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Immunmodulierende Therapien bei progredienter Multipler Sklerose: Ist endlich ein Durchbruch in Sicht?
FORTBILDUNG
Im Gegensatz zur rasanten Zunahme der Therapieoptionen bei der schubförmigen Multiplen Sklerose stehen zur Behandlung der progredienten Multiplen Sklerose bis anhin kaum Therapien zur Verfügung. Erstmalig konnte nun in einer Phase-III-Studie mit einem B-Zell-depletierenden Antikörper bei Patienten mit primär progredienter Multipler Sklerose ein Therapieerfolg erzielt werden. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die zurzeit verfügbaren Therapieoptionen bei progredienter Multipler Sklerose und liefert aktuelle Hintergründe zur B-Zell-Depletion als neuer Behandlungsmethode.
Anne-Katrin Pröbstel Tobias Derfuss
Anne-Katrin Pröbstel und Tobias Derfuss
Progrediente Multiple Sklerose – das therapeutische Dilemma
D ie Therapielandschaft der Multiplen Sklerose (MS) erlebte in den letzten zwei Jahrzehnten einen dramatischen Wandel. Derzeit sind in der Schweiz mehr als zehn immunsupprimierende/-modulierende Therapien für die schubförmige MS (relapsing-remitting MS, RRMS) im Handel verfügbar. Weitere vielversprechende Therapeutika befinden sich in der (prä-)klinischen Entwicklung. Im Gegensatz hierzu stehen für Patienten mit progredienten Formen der Erkrankung keine oder kaum Therapieoptionen zur Verfügung. Das betrifft sowohl Patienten mit schleichendem Verlauf von Beginn (primär progrediente MS, PPMS) als auch solche, die nach einem schubförmigen Beginn im Verlauf in eine sekundäre Krankheitsprogression übergehen (sekundär progrediente MS, SPMS). Insgesamt sind über 50 Prozent der weltweit 2,3 Millionen MS-Patienten von einem progredienten Verlauf betroffen (1). Dieses therapeutische Vakuum stellt nicht nur eine Herausforderung für die behandelnden Ärzte und die wissenschaftliche Gemeinschaft dar, sondern führt vor allem zu Ängsten, Unsicherheit und Frustration bei den betroffenen Patienten und ihren Angehörigen (2). Die progrediente Phase der MS ist der bestimmende Faktor für den Schweregrad der Behinderung (3). Die Gründe für das unterschiedliche therapeutische Ansprechen sind vielfältig. Einer der Hauptgründe hierfür ist, dass in der progredienten Phase der MS die Entzündungskomponente in den Hintergrund tritt. In dieser Phase der Erkrankung kommt es zu einer fortschreitenden Degeneration des Nervensystems, die eher Folge der zurückliegenden Entzündungswellen ist als Ausdruck einer gerade ablaufenden, akuten entzündlichen
Aktivität. Neben dieser neurodegenerativen Komponente ist die klinische Progression auch Ausdruck einer erschöpften Kompensationsreserve des Gehirns. Während Schäden am Anfang der Erkrankung sowohl durch Reparaturprozesse als auch durch funktionelle Reorganisation kompensiert werden können, sind diese Möglichkeiten der Regeneration mit Fortschreiten der Schädigung nicht mehr möglich. Die zurzeit zugelassenen Therapien nehmen hauptsächlich einen Einfluss auf die Entzündungskomponente und wirken dementsprechend vor allem in der schubförmigen Phase der MS. Trotzdem konnte für einige Therapien ein gewisser Effekt auch in der progredienten Phase gezeigt werden. Das folgende Kapitel und Kasten 1 liefern eine Zusammenfassung der gegenwärtig zugelassenen Therapien.
