Transkript
FORTBILDUNG
Aktuelle Therapie der MS 2012
«Es ist nicht alles Gold, was glänzt»
2/2012
Intensiv wird nach neuen Medikamenten in der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) geforscht. Welchen Stellenwert die heutigen Medikamente in der Therapie einnehmen und welche Vorteile die Swiss Multiple Sclerosis Cohort-Study haben wird, erklären Prof. Ludwig Kappos, Chefarzt am Universitätsspital Basel und Präsident der Schweizerischen MS-Gesellschaft, und Dr. Jens Kuhle, Oberarzt am Universitätsspital Basel und Koordinator der Swiss MS-Cohort Study.
Psychiatrie & Neurologie: Die therapeutischen Optionen in der Behandlung der MS haben sich erweitert. Was bleibt trotz allen Neuerungen in der Therapie der MS enttäuschend? Prof. Ludwig Kappos: In der Tat hat sich das therapeutische Armentarium in den letzten Jahren vor allem für die schubförmige MS deutlich erweitert. Schwierig zu therapieren sind nach wie vor die progredient verlaufenden Formen der MS. Mit den derzeit zur Verfügung stehenden Substanzen gelingt es sehr gut, die Entzündung im Gehirn und im Rückenmark zu unterdrücken. Es ist aber noch umstritten, wie stark durch diese Therapien die neurodegenerative Komponente der Erkrankung beeinflusst wird. Bessere Therapien für die progredienten MS-Verläufe zu entwickeln, stellt ein wichtiges Ziel der kommenden Jahre dar.
Ludwig Kappos
Beginnen Sie bei neuen Patienten grundsätzlich mit Interferonen oder mit Fingolimod – oder gar mit einem andern Präparat? Ludwig Kappos: In aller Regel besprechen wir mit den Betroffenen alle Optionen: die drei Interferone (IFN), Glatirameracetat (GA) und Fingolimod. Mit den IFN und GA haben wir nun schon über einen Zeitraum von fast 20 Jahren Erfahrungen sammeln können. Sie sind sehr sicher und bei den meisten Patienten – trotz der Notwendigkeit von Injektionen – gut verträglich. Hinsichtlich der Interferone ist zu beachten, dass sie zu Beginn der Therapie in langsam aufsteigender Dosis eingesetzt werden und dass zusätzlich eine prophylaktische Therapie mit einem nicht steroidalen Antirheumatikum durchgeführt wird. Fingolimod hat zumindest gegenüber einem IFN eine bessere Wirksamkeit nachweisen können, kann einmal täglich eingenommen werden und ist für die meisten Patienten sehr gut verträglich gewesen. Was dagegen spricht, ist, dass es mit diesem Präparat noch keine langjährige Erfahrung auf breiter Basis gibt. Eindeutige Vorteile hat Fingolimod in Situationen, in denen Interferone oder Glatirameracetat trotz aller die Nebenwirkungen beeinflussender Massnahmen nicht vertragen werden, oder in Situationen, in denen beispielweise eine ausgeprägte Spritzenphobie vorliegt.
Jens Kuhle
Was für spezifische Gründe gibt es, bei Interferon zu bleiben? Dr. Jens Kuhle: Wie erwähnt stellen die Interferone eine äusserst sichere Gruppe von MS-Therapeutika dar. Es gibt durchaus Patienten, die unter einer derartigen Therapie sowohl klinisch als auch in der Magnetresonanztomografie (MRI) keine Zeichen der Krankheitsprogression aufweisen. Bei diesen ist es nicht nötig, zu einer Eskalation, etwa mit Fingolimod oder Natalizumab, zu greifen.
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
3
FORTBILDUNG
Quelle: Mediapero Bayer 2010
Wie bedeutend ist die Dosierung bei den Interferonen? Ludwig Kappos: Obwohl es einige wenige Studien gibt, die darauf hinweisen, dass gewisse Dosiseffekte bei den Interferonen vorhanden sind, ist die Evidenz für eine höhere Wirksamkeit durch höhere Dosen beschränkt. Beispielsweise konnte für die doppelte Dosis
Interferon beta-1b keine höhere Wirksamkeit hinsichtlich klinischer oder MRI-Endpunkte im Vergleich mit der herkömmlichen Dosis und im Vergleich zu Glatirameracetat gefunden werden. Auch in einer kürzlich veröffentlichten Studie zu Interferon beta-1a, in der zwei verschiedene Dosierungsfrequenzen bei CIS-(Clinically-Isolated-Syndromes-)Patienten verglichen wurden, zeigten sich keine entscheidenden Vorteile hinsichtlich der Entwicklung einer klinisch gesicherten MS in der häufiger dosierten Gruppe.
Soll/Kann man Patienten, die gut auf Interferone angesprochen haben und schubfrei sind, auf Fingolimod umstellen, und wie verläuft die Umstellung? Jens Kuhle: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine guten Gründe, diese Patienten auf Fingolimod umzustellen, ausser wenn Compliance-gefährdende Nebenwirkungen bestehen. Prinzipiell gehen wir davon aus, dass eine Umstellung von einem Interferon oder Glatirameractetat auf Fingolimod ohne ein therapiefreies Intervall, also letztlich von einem Tag auf den anderen, vorgenommen werden kann.
