Transkript
Vegane Ernährung
Was ist bei der Beratung der Familien wichtig?
SCHWERPUNKT
Bei veganer Ernährung gilt es, auf die ausreichende Supplementierung mit Vitamin B12, Vitamin D, Kalzium, Zink, Eisen und eine ausreichende Menge an vollwertigem Protein zu achten. Ausschliesslich vegan ernährte Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung hinsichtlich Mangelzuständen besonders gefährdet. Kinderärzte sollten Eltern gegebenenfalls an das Recht des Kindes auf eine gesunde Entwicklung durch eine ausgewogene Ernährung erinnern.
Von Oswald Hasselmann
A us Sorge um ihre Gesundheit und als Plädoyer für eine artgerechte Tierhaltung entscheiden sich immer mehr Eltern, sich und ihre Kinder ausschliesslich pflanzlich zu ernähren. Sie orientieren sich hierbei an empirischen Daten, welche bei Erwachsenen eine erniedrigte kardiovaskuläre Krankheitsprävalenz unter einer frucht- und gemüsereichen sowie fettarmen Ernährung dokumentieren. Diese Daten sind jedoch nicht 1:1 auf Kinder und Jugendliche zu übertragen. Eine vegane Ernährung kann für diese Altersgruppe bei Einhaltung aller Empfehlungen zur Ergänzung der veganen Ernährung durch Vitamine und Spurenelemente und enger fachärztlicher Begleitung mit einem gesunden Aufwachsen vereinbar sein, jedoch fehlen verlässliche Langzeitstudien, die die Unbedenklichkeit einer solchen Auslassdiät aufzeigen. Mangelzustände können bereits während der Schwangerschaft bei einer sich vegan ernährenden Mutter auftreten und zu Symptomen beim Kind führen, wenn beispielsweise die gespeicherten Depots für Vitamin B12 erschöpft sind. Symptome im Zusammenhang mit einem Mangel an Vitaminen und Spurenelementen sind den betreuenden Kinderärzten nur als solche erklärbar, wenn sie für die jeweilige Störungsgenese sensibilisiert sind. Bei der Beratung einer sich vegan ernährenden Familie gilt es, auf die ausreichende Supplementierung mit Vitamin B12, Vitamin D, Kalzium, Zink, Eisen und eine ausreichende Menge an vollwertigem Protein zu achten. Wiederholte Laborkontrollen und aufklärende Gespräche sind notwendig, um die langfristige Effektivität solcher Massnahmen zu sichern.
Klinische Symptomatik
Am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen fallen pro Jahr etwa zwei bis drei Kinder mit einer Vitamin-B12Mangel-assoziierten Entwicklungsretardierung auf. In
der Anamnese zeigt sich, dass sich die betroffenen Eltern häufig aus der kinderärztlichen Betreuung zurückziehen. Aus Misstrauen und/oder Unwissenheit werden Vorsorgeuntersuchungen und Vitamin-K- und -D-Substitution sowie die empfohlenen Impftermine nicht immer vollständig wahrgenommen. Als typische Symptome zeigen die betroffenen Kinder eine mangelnde Gewichtszunahme, Blässe, vermehrte Unleidlichkeit und eine erschwerte Umstellung von Muttermilch auf Formulamilch auf. Bei der Laborkontrolle zeigen sich typischerweise ein Vitamin-B12-(Cobalamin-)Spiegel deutlich unter 200 ng/l, häufig assoziiert mit einem zu tiefen Vitamin-DSpiegel (< 50 nmol/l), sowie ein erniedrigtes Speichereisen und niedrige Zinkwerte. Durch zusätzliche Laboruntersuchungen (u.a. Bestimmung des Homocysteins im Serum und der Methylmalonsäure im Urin) können alimentäre Störungen von angeborenen intrazellulären enzymatischen Störungsbildern abgegrenzt werden. Eine Makrozytose im Blutbild fällt nur vereinzelt auf, da diese häufig durch eine gleichzeitige Eisenmangelanämie sowie den erhöhten Folsäurespiegel bei vegetabiler Ernährung maskiert sein kann. Bei