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Neuroplastizität bei Multipler Sklerose
FORTBILDUNG
Daniel Zeller
Welche Mechanismen liegen der Rückbildung von Schubsymptomen bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) zugrunde? Wie ist die oft deutliche Diskrepanz zwischen radiologischer Läsionslast und klinischer Beeinträchtigung zu verstehen? Die Hinweise verdichten sich, dass neuroplastische Prozesse an der erfolgreichen Kompensation der MS-bedingten ZNS-Schädigung einen relevanten Anteil haben. Diese führen zu einer Modifikation synaptischer Effizienz, mittelfristig können sie eine Reorganisation zur Folge haben. In dieser Übersicht wird Neuroplastizität in verschiedenen Domänen dargestellt, mögliche Konsequenzen für rehabilitative Ansätze werden skizziert.
Daniel Zeller
Herausforderung: Pathophysiologie der Multiplen Sklerose
D ie Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch verlaufende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Neuropathologisch findet sich eine ZNS-Schädigung durch multifokale demyelinisierende Entzündungsherde, durch direkte axonale Schädigung sowie durch eine eher diffuse Pathologie, welche allenfalls mit geringen entzündlichen Infiltraten einhergeht (1). Beim erstmaligen Auftreten von Symptomen der Erkrankung zeigten sich in der Magnetresonanztomografie (MRT) häufig bereits ZNS-Läsionen, welche retrospektiv asymptomatisch verlaufen waren und somit eine präklinische Phase der MS definieren (2) (Abbildung 1, Pfeil A). Nach Eintritt in die klinische Phase der MS, deren Beginn durch das Auftreten des ersten Schubereignisses bestimmt wird, zeigt sich bei der Mehrzahl der Patienten (80–90%) zunächst ein schubförmiger Verlauf mit kompletter oder weitgehender Rückbildung der jeweiligen neurologischen Schubsymptomatik innerhalb von Tagen bis Wochen (3) (Abbildung 1, Pfeil B). Aus Bildgebungsstudien ist bekannt, dass auch in dieser Phase der MS noch zirka 6 von 7 neuen MRTLäsionen klinisch stumm verlaufen (4). Mit Ausnahme der «benignen MS», welche auch längerfristig wenig Behinderung mit sich bringt, kommt es im Verlauf der schubförmigen Erkrankung nach zirka 15 bis 20 Jahren zu einem Übergang in die sekundär-progrediente Form der MS (3) (Abbildung 1). Diese bringt parallel zu einer zunehmenden Läsionslast in der MR-Bildgebung eine zunehmende Akkumulation von neurologischen Defiziten mit sich (3). Es besteht eine ausgesprochen schwache Korrelation zwischen MR-tomografisch festgestellter Läsionslast einerseits und klinischer Beeinträchtigung andererseits. In Analogie zur entsprechenden Beobachtung im histopathologischen Bereich wird auch von einem «klinikoradiologischen Paradox» der MS gesprochen (5).
Die hier kursorisch geschilderten Phänomene münden in die Frage: Welche Mechanismen sind an der erfolgreichen funktionellen Kompensation der MS-bedingten Pathologie beteiligt?
