Jugend-
Neue Altersbilder – kompetenz- und leistungsorientiert Erst ab den Siebzigerjahren erfuhr das Bild des Alters allmählich eine erneute Transformation: Die Defizittheorien des Alters wurden verstärkt infrage gestellt und die Chancen des Alterns stärker hervorgehoben, etwa weil Längsschnittstudien die hohen kognitiven Leistungsfähigkeiten auch alter Menschen aufzeigten. In diesem Rahmen ergaben sich vor allem drei Wandlungen der Altersleitvorstellungen: ● Der Beginn des Alters wurde nach oben versetzt,
und immer mehr Menschen begannen, sich selbst erst später als «alt» einzuschätzen. Damit ergab sich zunehmend eine Diskrepanz zwischen dem subjektiven eigenen Alter und dem chronologischen Alter. Negativen Altersbildern begegnen ältere Menschen heute zunehmend dadurch, dass sie sich selbst nicht als «alt» einstufen. Die persönliche Betroffenheit gegenüber negativen Altersbildern wird verneint, diese werden aber nicht infrage gestellt. In diesem Rahmen entstand etwa auch der Begriff der «jungen Alten», ausgelöst durch das Altern einer stark jugendorientierten Nachkriegsgeneration (Babyboom-Generation). «Junge Alte» werden beispielsweise als ebenso innovativ, aktiv und modisch beschrieben wie jüngere Menschen. Tatsächlich zeigte sich in den letzten Jahrzehnten eine verstärkte «Verjüngung» älterer Menschen, indem mehr ältere Menschen Tätigkeiten – wie Reisen, Sport, Weiterbildung, sich modisch ankleiden – übernahmen, die früher ausschliesslich als Privileg der Jugend galten (vgl. Höpflinger 2008). Dadurch haben sich die traditionell negativen Bilder zum Alter immer stärker auf das hohe Lebensalter konzentriert. ● Neue, kompetenzorientierte Leitbilder zum Alter wurden propagiert (vgl. Backes, Amrhein 2008). Zu erwähnen sind das Modell eines «erfolgreichen Alterns», welches sich stark auf eine aktive Gestaltung von Lebenszufriedenheit und Gesundheit bezieht, oder das Modell eines «produktiven Alters», welches von der zentralen Idee ausgeht, dass auch alte Menschen gesellschaftlich wertvolle Leistungen erbringen können (oder erbringen müssen); ein Leitbild, das gegenwärtig auch zur Unterstützung der Forderungen nach einer Erhöhung des Rentenalters eingesetzt wird. Modernen Leitvorstellungen entspricht auch das weitverbreitete Modell eines «bewussten und selbstgestalteten Alterns». Hier geht es um lebenslange Entwicklung und Selbstverwirklichung in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft. Zentral ist vor allem die Idee, dass das
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Altern nicht ein passiv zu erleidender Prozess ist, sondern aktiv zu gestalten ist. Kombiniert mit «Antiaging»-Strömungen kann dies aber auch eine Verdrängung des Alters in einer jugendbetonten Gesellschaft umfassen. ● Aufgrund der zunehmenden demografischen Alterung werden vermehrt die sozialpolitischen Kosten des Alters thematisiert. In diesem Rahmen wird weniger der Typus des hilfe- und pflegebedürftigen alten Menschen, sondern eher der Typus des schmarotzenden Alten, der auf Kosten der jüngeren Generationen lebt, in den Mittelpunkt öffentlicher Diskurse gerückt. Eine kritische Analyse von Sachbüchern zum Thema «Alterslast» und «Krieg zwischen den Generationen» lässt allerdings erkennen, dass solche Diskurse auf dramaturgisch übersteigerten Annahmen zur Auswirkungen demografischer Trends beruhen (vgl. Bräuninger, Lange, Lüscher 1998). In welchem Mass negative Bilder des Alters in der Bevölkerung tatsächlich vorherrschen, hängt stark von der Art und Weise der Erhebung ab. Standardisierte Erhebungsmethoden vermitteln oft zu negative Altersbilder, namentlich wenn einseitig nur nach negativen Aspekten gefragt wird. Differenzierte Erhebungen lassen bei der Mehrheit der jüngeren wie älteren Bevölkerung ein facettenreiches Altersbild – mit positiven wie negativen Zuschreibungen – erkennen (vgl. Filipp, Mayer 1999). So wurde etwa in einer deutschen Jugendstudie deutlich, dass aus Sicht der 12- bis 25-Jährigen das Alter nicht nur negativ gewertet wird: «Alter erscheint für die Mehrheit der Jugendlichen demnach nicht mehr als primär defizitär, sondern als Etappe, in der nach wie vor relevante und auch persönlich befriedigende Elemente in der Lebensgestaltung möglich sind» (Schneekloth 2006: 150). Neue Leitvorstellungen der Gerontologie – wie «erfolgreiches Altern» – wurden von den Medien rasch aufgegriffen, ohne dass damit gleichzeitig defizitäre Vorstellungen verdrängt wurden. Positive Altersbilder haben negative Altersbilder weniger verdrängt als ergänzt, und je nach Themenstellung oder Prominenz einer Person werden beide Perspektiven anders kombiniert. Festzuhalten ist zudem, dass mediale Altersbilder bereichsspezifisch