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FORTBILDUNG
Rehabilitation bei Multipler Sklerose
Die Multiple Sklerose (MS) kann zu erheblichen Funktionsdefiziten und Behinderungen führen. Eine umfassende stationäre Rehabilitationsbehandlung kann die Auswirkungen der Funktionsstörungen minimieren. Der Klinikleiter und Chefarzt Dr. Claude Vaney von der Berner Klinik Montana blickt auf eine 25-jährige Erfahrung im Bereich Rehabilitation bei MS zurück. Er erklärt Sinn und Zweck der stationären Rehabilitation bei diesem Patientengut.
2/2012
Psychiatrie & Neurologie: Was ist der Haupteffekt der Rehabilitation? Dr. Claude Vaney: MS-Patienten erleiden im Verlauf der Erkrankung Einbussen auf somatischer Ebene wie Ataxie, spastische Paresen sowie Blasen- und Sexualstörungen. Die nicht seltene Beeinträchtigung der Hirnleistung kann Konsequenzen haben in Bezug auf die Gefühlswelt. Das soziale Umfeld ist dementsprechend mitbetroffen. Die Rehabilitation bei MS-Patienten hat also zwei wichtige Aspekte: Sie fördert die Autonomie und die Lebensqualität der Patienten. Vermindert sich beispielsweise nach einem Schub die Gehfähigkeit, benötigen die Patienten Gehhilfen oder Schienen, damit die Autonomie gefördert wird. Bei der Verbesserung der Lebensqualität stehen Gespräche mit Angehörigen im Vordergrund, oder die Patienten lernen zu katheterisieren, damit sie wieder unabhängig leben können und so eine bessere Lebensqualität erzielen.
Wie wichtig ist die Unterstützung auf psychischer Ebene? Claude Vaney: MS ist eine chronische Krankheit und nicht heilbar. Das hat selbstverständlich einen Einfluss auf der psychischen Ebene. Häufig leiden die Patienten unter einer Depression, und die Suizidrate liegt weit über dem Durchschnitt. Mit einer psychologischen Betreuung während der Rehabilitation hoffen wir, den Patienten eine Hilfestellung geben zu können.
Die Spastik scheint ein «einfach» zu behandelndes Symptom zu sein. Wie sieht das bei kognitiven Einbussen oder Tremor aus? Claude Vaney: Tremor oder kognitive Einbussen sind in der Tat schwierig zu steuern oder zu beeinflussen. 30 bis 50 Prozent der Patienten zeigen kognitive Veränderungen. Wir wissen bei Patienteneintritt nicht, ob vielleicht auch die Müdigkeit ursächlich ist für kognitive Einbussen. Von daher braucht es ein intensives Fati-
Claude Vaney
guemanagement während der Rehabilitation, um auch die Müdigkeit oder auch eine Depression als Auslöser für kognitive Einbussen abgrenzen zu können. Bei der Behandlung eines Tremors muss beispielsweise ein stereotaktischer Eingriff in Erwägung gezogen werden. Ein weiterer neuer Ansatz ist die Implantation von elektrischen Stimulationssonden ins Thalamusgebiet.
Sie hatten in einem Artikel geschrieben, dass es jährliche Rehabilitationen brauchen würde, um funktionelle Verbesserungen zu erreichen. Warum diese kontinuierliche Reha? Wäre es nicht sinnvoller, vor Ort nach Angeboten zu suchen respektive diese vor Ort aufzubauen? Claude Vaney: Vielleicht wäre es besser, von regelmässigen Abständen zu sprechen oder einer Reha nach Bedarf. Studien zeigen, dass die Wirksamkeit der Massnahmen nach rund neun Monaten verloren geht. Deshalb ist es sinnvoll, die Rehabilitation kontinuierlich zu wiederholen. Die ambulante Rehabilitation ist ebenso möglich. Allerdings ist die Schweiz nach wie vor eine eher ländliche Gegend. Nicht jeder MS-Patient hat Zugang zu ambulanten Angeboten. Dementsprechend hat sich die stationäre Reha etabliert und bewährt.
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Für welche Patienten eignet sich die stationäre Rehabilitation? Claude Vaney: Der wissenschaftliche Beirat der Schweizerischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft sieht mögliche Indikationen für die Rehabilitation bei Patienten mit ungenügender Erholung von einem akuten MS-Schub, bei drohendem Verlust von wichtigen Funktionen und/oder Selbstständigkeit trotz ambulanter Therapien, bei Patienten mit multifunktionellen Defiziten mit Bedarf eines intensiven multimodalen Therapieprogramms und bei schwerstbehinderten Patienten mit klar definierten Therapiezielen, welche ein interdisziplinäres Vorgehen voraussetzen.