Progrediente Multiple Sklerose – Status quo Die aktuell zugelassenen immunmodulierenden/-supprimierenden Therapeutika zur Behandlung der progredienten MS sind spärlich. Bis heute steht zur Behandlung der primär progredienten MS keine einzige wirksame Therapie zur Verfügung. Für die sekundär progrediente MS stehen wenige Therapeutika zur Verfügung. Die Wahl der Therapie wird massgeblich durch das Vorhandensein von entzündlicher Aktivität entschieden. Ist neben der Progression noch entzündliche Aktivität nachweisbar, kann mit Interferon beta-1a s.c. (Rebif®) und Interferon beta-1b s.c. (Betaferon®, Extavia®) versucht werden, die Krankheitsprogression zu beeinflussen. Mitoxantron wie auch Cyclophosphamid zeigen einen gewissen Effekt bei der sekundär progredienten MS (Kasten 1, modifiziert nach [7]). Doch die begrenzten therapeutischen Effekte der genannten Therapien gehen einher mit einem ungünstigen Nebenwirkungsspektrum, das im Falle von Mitoxantron Kardiotoxizität und ein erhöhtes Risiko von Leukämien und im Falle
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von Cyclophosphamid Blasenkarzinome und Leukämien umfasst. Darüber hinaus ist von einer leicht erhöhten Infektneigung unter diesen Therapien auszugehen. Die nachgewiesene Wirksamkeit von neuen Therapieansätzen bei der schubförmigen MS gab Anlass zur Hoffnung der Wirksamkeit auch bei der progredienten MS. In zwei grossen randomisierten Phase-III-Studien mit Fingolimod bei primär progredienter MS (INFORMS) und Natalizumab bei sekundär progredienter MS (ASCEND) konnten die jeweiligen primären Endpunkte nicht erreicht werden (Kasten 2, modifiziert nach [8]). Die Ergebnisse zweier weiterer Phase-III-Studien sind bis anhin ausstehend. Hierzu zählt die EXPAND-Studie mit dem S1P-Modulator Siponimod bei sekundär progredienter MS. Ein anderer therapeutischer Ansatz wird mit dem Einsatz von Masitinib, einem Tyrosinkinase-Inhibitor, bei primär progredienter und sekundär progredienter MS erprobt. Die EXPAND-Studie wird voraussichtlich in den nächsten Monaten abgeschlossen werden, sodass zeitnah mit den Ergebnissen zu rechnen ist.
Progrediente Multiple Sklerose – Licht am Horizont?! Einen unerwarteten Durchbruch versprach im vergangenen Jahr die Veröffentlichung der Studiendaten zu Ocrelizumab im Rahmen des 31. Kongresses des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) im Oktober in Barcelona (11). Ocrelizumab zeigte als erstes Prüfmedikament positive Studienresultate in drei Phase-III-Studien sowohl bei schubförmiger als auch bei primär progredienter MS. Ocrelizumab bewies Überlegenheit gegenüber Interferon beta-1a (Rebif ®) in zwei Phase-III-Studien (OPERA
Kasten 1:
Zugelassene immunmodulierende Therapien bei progredienter MS
(modifiziert nach [7])
Eskalationstherapie Basistherapie
SPMS mit aufgesetzten Schüben Cyclophosphamid1 Mitoxantron INF β-1a s.c. INF β-1b s.c.
ohne aufgesetzte Schübe Cyclophosphamid1 Mitoxantron
PPMS
– –
1 Ausweichtherapie für fulminante Fälle an spezialisierten MS-Zentren.
I und II) bei Patienten mit schubförmiger MS. Darüber hinaus erwies sich Ocrelizumab als erstes wirksames Prüfmedikament überhaupt in einer grossen Phase-IIIStudie bei primär progredienter MS (ORATORIO) (11). In dieser multizentrischen, randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Studie mit 732 Patienten wurde Ocrelizumab alle sechs Monate als Infusion mit 600 mg (2 x 300 mg im Abstand von 14 Tagen) verabreicht. Die durchschnittliche Behandlungsdauer lag bei 2½ Jahren. Die Studie zeigte insbesondere, dass die Behandlung mit Ocrelizumab das mithilfe der EDSS-Skala gemessene Risiko des Fortschreitens der nach zwölf Wochen bestätigten klinischen Behinderung signifikant um 24 Prozent reduzierte, dies verglichen mit Plazebo (p = 0,0321). Auch war Ocrelizumab dem Plazebo in den sekundären Endpunkten überlegen (u.a. Volumen der T2-Läsionen im MRI, Geschwindigkeit des Gehirnvolumenverlusts) (11, 12).
