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FORTBILDUNG
Stufentherapie versus stratifizierte Therapie bei Patienten mit Multipler Sklerose
Das zunehmend komplexer werdende Therapieumfeld in der Behandlung der Multiplen Sklerose stellt für den Neurologen oft eine grosse Herausforderung dar. Mit der steigenden Anzahl verfügbarer Therapien stellt sich vermehrt die Frage, wann ein Therapiewechsel angezeigt ist und auf welche Substanz in sequenziellen Therapien sinnvollerweise gewechselt werden sollte.
Elisabeth Olbert Sven Schippling
von Elisabeth Olbert und Sven Schippling
M ultiple Sklerose (MS) ist eine entzündlich-demyelinisierende, aber auch neurodegenerative Autoimmunerkrankung junger, vor allem weiblicher (2–3:1) Erwachsener, mit zurzeit etwa 10 000 Betroffenen in der Schweiz. Sie zeichnet sich in der Mehrzahl der Fälle durch eine zunächst wiederholt auftretende, temporäre Zunahme neurologischer Einschränkungen (Schübe) und schliesslich progredienter Behinderungszunahme im Laufe der Erkrankung aus (sekundäre Progredienz). Dies zu vermeiden, gilt als vorrangiges Ziel sämtlicher verfügbarer Immuntherapien. Eine ausreichend wirksame Behandlung mit dem bestmöglichen Nutzen-Risiko-Verhältnis für den individuellen Patienten zu finden, stellt für den behandelnden Neurologen in einem zunehmend komplexer werdenden Therapieumfeld aber oft eine grosse Herausforderung dar.
Stufentherapie Im Rahmen der sogenannten Stufentherapie wird für einen Patienten mit einer MS-Erstdiagnose mit mildem bis moderatem Verlauf der Therapiebeginn mit einem Erstlinienpräparat wie Interferon beta, pegyliertem Interferon, Glatirameracetat, Dimethylfumerat oder Teriflunomid empfohlen. In der Schweiz ist – im Gegensatz zum Rest Europas – auch die Substanz Fingolimod für diese Indikation zugelassen. Bei anhaltender Krankheitsaktivität oder Unverträglichkeit einer Therapie kann ein horizontaler Wechsel auf ein anderes Präparat der gleichen Stufe erfolgen (lateral switch). In einer rezenten retrospektiven Analyse der prospektiven, observationalen Studie MSBase erwies sich ein Wechsel von Glatirameracetat oder einem Interferonpräparat bei anhaltender Krankheitsaktivität auf Fingolimod als effektiv mit nachfolgender Abnahme der annualisierten Schubrate (1). Alternativ kann bei Versagen einer Erstlinien-
substanz oder aber nach erfolglosem Lateral Switch im Falle weiterhin nachweisbarer klinischer Krankheitsaktivität ein vertikaler Wechsel auf Natalizumab, Fingolimod oder Alemtuzumab erfolgen. Bei der Entscheidung, welches Präparat in dieser Situation zum Einsatz kommen sollte, können Kontraindikationen ebenso wie andere sicherheitsrelevante Faktoren (z.B. JCV-Antikörper-Serologie/PML-Risiko) oder lebensplanerische Aspekte (Schwangerschaftswunsch) eine Rolle spielen. Solche Therapieempfehlungen, die im Kern die Zulassungssituation in Europa widerspiegeln, leiten sich vor allem aus retrospektiven Subgruppenanalysen der Phase-III-Studien der entsprechenden Substanzen oder sicherheitsrelevanten Überlegungen ab. Hingegen fehlen weitestgehend Studien mit Klasse-I-Evidenz, die die Wirksamkeit bei Krankheitsdurchbruch testen. Die einzig gegenwärtig verfügbare echte «Eskalationsstudie» ist die CARE-MS-II-Studie, die eine überlegene Wirksamkeit für Alemtuzumab gegenüber Interferon beta-1a s.c. nach unzureichender Krankheitskontrolle unter Glatirameracetat oder Interferon beta belegen konnte (2). In der einjährigen TRANSFORMS-Studie konnte ein Vorteil für eine Therapie mit Fingolimod gegenüber Interferon beta-1a i.m. gezeigt werden. Zwar konnte in der Extensionsstudie (TRANSFORMS extension study) zudem eine Abnahme der mittleren Krankheitsaktivität in der Gruppe von Patienten gezeigt werden, die nach einem