Kompensation: Reparatur und Plastizität Neben einer suffizienten Begrenzung der akuten Entzündungsaktivität sind es Reparaturmechanismen auf zellulärer Ebene und adaptive Prozesse auf der Basis neuroplastischer Mechanismen, mit deren Hilfe eine ZNS-Schädigung kompensiert, zumindest jedoch in ihrer negativen funktionellen Auswirkung begrenzt werden kann (6). Zu den Reparaturmechanismen zählt die Remyelinisierung von Axonen, welche sich – bei interindividuell sehr unterschiedlicher Ausprägung – neuropathologisch, aber auch mithilfe neuerer MRT-basierter Methoden nachweisen lässt (7–8). Auch eine Erhöhung der Dichte von Natriumkanälen entlang des entmarkten Axons scheint zu einer Verbesserung der Impulsweiterleitung zu führen (9). Darüber hinaus gibt es tierexperimentelle Hinweise auf axonales Sprouting als Antwort auf einen Entzündungsherd in der Pyramidenbahn (10). Unter dem Überbegriff der Neuroplastizität werden adaptive Veränderungen innerhalb des ZNS zusammengefasst, die sich auf ganz unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Skalen abspielen (siehe Abbildung 2). Neuroplastizität wird in diesem Kontext als die Fähigkeit neuronaler Schaltkreise definiert, ihre Eigenschaften in Abhängigkeit von ihrer Verwendung zu verändern. Die Einwirkung einer Vielzahl innerer und äusserer Reize kann also unter bestimmten Umständen zu Änderungen der Antwort auf ebendiese Reize führen. Die Änderungen können hierbei sowohl funktioneller als auch struktureller Natur sein. Nach derzeitigem Kenntnisstand aus Untersuchungen im motorischen System beruht das schnell rekrutierbare Lernen auf synaptischer Langzeitpotenzierung (11), wohingegen lang anhaltende Lernprozesse mehr als diese Mecha-
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nismen benötigen. Wenn motorisches Lernen über mehrere Tage fortgesetzt wird und die Geschicklichkeit zunimmt, kommt es auch zu Änderungen der kortikospinalen Projektionen und der intrakortikalen Inhibition (11–12). Längerfristiges motorisches Lernen geht also mit kortikalen Reorganisationsvorgängen einher, indem neue, und nicht nur effizientere, synaptische Verbindungen hergestellt werden. Neuroplastische Vorgänge scheinen unter normalen Bedingungen die Grundlage von Erfahrung, Übung und Lernen zu sein. Sie kommen jedoch auch in Verbindung mit Erkrankungen, wie zum Beispiel bei Schlaganfall oder MS, zum Tragen, wo sie aus funktioneller Sicht sowohl nützlich (adaptiv) als auch schädlich (maladaptiv) sein können.
Wissensstand: Neuroplastizität bei Multipler Sklerose Der Nachweis von neuroplastischen Vorgängen beziehungsweise Reorganisation wurde bereits in zahlreichen Studien an MS-Patienten, in erster Linie mittels funktioneller MRT-Bildgebung (fMRT), erbracht. So wurde im visuellen System gezeigt, dass nach unilateraler Optikusneuritis trotz kompletter klinischer Erholung bei Stimulation des betroffenen Auges ein im Seitenvergleich verringertes okzipitales Aktivierungsvolumen im fMRT nachweisbar ist (13), zusätzlich jedoch eine ausgedehnte Aktivierung extraokzipitaler Regionen mit bekannter Verbindung zum visuellen Kortex auftritt (14). Das Volumen der extraokzipitalen Aktivierungen korreliert mit den Latenzen der visuell evozierten Potenziale, sodass eine kompensatorische Rolle paralleler extrastriataler Verschaltungen möglich erscheint (14). Eine longitudinale fMRT-Untersuchung bei Patienten mit Optikusneuritis zeigte im Akutstadium eine im Seitenvergleich reduzierte Aktivierung des Corpus geniculatum laterale (LGN), des lateralen okzipitalen Komplexes (LOC) sowie der visuellen Areale V1 und V2 bei Stimulation des betroffenen Auges, welche sich im Verlauf von 6 Monaten komplett normalisierte (15). Darüber hinaus stellte sich akut eine supranormale LGN-Aktivierung bei Stimulation des gesunden Auges dar, welche sich ebenfalls im Verlauf normalisierte, was auf frühe, im Zeitverlauf regrediente plastisch-kompensatorische Vorgänge im LGN hinweisen könnte (15). Eine stärkere fMRT-Aktivierung des LOC zu Beginn einer Optikusneuritis ging im Längsverlauf mit einer besseren visuellen Erholung nach 12 Monaten einher, was für eine Bedeutung früher Neuroplastizität in höheren visuellen Arealen für die funktionelle Erholung spricht (16). Auch im kognitiven Bereich wurden Reorganisationsvorgänge untersucht. Mehrere fMRT-Studien verwendeten hierzu den PASAT-Test (paced auditory serial addition task), der Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung prüft. Bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS) zeigte sich im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe bei jeweils normaler Leistung im PASAT-Test eine grössere Aktivierung bilateral und präfrontal (17). Auch bei Patienten mit manifester schubförmig-remittierender MS und allenfalls milder kognitiver Beeinträchtigung wurden während des PASAT-Tests grössere Aktivierungen bilateral und präfrontal sowie in mehreren weiteren Hirnregionen gefunden (18). Diejenige Subgruppe der Patienten, die
im PASAT-Test genauso gut abschnitt wie die gesunden Kontrollprobanden, zeigte hierbei ein deutlich vermehrtes Aktivierungsvolumen, nicht jedoch die Subgruppe der Patienten mit schlechter Performance, was auf eine kompensatorische Bedeutung der Aktivierungen hinweisen könnte (18). Anhand von Aufmerksamkeitsaufgaben zeigten Penner und Mitarbeiter bei MS-
Abbildung 1: Typischer Verlauf der schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose mit Blick auf klinische Symptomatik und Veränderungen in der Magnetresonanztomografie (MRT). Die MRT-Aktivität ist durch Gadolinium-aufnehmende (Gd+) floride Entzündungsherde sowie eine zunehmende Läsionslast in der T2-Wichtung gekennzeichnet. A, B: siehe Text. Abbildung modifiziert nach (34).
