Transkript
KONGRESSBERICHT
Wer versorgt die psychisch Kranken?
Psychiater und Allgemeinmediziner rangeln um Ressourcen
Renate Bonifer
In der Schweiz arbeiten zur-
psychische Störungen wegen der stetig Psychiater als Grundversorger?
wachsenden beruflichen und gesellschaftli- Dr. med. Kaspar Aebi, Psychiater in Burg-
zeit so viele Psychiater wie nie chen Anforderungen einer Industriegesell- dorf, beklagte das negative Image der Psych-
schaft viel eher zu einem Problem werden iatrie bei ärztlichen Kollegen anderer
zuvor. Trotzdem warnten Fach- als früher.
Fachrichtungen sowie die weitverbreitete
«Wir haben eine stabile Prävalenz bei stei- Ansicht, dass Menschen mit psychischen Er-
leute am Mental Health Forum gender Inanspruchnahme des Gesundheits- krankungen primär bei ihrem Hausarzt am
in Bern vor einem drohenden
systems», sagte Ebner. Im Grunde sei dies besten aufgehoben seien. In der Tat gingen eine positive Entwicklung, denn noch im- viele Betroffene aber lieber direkt zu einem
Versorgungsnotstand, falls
mer würde nur jeder zweite Patient mit psy- Psychiater. 50 bis 70 Prozent der Patienten chischen Störungen überhaupt eine ärzt- kämen nicht auf Zuweisung, sondern direkt
sich weiterhin zu wenig junge
liche Behandlung erhalten und nur jeder in seine Praxis. Viele von ihnen wünschten zehnte eine adäquate. Insofern bleibt also explizit, dass man ihrem Hausarzt nichts da-
Mediziner für die Psychiatrie
für die Versorgung psychisch Kranker in der von sagt. Über die Gründe für das manSchweiz, sowohl in quantitativer als auch gelnde Vertrauen gegenüber dem eigenen
interessierten. Gleichzeitig
qualitativer Hinsicht, noch viel zu tun.
Hausarzt könne man nur spekulieren, sagte Aebi. Vermutlich spielten dabei Scham und
stritten sich an der Tagung
Nachholbedarf vor allem bei Depression und Angststörung
Hemmungen gegenüber einem Arzt, der die anderen Familienmitglieder ebenfalls be-
Gemäss einer im vergangenen Jahr in der Zeit- handelt, eine grosse Rolle. Als besonders
Psychiater und Allgemeinmedi- schrift «Swiss Medical Weekly» publizierten drastisches Beispiel gab Aebi zu bedenken,
ziner darüber, wem welche
Studie leben in der Schweiz zirka 710 000 Per- dass ein Missbrauchsopfer sicher nicht aussonen mit Angststörungen, 370 000 mit affek- gerechnet bei demjenigen Arzt Hilfe suchen
Rolle bei der Versorgung psy-
tiven Störungen (Depression und bipolare würde, der auch den Täter persönlich gut Störungen) und 40 000 mit psychotischen Er- kennt. Aebi sprach sich dafür aus, den Psych-
chisch Kranker in der Schweiz
krankungen. Gerhard Ebner wies darauf hin, iater genauso wie einen Allgemeinmediziner dass vor allem die beiden häufigsten psychi- als «Grundversorger» zu definieren.
zukommt.