Jahr (core study) von Interferon auf Fingolimod gewechselt hatten, jedoch stellt dies naturgemäss keine echte Eskalationssituation dar (3, 4). Ein anderer sogenannter Headto-Head-Vergleich zwischen anderen zugelassenen Substanzen in der Primärtherapie oder aber der Wirksamkeit von anderen Präparaten in der Therapie bei Krankheitsdurchbruch mit Klasse-I-Evidenz liegt nicht vor. Für die Interferonpräparate sowie Glatirameracetat wurde kürzlich in einer retrospektiven Auswertung des MSBase-Registers sowie des Tysabri-Observations-Programms (TOP) mittels Propensity-Score-Matching ge-
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zeigt, dass ein Wechsel auf Natalizumab dem Wechsel auf das jeweils andere Präparat (IFN bzw. GLAT) überlegen ist (5). Für die Identifikation von Nonrespondern könnte im Fall der Interferone die Messung der klinischen und der magnetresonanztomografischen Krankheitsaktivität (neue T2-Läsionen) eine Rolle spielen. Unabhängige Studien konnten zeigen, dass neue T2-hyperintense Läsionen in einem cMRI ein Jahr nach Therapiebeginn mit Interferon beta einen Hinweis auf Therapieversagen darstellen können (6, 7). Unter Therapie mit Glatirameracetat fällt die Vorhersagegenauigkeit eines aktiven cMRI-Befunds für ein eingeschränktes Therapieansprechen ein Jahr nach Therapiebeginn hingegen geringer aus (8). Grundsätzlich werden jährliche Kontrollen mit zerebralen MRI bei stabilem Verlauf unter Therapie empfohlen (9). Laborparameter zur Einschätzung des Therapieansprechens oder zur Auswahl einer geeigneten Therapie kommen derzeitl in der klinischen Routine nicht zum Einsatz, sieht man einmal von der Bestimmung der JCVAntikörperserologie bei Behandlung mit Natalizumab aus Sicherheitserwägungen ab. In der Zukunft könnte die Bestimmung von Laborparametern eine gewichtigere Rolle spielen, wie das Beispiel der Expansion von CD56bright-NK-Zellen unter der Therapie mit dem IL2(CD25)-Rezeptor-Antikörper Daclizumab zeigt, die hier mit einer niedrigeren MRI-Krankheitsaktivität korreliert (10). Bei Patienten mit pathologischer Pattern-II-MS wurde in einer wenn auch kleinen und retrospektiven Studie ein gutes Ansprechen auf Plasmapherese im Schub gezeigt, und Überlegungen hinsichtlich der Therapieauswahl einer Immuntherapie wurden angestrengt (11).
Risikostratifizierte Therapie Patienten mit hoher Krankheitsaktivität haben ein erhöhtes Risiko, bereits früh im Krankheitsverlauf eine deutliche Zunahme neurologischer Symptome zu entwickeln. In diesen Fällen sollte das Ziel sein, eine rasche Krankheitskontrolle zu erreichen, und es empfiehlt sich der Einsatz einer hochaktiven Therapie (z.B. Fingolimod, Natalizumab, Alemtuzumab) von Beginn an. Voraussetzung für eine solche risikoadaptierte Therapie ist die möglichst frühzeitige Identifikation von Patienten mit hohem Risiko für eine frühe Verschlechterung des Behinderungsniveaus. Bekannte Risikofaktoren für eine schlechte Prognose auf Gruppenebene sind neben demografischen Faktoren wie höheres Lebensalter bei Krankheitsbeginn und männliches Geschlecht das Vorhandensein von oligoklonalen Banden im Liquor und vor allem die T2-Läsionslast im Baseline-MRI. Eine Einschätzung des individuellen Risikos ist aufgrund der grossen Variabilität der Verläufe wiederum nicht möglich (12). Bei der Auswahl der Immuntherapie spielen ähnliche Faktoren eine Rolle wie oben erwähnt. Das Spektrum der Therapieoptionen könnte zukünftig – im Falle der Zulassung – durch die B-Zell-depletierende Substanz Ocrelizumab erweitert werden. Bereits heute findet teilweise der chimäre CD20-Antikörper Rituximab Anwendung, der in der Behandlung der rheumatoiden Arthritis zugelassen ist und bei der MS in einzelnen ausgewählten Fällen off label zum Einsatz kommt.