Abbildung 2: Zeitskala und vermuteter Zusammenhang neuroplastischer Prozesse im zentralen Nervensystem (ZNS). LTP: long-term potentiation; LTD: long-term depression.
Patienten mit geringer kognitiver Störung mittels fMRT vermehrte Aktivierungen im frontalen und posterioren parietalen Kortex, welche jedoch mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad der Aufgabe abnahmen. Im Gegensatz dazu unterschieden sich die Aktivierungsmuster bei schwer kognitiv beeinträchtigten MS-Patienten nicht von denen gesunder Kontrollen (19). Dies legt nahe, dass das Ausmass der erreichbaren Kompensation entscheidend von der Kapazität des Gehirns abhängt, zusätzliche Hirnareale zu aktivieren. Eine Erschöpfung dieser Kapazität ginge dann mit einer zunehmenden kognitiven Störung einher (19, 20). Allgemeiner lässt sich hieraus eine umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen fMRT-Aktivierung und kognitiver Störung postulieren, infolge derer das ZNS ab einem bestimmten Schweregrad der Erkrankung nicht mehr fähig ist, die ausgedehnten Läsionen auf der funktionellen Ebene zu kompensieren (21). Dank geeigneter Protokolle und recht guter Standardi-
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sierbarkeit des motorischen Verhaltens wurden Reorganisationsvorgänge im motorischen System bereits vielfältig untersucht. So wurde in der fMRT gezeigt, dass es bei MS-Patienten mit normaler Handfunktion im Vergleich zu Gesunden zu einer vermehrten Aktivierung des ipsilateralen sensomotorischen Kortex durch einfache Handbewegungen kommt. Das Ausmass der vermehrten Aktivierung korrelierte hochgradig mit der MR-spektroskopsich gemessenen NAA-Reduktion, einem Mass der axonalen Degeneration (22). Zusätzlich hierzu zeigte sich bei Patienten mit CIS und MS-typischen MRT-Veränderungen bei einer einfachen Fingeroppositionsaufgabe auch eine Aktivierung des lateralen prämotorischen Kortex, der Inselrinde und des Lobulus parietalis inferior. Das Ausmass der Aktivierung korrelierte dabei mit der Zeit seit Symptombeginn und mit der Läsionslast im motorischen System (23). Die Befunde beider Studien sind gut mit einer kompensatorischen Rolle der kortikalen Veränderungen vereinbar. In einer wegweisenden fMRT-Studie mit der Fragestellung, ob Reorganisationsvorgänge eher als Folge der ZNS-Schädigung oder als Folge der motorischen Behinderung anzusehen sind, wurden MS-Patienten nach dem Grad der ZNS-Schädigung (MR-spektroskopisch gemessen mittels NAA/Cr-Quotient) und nach ihrer Handfunktion (normal vs. eingeschränkt) stratifiziert. Die Hirnaktivierung wurde während einfacher passiver sowie aktiver Bewegungen untersucht. Eine höhergradige ZNS-Schädigung ging hier mit vermehrter Rekrutierung vom ipsilateralen prämotorischen und primär-sensomotorischen Kortex, ausserdem mit Veränderungen im parietalen und supplementär-motorischen Kortex einher. Innerhalb der MS-Patienten ohne motorische Beeinträchtigung variierte das Aktivierungsmuster je nach Ausmass der ZNS-Schädigung. Eine geringere motorische Behinderung ging mit einer stärker ausgedehnten neuronalen Aktivierung (bilaterale somatosensorische Areale) einher, wenn das Ausmass der ZNS-Schädigung hoch war. Hieraus lässt sich schliessen, dass neuronale Reorganisation die funktionelle Behinderung infolge der ZNS-Schädigung abschwächen kann (24). Dabei scheinen im frühen Krankheitsverlauf insbesondere die typischen, ohnehin involvierten motorischen Areale