Gibt es Patienten, die zwar auf Interferone angesprochen haben, unter Fingolimod aber wieder Schübe entwickeln? Ludwig Kappos: Hierzu gibt es aufgrund der oben geschilderten Gründe nur wenig Erfahrungswerte. Patienten, die unter einer der bewährten Therapien keine Krankheitsaktivität zeigen, werden in der Regel nicht auf Fingolimod umgestellt. In den kontrollierten Studien haben die Patienten, die vorgängig mit IFN oder GA behandelt waren, ähnlich gut wie «BehandlungsNaive» auf Fingolimod angesprochen.
Wie reagieren Sie, wenn ein Patient mit den Anliegen an Sie herantritt, lieber von Injektionen auf orale Medikation zu wechseln? Jens Kuhle: Diese Entscheidungen treffen wir gemeinsam mit dem Patienten. In diesen Situationen ist es wichtig zu eruieren, ob hinsichtlich der Schubaktivität und etwaiger Progressionszeichen im MRI von einer zufriedenstellenden Wirkung der aktuellen Therapie ausgegangen werden kann. Ist dies nicht der Fall, so stellt der Wechsel auf ein orales Präparat durchaus ein probates Mittel dar. Sind keine Zeichen von Krankheitsaktivität unter dem zu injizierenden Medikament vorhanden, liegt eine andere Situation vor. Hier sollte zunächst besprochen werden, ob durch lokale oder systemische Massnahmen eine bessere Verträglichkeit erreicht werden kann, beispielsweise durch instruktive Massnahmen zur Verbesserung der Injektionstechnik oder die Verordnung von Antirheumatika.
Was für einen Stellenwert hat Natalizumab in der heutigen Therapie? Ludwig Kappos: Natalizumab ist nach wie vor ein sehr effektives Medikament und spielt im Rahmen der Eskalationstherapie bei schubförmigem Verlauf eine wichtige Rolle. In derzeit laufenden Studien wird sich bestätigen müssen, ob die Bestimmung von JCV-Antikörpern im Blut tatsächlich eine verlässliche Methode der Risikostratifizierung darstellt. Zurzeit geht man davon aus, dass Patienten ohne diese Antikörper ein sehr geringes Risiko der Entwicklung einer sogenannten progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) haben. Falls sich dies bewahrheitet, stellt dieser Test durchaus einen ersten Schritt in Richtung individualisierter Therapie dar.
Sollte man bei JVC-Antikörper-positiven Patienten zu Interferonen wechseln oder zu Fingolimod? Ludwig Kappos: Dies ist eine schwierig zu beantwortende Frage und muss individuell im Einzelfall erörtert werden. Das Risiko einer PML ist auch von der Dauer der Natalizumabtherapie und von einer möglichen immunsuppressiven Vortherapie abhängig. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Wechsel auf ein Interferon nach einer Behandlung mit Natalizumab sprechen eher dafür, dass es zu einem Wiederaufflammen der Krankheitsaktivität kommt.
In der Pipeline sind verschiedene monoklonale Antikörper wie Daclizumab, Atacicept, Alemtuzumab, Ocrelizumab. Wird sich die Therapie der MS dadurch entscheidend verändern? Jens Kuhle: Es ist durchaus zu erwarten, dass die von Ihnen erwähnten Präparate weitere Fortschritte bei der Behandlung der MS mit sich bringen werden. Hier müssen aber auch weitere Daten zur längerfristigen Wirkung und Verträglichkeit gesammelt werden, und «es ist nicht alles Gold, was glänzt». So mussten wir eine Phase-II-Studie mit dem rekombinanten – gegen B- und Plasmazellen gerichteten – Protein Atacicept aufgrund erhöhter Schubhäufigkeit vorzeitig abbrechen.
Am 14. State-of-the-Art-Symposium wurde die neue MS-Cohort-Study vorgestellt. Welche Vorteile bringt ein solches Registry?
&4 2/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Jens Kuhle: Bei der Swiss Multiple Sclerosis CohortStudy (SMSC-Study) handelt es sich um ein, gerade jetzt, für die weitere Entwicklung der MS-Forschung in der Schweiz sehr zentrales und aktuelles Projekt, das die in den letzten Jahren in verschiedenen universitären und kantonalen Einrichtungen der Schweiz gewachsene Kompetenz auf den Gebieten der Immunologie, Molekularbiologie, Neuropathologie, klinischen Therapieforschung und Bildgebung bündeln und koordinieren wird. Durch den Einbezug einer grossen Gruppe von umfassend dokumentierten, motivierten MS-Betroffenen werden optimale Voraussetzungen für eine neue Stufe der Verbindung zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung geschaffen. Neue, für die differenzierte Diagnostik und möglichst individuell angepasste Therapie der MS relevante Erkenntnisse können so direkt überprüft werden und einen Weg in die Anwendung finden. Im Zusammenhang mit der Einführung neuer Medikamente zur Behandlung der MS können wichtige Daten zu deren Wirkung und Nebenwirkungen unter Praxis-
bedingungen im Langzeitverlauf gewonnen werden.
Diese Schweizer Initiative ergänzt sich mit ähnlichen
langfristig angelegten Projekten in anderen Ländern
und erlaubt es, das Potenzial und die Exzellenz der be-
teiligten Schweizer Forschenden optimal in internatio-
nale Initiativen einzubringen.
●
Korrespondenzadresse:
Prof. Ludwig Kappos, MD
Chefarzt
Neurologische Klinik und Poliklinik mit MS-Zentrum
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel
E-Mail: lkappos@uhbs.ch
Dr. Jens Kuhle Oberarzt Neurologische Klinik und Poliklinik mit
MS-Zentrum und Departement Biomedizin Universitätsspital Basel
Koordinator der Swiss MS-Cohort Study
&6 2/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE