Transkript
Multiple-Sklerose-Symposium, Bern, 2016
Entwicklungen in der MS-Forschung
SYMPOSIUM
Aktuelle Entwicklungen in der Diagnostik und heutige sowie zukünftige Therapien der Multiplen Sklerose (MS) standen im Mittelpunkt des Berner MS-Symposiums. Die Veranstaltung diente aber auch der Vorstellung neuer Teamärzte in der Berner Neurologie am Inselspital. Der international anerkannte MS-Forscher Prof. Andrew Chan hat zu Jahresbeginn die Leitung des Ambulanten Neurozentrums übernommen. Den einleitenden Vortrag hielt der renommierte MS-Experte Prof. Xavier Montalban, Leiter und Direktor der Neurologie am Universitätsspital Vall D’Hebron in Barcelona (E) und Präsident des ECTRIMS-Exekutivkomitees.
D ie Multiple Sklerose (MS) sei die häufigste Ursache für eine vorzeitige Behinderung im frühen Erwachsenenalter, sagte einleitend Prof. Montalban. Aufgrund der immensen Auswirkungen auf das Leben seien drei der wichtigsten Ziele in der MS-Forschung der Erhalt einer exakten Diagnose, die frühestmögliche Behandlung und die Identifikation von Nonrespondern. Denn früh zu diagnostizieren, heisst auch, früh mit der Behandlung beginnen zu können. Studiendaten weisen darauf hin, dass eine frühe Therapie mit einem günstigeren Krankheitsverlauf einhergeht. Das Problem: Die Diagnostik ist hochkomplex. Nicht alle auffälligen Spots in der Magnetresonanz können der MS zugeordnet werden. Erschwerend ist zudem, dass eine gute Behandlung bei der schubförmig remittierenden Verlaufsform und dem klinisch isolierten Syndrom (CIS) vorliegt, aber weniger Optionen bei der sekundär chronisch progredienten Verlaufsform vorhanden sind; bei der primär progressiv verlaufenden Form der MS ist bis anhin keine verlaufsmodifizierende Therapie zugelassen. In der «offiziellen» MS-Behandlung ist Alemtuzumab neu dazugekommen. Ein Medikament, das laut Montalban Bewegung in die Behandlung gebracht hat. Am Universitätsspital Vall D’Hebron ist die Behandlung der MS nach Angaben von Prof. Montalban ein Teamentscheid. In der Behandlungsplanung nimmt insbesondere die Familie eine wichtige Rolle ein, da diese für Kontinuität und Adhärenz der Behandlung wichtig ist. Diskutiert wird über Kriterien, die die Krankheitsaktivität besser abbilden. Das früher ermittelte Fehlen messbarer Krankheitsaktivität wurde anfänglich als «frei von Krankheitsaktivi-
tät» (DAF) bezeichnet. Eine gewisse Krankheitsaktivität ist trotz der besseren diagnostischen Kriterien aber nicht immer nachzuweisen. DAF liegt vor, wenn es keine Schübe gibt, keine MRI(Magnetresonanztomografie)-Aktivität nachweisbar ist und die Behinderungsprogression sich nicht bestätigen lässt. Mit dem Kriterium Hirnatrophie (Erhalt des Hirnvolumens) ist ein neues Kriterium dazugekommen: der NEDA-4. Denn die Hirnatrophie gilt als Prädiktor für eine langfristige Krankheitsprogression. «Aber ist NEDA-4 auch in der Klinik entscheidend?», hinterfragte Montalban diesen Parameter.
MR-Atrophiemessung im klinischen Alltag Eine ähnliche Frage stellte auch Prof. Roland Wiest, Leitender Arzt, Universitätsinstitut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am Inselspital Bern. «Wir sollen die Therapie nach der Atrophie richten, aber was heisst eigentlich Atrophie?», so Wiest. Bis anhin wird im MRI gesamtvolumetrisch gemessen. «Interessant wären jedoch volumetrische Subanalysen von einzelnen Hirnregionen, und das ist in der Diagnostik eine ganz neue Entwicklung», sagte Prof. Wiest. In der Neuroonkologie befinden sich derzeit automatisierte Segmentierungsmethoden in Erprobung. Die in Bern entwickelte Software BraTumIA (Brain Tumor Image Analyzer) nutzt Methoden des sogenannten Machine Learning (Computer werden durch Expertenwissen trainiert und erkennen Veränderungen des Gehirns automatisch), berechnet das Tumorvolumen dreidimensional und bestimmt die Gewebestrukturen des bösartigen Tumors bis ins Detail. Das Berner Team hat die Tumorsoftware
für die MS-Diagnostik weiterentwickelt. Die Software BRALIA (Brain Lesion Image Analysis) lernt, MS-Läsionen auf dem MRI zu erkennen und errechnet zudem Volumina der grauen und der weissen Hirnsubstanz sowie der Hirnflüssigkeit und unterteilt die Läsionen innerhalb von fünf Minuten in akute und chronische Hirnveränderungen. «Es braucht bei der Diagnostik der MS neue Strategien und Tools, um morphometrische Analysen machen zu können», sagte Prof. Wiest. «Probleme bereiten nach wie vor die Einflüsse von Flüssigkeitsgehalt und Medikamenteneinnahme auf Veränderungen des Hirnvolumens.» Systeme zur Volumenberechnung und Läsionserkennung für die MS werden derzeit auch an verschiedenen anderen Zentren entwickelt und getestet.
