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EDITORIAL
«Defizitorientierte Denkansätze müssen relativiert werden»
« H äufiges ist häufig, Seltenes ist selten» – ein Satz, den sich bereits Medizinstudenten merken und der auch für die vorliegende Ausgabe der «Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie» gelten soll. So widmet sich dieses Heft erneut aktuellen Aspekten von zwei Krankheitsbildern, die für das neuropsychiatrische Fachgebiet von grosser Bedeutung sind und in letzter Zeit einen weiteren Erkenntniszuwachs erfahren konnten. In Ergänzung zu den in den letzten Jahren in dieser Zeitschrift bereits erschienenen Schwerpunktheften zu Demenzen und Multipler Sklerose greifen die Herausgeber diese Themen auf, um der Bedeutung dieser Syndrome gerecht zu werden. Gemeinsam lassen die vorgestellten Krankheitsbilder eine zugrunde liegende hirnorganische Pathologie erkennen, die eine Vielzahl von seelischen, funktionellen und sozialmedizinischen Auswirkungen für die Lebensund Alltagsbewältigung der Patienten nach sich zieht. Neben neuen diagnostischen Wegen konnten insbesondere die medikamentösen, aber auch die nichtmedikamentösen Möglichkeiten zum Wohle der Betroffenen spürbar erweitert werden. Die Autoren beleuchten die Themenkomplexe aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Im ersten Heftabschnitt mit gerontopsychiatrischem Schwerpunkt beschreibt Prof. François Höpflinger Altersbilder aus soziologischer Sicht, wobei die in früheren Jahren vorherrschenden defizitorientierten Denkansätze relativiert werden, um neuen, differenzierteren Sichtweisen Platz zu machen. Johannes Kipp stellt die ketzerische Frage, ob denn Psychotherapie im Alter überhaupt noch sinnvoll sei, um dem Leser dann doch die vielfältigen therapeutischen Optionen vor Augen zu führen. Medikamentöse Haupt- und Nebenwirkungen im Alter werden von Prof. Dieter Loew vor dem Hintergrund altersspezifischer, physiologischer und pharmakokinetischer Aspekte dargelegt, und es wird empfohlen, Phytopharmaka nicht aus den Augen zu verlieren.
Im zweiten Teil der Ausgabe geht der Kongressbe-
richt über das 14. State-of-the-Art-Symposium in
Luzern auf neueste Entwicklungen in der MS-For-
schung ein. In seiner Arbeit über Neuroplastizität
bei Multipler Sklerose beschreibt Dr. Daniel Zeller
anschaulich das interessante Gebiet der Neuro-
plastizität, das auf Möglichkeiten von Reparatur-
mechanismen hoffen lässt. Hierzu ergänzend er-
läutert Dr. Claude Vaney in seinem Interview über
Rehabilitation bei Multipler Sklerose unterschied-
lichste therapeutische Optionen auf psychischen,
medikamentösen und funktionellen Ebenen und
liefert fundierte Gegenargumente gegen einen
therapeutischen Nihilismus.
Wir sind sicher, dass die nachfolgenden Artikel zu
diesen komplexen Themenbereichen Ihr Interesse
finden, und wünschen Ihnen ein anregendes
Lesestudium.
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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Henning Wormstall
Leitender Arzt
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Spitäler Schaffhausen
Breitenaustr. 124
8200 Schaffhausen
Themenverweise:
● Neuroplastizität bei MS: Hinweise verdichten sich, dass neuroplastische Prozesse an der erfolgreichen Kompensation der MS-bedingten ZNS-Schädigung einen relevanten Anteil haben. Im Beitrag von Dr. Daniel Zeller wird die Neuroplastizität in verschiedenen Domänen dargestellt. Seite 8.
● Psychotherapie alter Menschen: Spezifische Gesichtspunkte sind bei der Psychotherapie älterer Menschen, unabhängig von der angewandten Methode, zu berücksichtigen, damit diese wirksam ist. Seite 20.
2/2012
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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