sche Erkrankungen, Depression und Angst- Dies dürften viele der Tagungsteilnehmer, störung, noch zu selten erkannt würden, unter ihnen grösstenteils Psychiater und
während beispielsweise so gut wie alle Schizo- Psychiaterinnen, lieber gehört haben als die
phreniepatienten eine wenn auch «längst Ausführungen von Dr. med. François-Gérard
nicht immer adäquate» Behandlung erhielten. Héritier, dem Präsidenten der Schweize-
Dabei seien Interventionen gegen Depres- rischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin
sion und Angststörungen sogar sehr kos- (SGAM) und Allgemeinmediziner in Cour-
S chätzungen der WHO, wonach psychische Erkrankungen bis 2020 zur zweithäufigsten Krankheitsursache
teneffektiv, betonte Ebner und belegte dies mit volkswirtschaftlichen Berechnungen. In der Sprache der Ökonomen ist der Verlust
faivre (Jura). Héritier nahm kein Blatt vor den Mund und sagte, dass der von Psychiatern so gerne geforderte bio-psycho-soziale
weltweit werden, suggerieren auf den ersten gesunder Lebensjahre, sogenannter DALY Therapieansatz genau demjenigen des Haus-
Blick eine steigende Prävalenz. Zumindest (disability-adjusted life years), hierbei eine arztes entspreche. Insofern seien die
für die westlichen Industrieländer sei dies gängige Währung. Um ein DALY zu verhü- Hausärzte privilegierte Ansprechpartner für
jedoch nicht zutreffend, sagte Dr. med. Ger- ten, muss man bei Schizophrenie mit 10 000 Suchtprobleme, Krisen, psychosomatische
hard Ebner, Direktor der Universitären bis 25 000 US-Dollar rechnen. Bei bipolaren und psychische Störungen. In 70 Prozent
Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Dass Störungen sind es 7000 bis 8500 US-Dollar, der Fälle könne ein Hausarzt das Problem al-
psychische Krankeiten scheinbar immer bei Depressionen die vergleichsweise beschei- lein lösen, nur bei 20 Prozent der Patienten
häufiger werden, sei nicht auf eine echte Er- dene Summe von 2000 bis 3000 US-Dollar. fordere er Zusatzuntersuchungen an, und
höhung der Prävalenz zurückzuführen, son- Im Lauf der Tagung wurde indes deutlich, nur jeder zehnte Patient müsse wirklich
dern im Wesentlichen auf zwei Demaskie- dass Defizite bei der Versorgung psychisch überwiesen werden. Bereits heute würden
rungseffekte: Zum einen begeben sich mehr Kranker in der Schweiz möglicherweise we- 30 Prozent der psychisch Kranken von Haus-
8 psychisch Kranke als früher in ärztliche niger auf einer finanziellen als auf einer ge- ärzten behandelt, und bereits rund 600 der Behandlung, zum anderen können leichte sundheitspolitischen Ebene zu suchen sind. niedergelassenen Allgemeinmediziner oder
P S Y C H I AT R I E & N E U R O L O G I E 1 + 2 ⎮2 0 1 0
KONGRESSBERICHT
Dr. med. Kaspar Aebi
Dr. med. François-Gérard Héritier
Prof. Dr. med. Erich Seifritz
Internisten haben den Fähigkeitsausweis «Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM)». Überdies hätten britische Studien ergeben, dass es für den Behandlungserfolg bei Depressionen praktisch keinen Unterschied mache, ob die Behandlung von einem Psychiater oder einem Allgemeinmediziner durchgeführt wurde. Héritier erntete für seine Ausführungen heftigen Widerspruch. Unter anderem kritisierte ein Spitalpsychiater, dass Depressive im Gegenteil oft viel zu spät zum Psychiater überwiesen würden, nämlich erst «nach ein bis zwei Jahren, wenn man alle Antidepressiva durchprobiert hat». Hausärzte würden durchaus gerne enger mit Psychiatern zusammenarbeiten, aber das gestalte sich in der Praxis leider schwierig, konterte der SGAM-Präsident. Als man beispielsweise im September 2009 die zwölf Psychiater im Kanton Jura anfragte, ob sie prinzipiell dazu bereit wären, einen Notfallpatienten innert 24 Stunden zu sehen, sagten nur zwei von ihnen Ja, ein dritter sagte, dass er per Telefon erreichbar sei. Aber auch im Alltagsbetrieb harze es mit der Zusammenarbeit, sagte Héritier und bemängelte, dass Psychiater keine schriftlichen Berichte lieferten und sich nur selten telefonisch meldeten. Mit Psychologen und Psychotherapeuten gebe es viel weniger Kommunikationsprobleme.
Zu wenig Nachwuchs Während die praktizierenden Psychiater im Durchschnitt immer älter werden (55 Jahre), habe die Anzahl von Psychiatern in Ausbildung in den letzten Jahren um die Hälfte abgenommen, sagte Professor Erich Seifritz, Direktor der Klinik für Affektive Erkrankungen und Allgemeinpsychiatrie Zürich Ost. An den schweizerischen Kliniken sei der Anteil von Schweizer Assistenzärzten auf einen Drittel gesunken, sodass der Dienst an den Kliniken und in Ambulatorien nur noch durch ausländische Ärzte aufrechtzuerhalten sei. Hier müsse man dringend gegensteuern und etwas gegen das
verheerende Image der Psychiatrie in Medien und an den Universitäten tun, forderte Seifritz. Ansichts der deprimierenden Negativliste, die Seifritz in Bern präsentierte, warnte eine Psychiaterin in der Diskussion eindringlich vor Larmoyanz. Selbstmitleid sei auf keinen Fall hilfreich, um Studenten für dieses «wunderbare Fach» zu begeistern, sagte sie, und wurde dafür mit spontanem Beifall belohnt.