Vitamin D und MS Seit 2010 sind Publikationen zu den Effekten von Vitamin D bei MS zahlenmässig stark angestiegen. Für MS-Patienten gelten dieselben Richtlinien wie für die Allgemeinbevölkerung, sodass ein 25(OH)D3-Spiegel unter 50 nmol/l als Mangel angesehen wird. Nicht eindeutig ist die Studienlage in Bezug auf die Bedeutung von Vitamin D als Risikofaktor für MS. «Studien weisen darauf hin, dass der Geburtsmonat Mai im Vergleich zum November ein höheres Lebenszeitrisiko für die Entwicklung einer MS aufweist», sagte Dr. Robert Hoepner, Assistenzarzt am Klinikum der RuhrUniversität in Bochum. Als Ursache hierfür wird eine während der Schwangerschaft weniger starke Sonneneinstrahlung diskutiert. Auch Chan et al. konnten nachweisen, dass ein kontinuierlicher VitaminD-Abfall im Serum 1 bis 2 Jahre vor Erstmanifestation der MS nachweisbar ist. Ascherio et al. haben zudem eine rund 50-prozentige Steigerung der Effektivität einer Interferontherapie bei Patienten mit suffizientem im Vergleich zu solchen mit insuffizientem 25(OH)D3-Serumspiegel aufgezeigt. In einer eigenen aktuellen Forschungsarbeit untersucht Dr. Hoepner, ob eine zusätzliche Vitamin-D-Substitution die Wirksamkeit einer Kortisonpulstherapie bei MS-Patienten verbessern kann. Hierbei zeigten sich bis anhin erste positive Ergebnisse. Trotz aller deutlichen Hinweise für einen therapeutischen Effekt des Vitamin D, so Hoepner, kann derzeit nur von einer Assoziation gesprochen werden, da grosse prospektive Therapiestudien weiterhin ausstehen.
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PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
SYMPOSIUM
Nutzen-Risiko-Abwägungen moderner Immuntherapie In den letzten Jahren sind einige neue Therapieoptionen dazugekommen. «Die sogenannt richtige Therapie zu finden, ist ein schwieriger Entscheid in der Nutzen-Risiko-Abwägung», sagte Prof. Chan. So ist die Patientengruppe heterogen und weist unterschiedliche Risiken auf: Welche Vortherapien hat es beispielsweise gegeben, welches Alter hat der Betroffene, ist bei Frauen ein Kinderwunsch vorhanden, liegt neben der MS vielleicht noch eine andere Begleiterkrankung vor? Zudem möchten die Betroffenen auch in den therapeutischen Entscheid miteinbezogen werden. Welche Probleme das mit sich bringen kann, verdeutlichte er am Fallbeispiel einer 14-jährigen jungen Frau mit früher schubförmiger MS. So fehlen für dieses Alter Langzeitdaten über die «richtige» Therapie. Mit älteren sogenannten Plattformtherapien (Interferon-beta, Glatirameracetat) liegen längere Sicherheitserfahrungen vor, sodass für vulnerable Gruppen häufig diese Medikamente empfohlen werden. Allerdings spielt gerade auch in dieser Altersklasse die Therapieadhärenz eine wesentliche Rolle. So lag bei einer eigenen Untersuchung laut Chan nur bei 4 Prozent der Patienten eine volle Adhärenz für Interferone über 2 Jahre vor (Steinberg et al). Und wie sieht es aus, wenn nicht nur nach Schüben therapiert wird, sondern auch nach den Ergebnissen der Kernspintomografie, des Behinderungsgrades aufgrund der Krankheit und der kognitiven Parameter? Oder wie wird entschieden, wenn sich Frauen ein Kind unter der Behandlung wünschen? Bei der jungen Frau kam erschwerend hinzu, dass die Familie einen Teil der Therapie selbst bezahlen musste. Obwohl die junge Frau unter Fingolimod sehr gut eingestellt war, wollte sie die Therapie deshalb abbrechen. Eine eindeutige Beantwortung der Frage betreffend Risiko-Nutzen-Abwägung sei deshalb nur im individuellen Kontext möglich, und eine für alle Patienten gleichermassen gültige Therapieempfehlung gebe es nicht, so das Fazit von Prof. Chan.