Stratifizierte Therapie/ Induktionstherapie Nach Einsatz einer hochaktiven Therapie früh im Krankheitsverlauf, wie am Beispiel bei hochaktiven Patienten ausgeführt, muss diskutiert werden, wie lange die hochwirksame, aber auch nebenwirkungsbehaftete Therapie weiterführt werden soll. Das Konzept der sogenannten Induktionstherapie sieht vor, durch eine hochwirksame Therapie möglichst zu Beginn der Erkrankung eine nachhaltige beziehungsweise möglichst komplette Unterdrückung der Krankheitsaktivität zu erreichen, um allenfalls im Anschluss auf eine Erhaltungstherapie mit einem niederpotenten Präparat umzustellen. Der Begriff der Induktionstherapie bei MS ist schlecht definiert. In historischen Studien kam die immunsuppressive Substanz Mitoxantron zum Einsatz (13), die aus dem gegenwärtigen klinischen Alltag in der Behandlung der schubförmigen MS aufgrund von inzwischen verfügbaren Therapiealternativen und des erhöhen Risikos sekundärer Leukämien und einer kardialen Insuffizienz weitestgehend verdrängt wurde. Aktuell kommt am ehesten eine Substanz wie Alemtuzumab infrage. Eine Anschlusstherapie kann mit den Erstlinienpräparaten Interferon beta, Glatirameractat, Teriflunomid oder Dimethylfumerat durchgeführt werden (14). Für eine Induktionstherapie mit Mitoxantron und eine anschliessende Behandlung mit Interferon beta oder Glatirameracetat konnte ein Vorteil gegenüber einer alleinigen Erstlinientherapie gezeigt werden (13). Natalizumab scheint angesichts seines Wirkmechanismus sowie aufgrund des Risikos eines Rebounds nach Therapiestopp für eine Indikation eventuell weniger geeignet zu sein (15).
Fazit
Die Auswahl der optimalen Therapiestrategie für den
einzelnen Patienten wird auch zukünftig eine Heraus-
forderung in der Behandlung der MS darstellen. Auf-
grund der vorhandenen Daten kann keine klare
Therapieempfehlung für individuelle Substanzen und
einzelne Patienten gegeben werden.
Eine Stufentherapie erscheint im nicht selektierten Pa-
tientenkollektiv als pragmatische Strategie. Für Patien-
ten mit hoher Aktivität innerhalb des ersten Jahres oder
bei Diagnosestellung empfiehlt sich eine frühzeitige
hochwirksame Therapie, wobei die Auswahl der Thera-
pie im Einzelfall evaluiert werden muss. Ob eine an-
schliessende Deeskalation angebracht ist, hängt vom
klinischen Verlauf unter Eskalationstherapie, von der
Verträglichkeit der Therapie und vom Wunsch des Pa-
tienten ab.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Sven Schippling
Neuroimmunologie und Multiple Sklerose Forschung
Neurologische Klinik
Universitätsspital Zürich
Frauenklinikstrasse 26
8091 Zürich
E-Mail: sven.schippling@usz.ch
Dr. med. univ. Elisabeth Olbert Assistenzärztin Neurologie, Universitätsspital Zürich
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Literatur:
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