Cobalaminwerten unter 150 ng/l und einer typischen klinischen Symptomatik beziehungsweise einem Homocysteinwert von über 13 µmol/l oder bei erhöhten Methylmalonsäurewerten im Urin über 2 mg/g Kreatinin raten wir zu einer umgehenden wiederholten parenteralen Gabe (i.m.) von jeweils 1 mg Hydroxocobalamin (Tabelle 1) sowie zu einer Ernährungsumstellung beziehungsweise Nahrungssupplementierung. Die klinischen Symptome lassen sich durch einen additiv wirkenden Effekt der unzureichend zur Verfügung stehenden essenziellen Nahrungsbestandteile erklären (u.a. Vitamin B12, Vitamin D, Eisen, Zink, Kalzium, Proteinmenge und -zusammenstellung). Sie sind potenziell reversibel, wenn deren Ursache früh erkannt und konsequent korrigiert wird. Vermindert 2/16 Eine ausschliesslich vegane Ernährung wird mindestens bis zum Schulalter nicht empfohlen. 25 SCHWERPUNKT Tabelle 1: Grenzwerte für parenterale Cobalaminsubstitution Wenn mindestens 2 pathologische Werte bzw. 1 pathologischer Wert und 1 typische klinische Symptomatik vorliegen, sollte parenteral (i.m.) Hydroxocobalamin gegeben werden. Cobalamin (Serum) < 150 pmol/l/ < 200 ng/l Holotranscobalamin (Serum) < 35 pmol/l Homocystein (Serum) > 13 µmol/l
Methylmalonsäure (Urin) > 0,4 mmol/mol Kreatinin > 2 mg/g Kreatinin
Tabelle 2: Kritische Nahrungsstoffe, Substitution nach regelmässiger Laborkontrolle
Vitamin B12 Kalzium 25-OH-Vitamin D
Tagesbedarf, altersabhängig 0,8–2,5 µg 500–1000 mg 400–600 IE
Protein
1,5–2 g/kg KG
Zink 2–10 mg
Eisen 8–15 mg
Omega-3-Fettsäuren 100–200 mg
Bemerkung
2 × 50 µg p.o. (davon bioverfügbar: 2 × 1,5 µg) Sojamilch ist meist mit Kalzium angereichert. Bei Gabe von Antiepileptika, dunklem Hautkolorit, mangelnder Bewegung gegebenenfalls erhöhter Bedarf; Sojamilch ist meist mit Vitamin D angereichert. abhängig von Alter und Energieumsatz, Kombination verschiedener Proteinquellen Resorption bei vegetabiler Ernährung um zirka 50 Prozent vermindert. Phytinsäure inhibiert, Vitamin C unterstützt Absorption von pflanzlichem Eisen. Vorläuferstufen in Sojamilch und Walnüssen vorhanden.
zur Verfügung stehendes Vitamin B12 führt zu einer Erhöhung des potenziell toxischen Homocysteins, einer Störung im Folsäurestoffwechsel, einer ungenügenden Bildung von Substraten des Zitratzyklus (Succinyl-CoA) und zu einer verminderten DNA-Synthese und einer Störung der zerebralen Myelinisierung.
Vitamin-B12-Substitution
Wenn aus weltanschaulichen Gründen trotz offensichtlicher klinischer Symptome eine Nahrungsumstellung im Sinne des Einführens tierischer Kost nicht gewünscht wird, muss parallel zur veganen Ernährung ein- bis zweimal täglich eine Supplementierung mit Vitamin B12 erfolgen. Hierbei muss dem steigenden Tagesbedarf (0,5 µg im Kleinkindalter bis 2,5 µg des Jugendlichen) Rechnung getragen werden. Bei Substitution durch Tabletten, ein Vitamin-B12-haltiges Mundspray oder eine Vitamin-B12-haltige Zahncreme muss die begrenzte Transportkapazität des körpereigenen intrinsischen Faktors berücksichtigt werden. Bei 1 µg oral aufgenommenem Cobalamin ist mit einer Bioverfügbarkeit von 50 Prozent zu rechnen. Wenn 500 µg Cobalamin zugeführt werden, stehen dem Körper davon nur 2 Prozent, das heisst 10 µg Cobalamin zur Verfügung. Wir empfehlen daher für das auschliesslich vegan ernährte Schulkind nach Erreichen eines stabilen Vitamin-B12-Serumspiegels von > 200 ng/l und einer nicht erhöhten Methylmalonsäure im Urin die Gabe von zweimal 50 µg Vitamin B12 pro Tag per os.