Kasten 2:
Übersicht über aktuelle Phase-III-Studien bei progredienter MS
(modifiziert nach [8])
PROMESS (NCT00241254)
INFORMS1 (NCT00731692)
(Erwartetes) Studienende 2013
2014
Intervention
Methylprednisolon (1 g/Monat) vs. Cyclophosphamid (750 mg/m2/Monat) Fingolimod (0,5 mg/Tag)
ASCEND2 (NCT01416181) NCT01433497
2015 2015
ORATORIO3 (NCT01194570)
2015
EXPAND (NCT01665144)
2016
Natalizumab (300 mg iv./Monat) Masitinib (6 mg/kg/Tag) Ocrelizumab (2 x 300 mg während 14 Tagen/6 Monaten) Siponimod (BAF312) (0,25–2,0 mg/Tag)
Primärer Endpunkt
EDSS-Verschlechterung
Zeit bis zur nachgewiesenen Krankheitsprogression EDSS-Verschlechterung
MSFC
Zeit bis zur nachgewiesenen Krankheitsprogression Zeit bis zur nachgewiesenen Krankheitsprogression
PPMS/SPMS SPMS
PPMS SPMS PPMS/SPMS PPMS SPMS
EDSS = Expanded Disability Status Scale; MSFC = Multiple Sclerosis Functional Composite. 1 Primärer Endpunkt nicht erreicht (9); 2 primärer Endpunkt nicht erreicht (10); 3 primäre und sekundäre Endpunkte erreicht (11).
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Was ist Ocrelizumab? Ocrelizumab ist ein humanisierter Antikörper, der gegen das CD20-Molekül, einen Oberflächenmarker auf bestimmten B-Lymphozyten, gerichtet ist. CD20 befindet sich nicht auf den Stamm- und Plasmazellen. Das erlaubt, dass wichtige Funktionen des Immunsystems, wie die Regeneration durch Stammzellen und die Abwehrfunktion durch antikörperproduzierende Plasmazellen, erhalten bleiben. Das erklärt auch, warum das Nebenwirkungsspektrum unter Ocrelizumab – soweit derzeit beurteilbar – vertretbar erscheint. Der Anteil der Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe, die unter Nebenwirkungen litten, war vergleichbar mit demjenigen in der Plazebogruppe (95,1% gegenüber 90,0%). Die häufigste Nebenwirkung unter der Ocrelizumab-Behandlung waren infusionsbedingte Reaktionen (39,9% gegenüber 25,5% für Plazebo). Der Anteil der Patienten in der Ocrelizumab-Gruppe, die unter schwerwiegenden Nebenwirkungen litten, einschliesslich schwerwiegender Infektionen, war ebenfalls vergleichbar mit demjenigen in der Plazebogruppe (20,4% bzw. 22,2%) (11, 12). Für den klinischen Alltag aktuell bis zur Zulassung von Ocrelizumab kann in begründeten Einzelfällen die Möglichkeit einer Off-label-Behandlung mit Rituximab (Mabthera®) mit dem Patienten diskutiert werden, wobei für die Behandlung eine Kostengutsprache bei der Krankenkasse eingeholt werden muss. Rituximab ist das nicht humanisierte Äquivalent und Vorläuferpräparat von Ocrelizumab. Rituximab ist für eine Reihe von rheumatologischen und hämatologischen Indikationen, aber nicht für die Behandlung der MS zugelassen. In einer Phase-II-Studie zur schubförmigen MS zeigte
Merkpunkte:
G Welche immunmodulatorischen/-supprimierenden Therapien sind für die progrediente MS zurzeit zugelassen? Für die sekundär progrediente MS stehen Mitoxantron (bei MS mit und ohne überlagerte Schübe) und Interferon beta-1a s.c. (Rebif®) sowie Interferon beta1b s.c. (Betaferon®, Extavia®) (bei MS mit überlagerten Schüben) zur Verfügung. In fulminanten Fällen kann an spezialisierten Zentren Cyclophosphamid eingesetzt werden. Für die primär progrediente Multiple Sklerose gibt es derzeit keine zugelassene Therapie.
G Für welche immunmodulatorischen/-supprimierenden Therapien wird die Zulassung erwartet? In mehreren Phase-III-Studien konnte die Wirksamkeit von Ocrelizumab zur Behandlung der schubförmigen MS (OPERA I und II) und der primär progredienten MS (ORATORIO) nachgewiesen werden. Ocrelizumab ist das erste Medikament mit nachgewiesener Wirkung bei primär progredienter MS. Die zeitnahe Zulassung wird erwartet.
G Welche immunmodulatorischen/-supprimierenden Therapien befinden sich noch in der Entwicklung? Die Wirkung von Siponimod (BAF312), einem S1P-Modulator ähnlich dem bereits zugelassenen Fingolimod (Gilenya®), wird aktuell in einer Phase-III-Studie bei Patienten mit sekundär progredienter MS untersucht (EXPAND). Weitere Substanzen befinden sich in Phase-II-Studien.