vermehrt aktiviert zu werden, in späteren Stadien kommen bilaterale Aktivierungen hinzu, schliesslich werden auch Regionen aktiviert, die bei Gesunden nur für neue beziehungsweise komplexe motorische Aufgaben rekrutiert werden (25). Dieselbe motorische Aufgabe scheint also bei MS-Patienten im Vergleich zu Gesunden eine grössere Ressourcenallokation zu erfordern (26). Dass adaptive Mechanismen über eine aussergewöhnlich lange Strecke erhalten bleiben, könnte zum günstigen Krankheitsverlauf der «benignen MS» beitragen: Bei diesen Patienten ist das fMRTAktivierungsmuster während motorischer Aufgaben nur im sensomotorischen Netzwerk verändert und ist damit demjenigen von gesunden Kontrollprobanden deutlich ähnlicher als dem Muster von Patienten mit SPMS (27). Bezüglich der schnell einsetzenden Plastizität liegen widersprüchliche fMRT-Daten vor: Die regionale Hirnaktivierung während einer wiederholten einfachen motorischen Aufgabe nahm über eine Serie von Messungen bei MS-Patienten und Gesunden vergleichbar
ab (28), in einer anderen Untersuchung war sie bei MSPatienten nicht nachweisbar (29). Ohnehin bleibt unklar, was eine Abnahme des BOLD-Signales (blood-oxygen-level dependent response) hier bedeuten soll: Handelt es sich um ein Korrelat für frühe Neuroplastizität, oder spiegelt es einfach die mit der Zeit abnehmende Aufmerksamkeit wider? An dieser Stelle stösst die funktionelle Bildgebung an ihre Grenzen, da sie keine unmittelbaren Rückschlüsse auf funktionelle und kausale Zusammenhänge erlaubt. Neurophysiologische Stimulationstechniken hingegen ermöglichen eine direkte Messung von Exzitabilität und Exzitabilitätsveränderungen. In eigenen Untersuchungen wurde die Rolle der schnell einsetzenden, Exzitabilität steigernden zentralmotorischen Plastizität bei MS-Patienten untersucht. Die zeitlich kurzfristig einsetzende Plastizität ist insofern von grossem Interesse, als sie wahrscheinlich den ersten Schritt zu den sich langsamer entwickelnden Reorganisationsprozessen darstellt und im Sinne eines «Nadelöhrs» einer erfolgreichen Langzeitreorganisation potenziell im Wege stehen könnte (Abbildung 2). Zur neurophysiologischen Induktion von Plastizität wurde ein assoziatives Paarstimulationsprotokoll (repetitive elektrische Nervenstimulation + transkranielle Magnetstimulation [TMS] des kontralateralen motorischen Kortex) verwendet, das eine modellhafte Untersuchung der synaptischen Langzeitpotenzierung im menschlichen Kortex ermöglicht. Die übungsinduzierte Plastizität wurde mit einer motorischen Lernaufgabe untersucht. Es zeigte sich, dass sowohl die stimulations- als auch übungsinduzierte Plastizität bei leicht- bis mässiggradig betroffenen MS-Patienten im Vergleich zu Gesunden nicht beeinträchtigt war, und zwar unabhängig vom Ausmass der ZNS-Schädigung und der motorischen Beeinträchtigung (30). In Untersuchungen zur Exzitabilität reduzierenden Plastizität kam die sogenannte kontinuierliche Theta-burst-Stimulation (cTBS) zur Anwendung, die mittels kurzer Salven aus unterschwelligen TMS-Pulsen die Erregbarkeit des primären Motorkortex (M1) reduzieren kann. cTBS über M1 führte dabei zu einer Reduktion der M1-Exzitabilität (gemessen mittels motorisch evozierter Potenziale), die sich zwischen MS-Patienten und Kontrollen nicht unterschied. Darüber hinaus kam es in beiden Gruppen zu einer passageren Verschlechterung der dosierten Kraftentwicklung in einer Daumenabduktionsaufgabe (31).