Erhöhter Bedarf an Protein, Zink und Kalzium
Bei einer ausschliesslich veganen Ernährung besteht zusätzlich ein erhöhter Proteinbedarf. Die biologische Wertigkeit als Mass für die Umwandlung von Nahrungsproteinen in körpereigenes Protein ist für einzelne Aminosäuren (Lysin, Cystein, Methionin) vermindert. Die zugeführte Proteinmenge sollte daher um zirka 30 Prozent erhöht werden. Aufgrund des hohen Faserreichtums einer vegetabilen Ernährung erreichen insbesondere junge Kinder typischerweise ein frühzeitiges Sättigungsgefühl, sodass das Ziel einer ausreichenden Kalorien- und Proteinzufuhr gegebenenfalls durch eine weitere Zwischenmahlzeit erreicht werden muss. Bei einer primär vegetabilen Ernährung mit Hülsenfrüchten als Hauptproteinquelle ist durch die vermehrt anfallende Phytinsäure die Zinkresorption um zirka 50 Prozent vermindert. Zink ist ein essenzieller Baustein der DNAund Immunoglobulinsynthese, Bestandteil einer Vielzahl von Metalloproteasen und anderer Enzymsysteme sowie ein essenzieller Kofaktor für die Muskelkontraktion und muss daher ebenfalls substituiert werden. Bei Vermeidung von Milchprodukten ist die Bedarfsdeckung für Kalzium und Phosphat nicht ausreichend. Eltern müssen gegebenenfalls darüber aufgeklärt werden, dass in der statt Kuhmilch eingenommenen Sojamilch nicht ausreichend Kalzium und Phosphat enthalten sind. Kalzium, bei geringer Sonnenlichtexposition gegebenenfalls ergänzt durch Vitamin D, sollte, falls nicht ausreichend in angereicherter Nahrung vorhanden, ebenso zusätzlich gegeben werden. Bei Fehlen von Fisch und Hühnerei als Quellen von ungesättigten Fettsäuren müssen diese gegebenenfalls ebenso substituiert werden (Tabelle 2).
Keine ausschliesslich vegane Ernährung im Vorschulalter
Auch wenn die Mehrzahl der nicht adäquat ernährten Kinder nicht aus veganen Haushalten kommt, sondern an zu kalorienreicher und qualitätsgeminderter Nahrungszufuhr leidet, sollten Kinder- und Allgemeinärzte bei jeder Ernährungsform, die sich von dem konventionellen Ernährungsstil entfernt, auf die Versorgung mit essenziellen Vitaminen und Spurenelementen achten. Aufgrund der potenziellen Gefährdung der heranwachsenden Kinder und der Komplexität der Substitutionsbehandlung wird die vegane Ernährung mindestens bis zum Schulalter in Deutschland, Österreich und der Schweiz kinderärztlicherseits zurzeit nicht empfohlen. Wenn Eltern für sich das Recht auf eine autonome Entscheidung bezüglich ihres Ernährungsstils beanspruchen, sollte durch uns Kinderärzte das Recht des Kindes auf eine gesunde Entwicklung durch eine ausgewogene Ernährung betont werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Oswald Hasselmann KER-Zentrum , Ostschweizer Kinderspital Claudiusstr. 6 9006 St. Gallen E-Mail: oswald.hasselmann@kispisg.ch
26 2/16
Weiterführende Literatur: Position of the American Dietetic Association, http://www.vrg.org/nutrition/2009_ADA_position_paper.pdf (abgerufen:1.2.2016) Craig WJ: Health effects of vegan diets. Am J Clin Nutr 2009; 89: 1627S–1633S. Carmel R: How I treat cobalamin (vitamin B12) deficiency. Blood 2008; 112: 2214–2221. Messina V, Mangels AR: Considerations in planning vegan diets: children. J Am Diet Assoc 2001; 101 (6): 661–669. Moilanen BC: Vegan diets in infants, children, and adolescents. Pediatr Rev 2004; 25 (5): 174–176.
SCHWERPUNKT
2/16
27