Rituximab eine gute Wirksamkeit auf die Krankheitsak-
tivität in Form einer Reduktion der kontrastmittelauf-
nehmenden Läsionen und der Schubhäufigkeit (13). In
der Phase-II-Studie von Rituximab zur Behandlung der
primär progredienten MS wurde der primäre End-
punkt – eine Reduktion der Behinderungsprogression –
leider nicht erreicht (14). Mögliche Gründe hierfür – ver-
glichen mit dem positiven Ergebnis der Ocrelizumab-
Studie bei PPMS – sind eine geringere Patientenzahl
und eine kürzere Beobachtungsdauer.
Die Zulassung für Ocrelizumab für schubförmige und
primär progrediente MS wird voraussichtlich Ende
2016/Anfang 2017 erfolgen. Ocrelizumab wäre das
erste Präparat mit nachgewiesener Wirkung bei primär
progredienter MS. Die Ergebnisse der Studie stellen
somit nicht nur einen Meilenstein in der Therapie der
progredienten MS dar, sondern liefern darüber hinaus
wichtige Erkenntnisse über die Relevanz von B-Zellen
bei der MS und somit die Grundlage für ein neues Ver-
ständnis der Erkrankung. In der Tat: Es gibt Hoffnung auf
Licht am Ende des Tunnels.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Tobias Derfuss
Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel
E-Mail: tobias.derfuss@usb.ch
Literatur:
1. Thompson AJ: A much-needed focus on progression in multiple sclerosis. Lancet Neurol. 2015; 14: 133–5.
2. Borreani C, Bianchi E, Pietrolongo E, Rossi I, Cilia S, Giuntoli M, et al.: Unmet needs of people with severe multiple sclerosis and their carers: qualitative findings for a home-based intervention. PLoS ONE. 2014; 9: e109679.
3. Scalfari A, Neuhaus A, Daumer M, Ebers GC, Muraro PA: Age and disability accumulation in multiple sclerosis. Neurology. 2011; 77: 1246– 52.
4. Kobelt G, Berg J, Lindgren P, Fredrikson S, Jönsson B: Costs and quality of life of patients with multiple sclerosis in Europe. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2006; 77: 918–26.
5. Lublin FD, Reingold SC, Cohen JA, Cutter GR, Sørensen PS, Thompson AJ, et al.: Defining the clinical course of multiple sclerosis: the 2013 revisions. Neurology. 2014; 83: 278–86.
6. Mahad DH, Trapp BD, Lassmann H: Pathological mechanisms in progressive multiple sclerosis. Lancet Neurol. 2015; 14: 183–93.
7. Diener H-C: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 2012.
8. Ontaneda D, Fox RJ, Chataway J: Clinical trials in progressive multiple sclerosis: lessons learned and future perspectives. Lancet Neurol. 2015; 14: 208–23.
9. Lublin F, Miller DH, Freedman MS, Cree BAC, Wolinsky JS, Weiner H, et al.: Oral fingolimod in primary progressive multiple sclerosis (INFORMS): a phase 3, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet. 2016.
10. ClinicalTrials.gov. U.S. National Institutes of Health. URL: https: // clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01416181 (08.02.2016).
11. Montalban X, Hemmer B, Rammohan K, Giovannoni G, de Seze J, BarOr A, Arnold DL, Sauter A, Kakarieka A, Masterman D, Chin P, Garren H, Wolinsky J, on behalf of the ORATORIO investigators. Efficacy and safety of ocrelizumab in primary progressive multiple sclerosis – results of the placebo-controlled, double-blind, Phase III ORATORIO Study. ECTRIMS, Barcelona, 2015: Platform presentation number 228.
12. F. Hoffmann-La Roche. http: //www.roche.com/de/media/store/ releases/med-cor-2015-10-08.htm (08.02.2016).
13. Hauser SL, Waubant E, Arnold DL, Vollmer T, Antel J, Fox RJ, Bar-Or A, Panzara M, Sarkar N, Agarwal S, Langer-Gould A, Smith CH: HERMES Trial Group. B-cell depletion with rituximab in relapsing-remitting multiple sclerosis. N Engl J Med. 2008; 358(7): 676–88.
14. Hawker K, O'Connor P, Freedman MS, Calabresi PA, Antel J, Simon J, Hauser S, Waubant E, Vollmer T, Panitch H, Zhang J, Chin P, Smith CH: OLYMPUS trial group. Rituximab in patients with primary progressive multiple sclerosis: results of a randomized double-blind placebocontrolled multicenter trial. Ann Neurol. 2009; 66(4): 460–71.
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