Abbildung 3: Hypothese der Krankheitsprogression bei Multipler Sklerose: Klinische Beeinträchtigung als Nettoresultat von strukturellem Schaden und funktioneller Reorganisation. Abbildung modifiziert nach (35).
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Dass die kortikale Reorganisation im makroskopischen Massstab nicht nur eine Begleiterscheinung der MS darstellt, sondern funktionelle Relevanz besitzt, konnte mittels Einzelpuls-TMS gezeigt werden. Leicht- bis mässiggradig beeinträchtigte MS-Patienten und gesunde Kontrollprobanden mussten auf ein zufällig präsentiertes akustisches Signal schnell mit einer Daumenabduktion reagieren. Während dieser Reaktionszeitaufgabe wurde die neuronale Prozessierung alternativ in zwei ipsilateral zur untersuchten Hand gelegenen Regionen, nämlich in M1 oder im dorsalen prämotorischen Kortex (PMd), durch eine «virtuelle Läsion» gestört. Nur bei den MS-Patienten, nicht jedoch bei den Kontrollen führte die Störung einer der ipsilateralen Regionen zu einer Verlängerung der Reaktionszeit. Je stärker allerdings die MS-bedingte Läsion der Pyramidenbahn war (gemessen mittels kortikomuskulärer Latenz), desto geringer fielen die Reaktionszeitänderungen infolge der PMd-Stimulation aus. Die Rekrutierung ipsilateraler motorischer Areale scheint also eine kompensatorisch relevante, allerdings limitierte adaptive Reaktion auf die chronische ZNS-Schädigung zu sein (32).
Ausblick: Klinische Implikationen
In Zusammenschau der neurophysiologischen Be-
funde ergibt sich kein Anhaltspunkt für eine Einschrän-
kung der früh einsetzenden zentralmotorischen Plas-
tizität bei mässiggradig betroffenen MS-Patienten, so-
dass die Kompensation der MS-bedingten ZNS-Schädi-
gung an dieser Stelle offenbar nicht gebremst wird
(30–31). Vieles spricht dafür, dass die Rekrutierung zu-
sätzlicher Hirnareale bei einfachen motorischen Aufga-
ben die ZNS-Schädigung kompensiert – zumindest für
die ipsilateralen motorischen Areale gibt es dafür ein-
deutige Belege (32). Rehabilitative Therapien sollten
daher auf Mechanismen zielen, welche die späteren
Stufen der motorischen Plastizität modifizieren, insbe-
sondere im Licht der Hypothese, dass die klinische Be-
einträchtigung eines MS-Patienten als Nettoresultat
von strukturellem Schaden auf der einen und funktio-
neller Reorganisation auf der anderen Seite aufgefasst
werden kann (siehe Abbildung 3).
Systematische und gut standardisierte Untersuchun-
gen zur Plastizität infolge rehabilitativer Anstrengun-
gen bei MS-Patienten sind bisher rar (cf. [33] für die
kognitive Domäne), weitere Studien sind unbedingt er-
forderlich. Ein grundlegenderes Verständnis der neuro-
plastischen Vorgänge und des Einflusses pharmakologi-
scher und rehabilitativer Strategien auf diese Prozesse
ist elementar für die Entwicklung geeigneter Therapien,
die zum Erhalt beziehungsweise Wiedergewinn von
Funktionen und damit zur bestmöglichen Selbststän-
digkeit von MS-Patienten beitragen können.
●
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Daniel Zeller
Facharzt für Neurologie
Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsklinikum Würzburg
Josef-Schneider-Str. 11
D-97080 Würzburg
Tel. ++49 (0)931 201 246 17
E-Mail: zeller_d@klinik.uni-wuerzburg.de
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