Das Armentarium an Medikamenten in der MS-Behandlung hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Sehen Sie Verbesserungen durch neue Medikamente auch in der Rehabilitation? Claude Vaney: Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil es wenig Studiendaten dazu gibt und sich die Fragestellungen bezüglich Rehabilitation verändert haben. Ich bin seit 25 Jahren in der Rehabilitation tätig. Damals gab es keine immunmodulierenden Therapien; die Reha dauerte durchschnittlich sechs Wochen. Heute muss ich alle Rehabilitationsziele bei den Krankenkassen rechtfertigen, es hat Richtlinien, die einzuhalten sind, und insgesamt dürfen weniger Patienten in die Rehabilitation. Ausserdem interessieren sich heute mehr Pharmafirmen als auch Ärzte für das Thema MS. Das zeigt sich im Rahmen einer verbesserten Weiterbildung für Ärzte, die dementsprechend auch Blasenproblemen mehr Beachtung schenken oder Medikamente bei Schmerzen verschreiben. Auch werden die MS-Patienten besser geschult. Durch dieses Self-Empowerment achten Betroffene stärker auf eine gesunde Ernährung und mehr Bewegung. Kurzum gesagt: Sowohl im Bereich der symptomatischen Behandlung wie auch im Bereich der kausalen Therapie der MS, das heisst immunmodulierender Substanzen, ist das Armentarium bereichert worden. Und das hat sicher einen günstigen Einfluss auf den Verlauf und die Lebensqualität der MS-Patienten.
Sie haben in der Berner Klinik ein sehr umfassendes Angebot. Wie und wann entscheidet sich der Behandlungsaufbau? Claude Vaney: Das hängt vom vorliegenden Problem und den Patientenzielen ab. Bei Patienteneintritt definieren wir das Vorgehen. Schweizweit haben wir eines der besten Angebote für MS-Patienten. Wir bieten aufwändige therapeutische Massnahmen wie den Loko-
maten bei Patienten an, die ein intensives Gehtraining benötigen. In der Hippotherapie arbeiten wir mit den rhythmischen Bewegungen des Pferdes, die auf den Patienten übertragen werden. Das kann zu einer Verbesserung der Spastik und der Ataxie führen. Das Bewegungsbad mit einer auf MS-Patienten eingestellten angenehmen Temperatur von 28 bis 30° C ermöglicht Bewegungsabläufe, die über Wasser nicht möglich sind. Und natürlich bereiten wir den Patienten auf die Rückkehr ins eigene Heim vor.
THC (delta-9-Tetrahydrocannabinol) wird bei Spastiken
eingesetzt, beispielsweise in der Rehab Basel. Welche
Erfahrungen haben Sie in der Therapie von MS-Kranken
sammeln können?
Claude Vaney: Aus eigenem Interesse setze ich seit 15
Jahren Hanf in der Therapie von Schmerzen und Spa-
stiken bei MS-Patienten ein. Dank der Unterstützung
des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) konnten wir als
weltweit eines der ersten Zentren eine Studie mit Hanf-
kapseln durchführen. Die Erfahrungen sind durchweg
positiv. THC lindert Spasmen und hat einen positiven
Effekt auf die Mobilität der Patienten. Einsparen konn-
ten wir spasmolytische Medikamente wie Tizanidin
oder Baclofen. Wir setzen Hanf insbesondere nachts
ein, weil die psychotropen Nebenwirkungen dann ge-
ringer ausfallen. Im Grunde genommen bewahrheitet
sich eigentlich nur eine Binsenweisheit: MS-Betroffene
nehmen bereits aus eigenem Antrieb seit Jahrzehnten
THC ein, weil sie merken, dass die Spastik, die Krämpfe
und die Schmerzen mit THC zurückgehen. Und heute
wird der Zugriff zur Parallel- oder Komplementärmedi-
zin noch wichtiger. Spasmen sind ein Symptom, das
nicht befriedigend mit schulmedizinischen Massnah-
men behandelt werden kann. Aber vielleicht dauert es
noch ein paar Jahre, bis wir unverkrampft THC einset-
zen können.
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Korrespondenzadresse:
Dr. med. Claude Vaney
Chefarzt Neurologie
Berner Klinik Montana
Zentrum für medizinische
und neurologische Rehabilitation
3963 Crans-Montana
E-Mail: vaney.claude@bernerklinik.ch
Sehr geehrter Herr Dr. Claude Vaney, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Annegret Czernotta
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