Symptomatische Therapie der MS Lau Definition ist ein Schub ein neues neurologisches Defizit, das mindestens 24 Stunden anhält und bei dem kein Fieber oder keine Infektion vorliegt, da sonst ein sogenannter Pseudoschub vorliegen könnte. Die Schubbe-
handlung erfolgt mit einer hoch dosierten Glukokortikoidtherapie. Bestehen die schweren Symptome trotzdem fort, kann die Glukokortikoidbehandlung in höheren Dosierungen wiederholt werden. Sollte dies ebenfalls zu keiner Besserung der Symptome führen, kann mittels Plasmapherese oder Immunadsorption behandelt werden. PD Dr. Christian Kamm, Oberarzt an der Neurologie am Inselspital Bern, behandelt weniger schwere Fälle zurzeit häufiger mit oralem Medrol und hat damit gute Erfahrungen gemacht. Die symptomatische Behandlung der MS ist vielfältig. Dazu zählt unter anderem die Therapie kognitiver Defizite, der Spastik, der Fatigue, der sexuellen Dysfunktion und der Miktionsstörungen.
Spastik Die physiotherapeutische Behandlung ist bei der Spastik zentral, so Dr. Kamm. Medikamentös bewährt haben sich Behandlungen mit Cannabis, Baclofen und/oder Tizanidum. Sind einzelne Muskeln betroffen, bietet sich die Behandlung mit Botoxinjektionen an.
Fatigue Wichtig ist die Chronohygiene mit Einhaltung der schlafhygienischen Massnahmen. Wenn möglich, sollten Ruhepausen im Alltag eingeplant werden. Bewährt haben sich zudem Amantadine sowie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Venflaxin und Modanafil (2-Benzhydrylsulfinylacetamid).
Kognition Bei der Therapie kognitiver Defizite hat sich ein störungsspezifisches kognitives Training bewährt, zudem die Angehörigenberatung und die Vermittlung von Kompensationsstrategien. Bei den medikamentösen Therapien sind Donezepil, Rivastagmin und Memantin nicht wirksam.
Miktionsstörungen Eindeutig ist die Studienlage bei den Miktionsstörungen. «Die medikamentösen Therapien haben sich bewährt», sagte Dr. Kamm (siehe Kasten). Bei den nicht medikamentösen Strategien sind die Verhaltenstherapie, die Selbstkatheterisierung und das Beckenbodentraining wirksam.
Viele MS-Patienten leiden zudem unter einer
sexuellen Dysfunktion. Die Psychotherapie
unter Einbezug des Partners und PDE-5-Hem-
mer haben sich hier als wirksam erwiesen. Bei
den Gangstörungen wiederum sind gute Er-
folge mit Fampridine zu erzielen.
Die stationäre Rehabilitation ist in der Behand-
lung der symptomatischen Therapie überaus
wichtig und zu wiederholen, so Kamm. «Im
besten Fall jährlich, da sich durch das Fort-
schreiten der Erkrankung auch die Symptoma-
tik verändert.»
Damit weltweit Studien von gleichen Parame-
tern ausgehen und den Neurostatus gleich be-
werten, wurde der Score EDSS (Expanded
Disability Status Scale) entwickelt. Das Skalen-
system umfasst die Behinderung von neuro-
logischen Patienten und soll bei der Ein-
schätzung der adäquaten Therapie helfen. Ins-
besondere das Basler Neurologieteam hat an
der Ausarbeitung des komplexen Tests mitge-
arbeitet.
G
Annegret Czernotta
Quelle: Multiple Sklerose Symposium, 21.1.16 im Inselspital Bern.
Kasten:
Medikamentöse Therapie von Miktionsstörungen
Detrusor-Hyperreflexie (Urge Incontinence) Darifenacin (Emselex©), Tolterodin L-tartat (Detrusitol©), Desmopression (Minirin©), Botox (M. detrusor)
Detrusor-Hyporeflexie (Harnretention, Überlaufblase) Tamsulosin (Pradif©), Selbstkatheterisierung, suprapubischer Katheter
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie Individualisiert je nach Ausprägung der Dyssynergie
Harnsäuerung bei rezidivierenden Harnwegsinfekten Methionin oder Cranberrypräparate
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PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
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