variieren. So sind beispielsweise in Medienangeboten für Kinder (wie Schul- und Kinderbüchern oder Fernsehsendungen für Kinder) ältere Menschen wenig präsent, wodurch einseitig negative Beschreibungen alter Menschen wegfallen. Dort, wo ältere Personen in Kinderbüchern oder Kindersendungen auftauchen, handelt es sich oft um interessante Sonderlinge oder Originale. In der Medienwelt für Erwachsene finden sich negative Allgemeinvorstellungen – zur Renten- und Pflegelast – neben positiven Individualbeschreibungen älterer Menschen, wobei Formen aktiven Alters weitgehend anhand prominenter alter Männer und Frauen illustriert werden. Häufig ist die Form, dass das Alter einer namentlich erwähnten Person positiv beschrieben wird, wogegen das Alter als Abstraktum mit primär negativen Eigenschaften behaftet wird. In Fernseh- und Kinofilmen wird das Alter häufiger angesprochen als dies früher der Fall war, und die Liste guter Filme zum und über das Alter verlängert sich
jährlich. Auffallend ist allerdings, dass es sich bei manchen Filmen über oder mit älteren Menschen um Komödien handelt. Das humoristische Element entsteht dadurch, dass sich beispielsweise ältere Frauen – etwa in Filmen wie «Golden Girls», «Calendar-Girls», «Herbstzeitlosen» – gerade nicht so verhalten, wie es traditionellen Altersbildern entspricht. Auch in der Zeitungsund Fernsehwerbung kommen ältere Menschen häufiger als früher vor, da sich die neuen Rentnergenerationen als wichtige Konsumenten und Konsumentinnen erwiesen haben. Auffallend ist, dass in der neueren Werbung um ältere Kunden und Kundinnen häufig mit dem Generationenmotiv gearbeitet wird, wobei Vertreterinnen von zwei oder drei Generationen gemeinsam abgebildet werden.
Schlusswort
Die traditionellen negativen Altersbilder sind keines-
wegs verschwunden. Sie haben sich primär nach oben
verlagert und gelten primär nur noch für das hohe Le-
bensalter (die «alten Alten»), wogegen die «jungen Al-
ten» mit neuen kompetenz- und leistungsorientierten
Leitvorstellungen zum späteren Erwachsenenalter
konfrontiert werden.
●
Korrespondenzadresse:
Prof. François Höpflinger
Soziologisches Institut der Universität Zürich
Andreasstr. 15
8050 Zürich-Oerlikon
E-Mail: fhoepf@soziologie.uzh.ch
Angeführte Literatur:
Backes, G. M.; Amrhein, L.: (2008) Potenziale und Ressourcen des Alter(n)s im Kontext von sozialer Ungleichheit und Langlebigkeit, in: H. Künemund, K. R. Schroeter (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter. Fakten, Prognosen und Visionen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: 71–84.
Baltes, P. B.: (1969) Über die Zukunft des Alterns: Hoffnung mit Trauerflor, in: M.M. Baltas, L. Montada (Hrsg.) Produktives Leben im Alter, Frankfurt: Campus: 29–68.
Burscheid, P.: (1992) Der alte Mensch in der Vergangenheit, in: Paul B. Baltas, Jürgen Mittelstrass (Hrsg.) Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung: 35–61, Berlin: de Gruyter.
Bräuninger, B.; Lange, A.; Lüscher, K.: (1998) «Alterslast» und «Krieg zwischen den Generationen»? Generationenbeziehungen in aktuellen Sachbuchtexten, Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 23,1: 3–17.
Demaitre, L.: (1990) The Care and Extension of Old Age in Medieval Medicine, in: M. M. Sheehan (ed.) Aging and the Aged in Medieval Europe, Toronto: Pontifical Institute of Medieval Studies: 3–22.
Filipp, S.-H.; Mayer, A.-K.: (1999) Bilder des Alters. Altersstereotype und die Beziehungen zwischen den Generationen, Stuttgart: Kohlhammer.
Fooken, I.: (2000) Weibsbilder im Alter im Spiegel der Kunst – Die vielen Gesichter weiblichen Alters in einer Bild-Text-Collage, in: P. Perrig-Chiello, F. Höpflinger (Hrsg.) Jenseits des Zenits. Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte, Bern. Haupt: 173–185.
Göckenjan, G.: (2000) Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt: Suhrkamp.
Heller, G. (ed.) Le poids des ans. Une histoire de la vieillesse en Suisse romande, Genève: Editions d’en bas: 37–45.
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Minois, Georges: (1989) History of Old Age: From Antiquity to the Renaissance, Cambridge: Polity Press.
Perrenoud, Alfred: (1975) L’inégalité sociale devant la mort à Genève au XVII siècle, Population 30/1975: 221–243.
Porret, Michel: (1994) «Je ne suis déjà plus de ce monde»: Le suicide des vieillards à Genève aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Geneviève Heller (ed.) Le poids des ans. Une histoire de la vieillesse en Suisse romande, Genève: Editions d’en bas: 67–94.
Schmorrte, S.: (1990) Alter und Medizin. Die Anfänge der Geriatrie in Deutschland, Archiv für Sozialgeschichte, 30: 15–41.
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