Wie man die Versorgung psychisch Kranker sichern und verbessern kann Aus der Sicht der institutionellen Psychiatrie sprach sich Dr. med. Graziella Giacometti Bickel, Präsidentin der Schweizerischen Vereinigung psychiatrischer Chefärzte (SVPC), für eine integrierte Versorgung psychisch Kranker aus, bei der das gleiche Team die Patienten sowohl stationär als auch ambulant behandelt. Die Gefahr, damit die sogenannte «Drehtürpsychiatrie» zu fördern (verkürzte Aufenthaltsdauer bei mehr Wiedereintritten), sei entgegen anderslautenden Warnungen nicht allzu gross, sagte Dr. med. Andreas Andreae, Ärztlicher Direktor der integrierten Psychiatrie Winterthur und einer der Vorreiter dieses Ansatzes: «80 Prozent der stationären Patienten kommen nur einmal und dann nicht wieder.» Als weiteres Feld, das es künftig vermehrt zu beackern gelte, nannte Graziella Giacometti Bickel die Betreuung psychisch Kranker in den Spitälern. Rund ein Viertel aller hospitalisierten Patienten hätten auch eine psychiatrische Diagnose, doch gebe es bis anhin noch «nicht viele somatische Spitäler, die die Psychiatrie mit offenen Armen empfangen». Als Herausforderung für die Zukunft sah sie einen drohenden Trend zurück zu grossen Einheiten in der Psychiatrie. Hoffentlich kein Symbol für die gesundheitspolitische Situation war die krankheitsbedingte «Sprachlosigkeit» der Referentin Dr. med. Barbara Weil, die als Leiterin der Abteilung Gesundheitsförderung und Prä-
vention der FMH und Geschäftsleiterin der
Initiative zur Suizidprävention IPSILON
eingeladen worden war, um die Sicht der Pa-
tienten zu vertreten. An ihrer Stelle ergriff
Dr. med. Michael Deppeler, Allgemeinmedi-
ziner in Zollikofen (Bern) und Koleiter der
Initiative dialog-gesundheit das Wort und
erinnerte eindrücklich daran, dass Patien-
tenbedürfnisse und institutionelle Konzepte
nicht immer kongruierten. Die Frage, was
für jeden einzelnen Patienten das Beste sei,
könnten nicht nur Ärzte und Gesundheits-
politiker beantworten.
Dass auch Institutionen ausserhalb des me-
dizinischen Betriebs eine wichtige Rolle bei
der Verbesserung der Versorgung psychisch
Kranker zukommt, wurde in der abschlies-
senden Podiumsdiskussion deutlich. Helena
Trachsel, Leiterin Diversity Management
bei Swiss Re, bemängelte, dass psychisch
Kranke zu lange krankgeschrieben würden.
Selbst wenn sie vorerst nur wieder 20 bis
30 Prozent arbeiteten, sei das besser für den
Wiedereingliederungsprozess. Doch auch
Unternehmen müssten mehr Verantwortung
übernehmen. Bei Swiss Re habe man das seit
Langem erkannt und interveniere so früh wie
möglich, wenn ein Mitarbeiter oft fehlt. In
einem Gespräch versuche man, die Gründe
dafür auszuloten, und garantiere dem Mit-
arbeiter seinen Arbeitsplatz, wenn er sich
einer angemessenen Therapie unterzieht
und seinem behandelnden Arzt erlaubt,
offen mit seinem Arbeitgeber über therapeu-
tische Erfolge und Misserfolge zu sprechen.
Letztlich käme es auch für die Unternehmen
so gut wie immer billiger, einen Mitarbeiter
zu behalten, als ihn in Frühpension zu
schicken.
Matthias Meyer, Leiter des Gesundheitsamts
im Kanton Zug, ergänzte, dass es für eine
bessere Versorgung psychisch Kranker in
der Regel nicht am Geld, sondern am poli-
tischen Willen fehle. Im Kanton Zug habe
man mit einem Konzept gute Erfahrungen
gemacht, das auf Sensibilisierung, gezielten
Projekten, Vernetzungen, Wiedereingliede-
rungshilfen und der Unterstützung von
Selbsthilfegruppen beruht.
◆
Renate Bonifer
Mental Health Forum: «Psychische Gesundheit – die Versorgungslage in der Schweiz». Bern, 29. Oktober 2009; organisiert von Lundbeck AG Schweiz; Kosponsor: sanofi aventis.
Die Berichterstattung wurde von Lundbeck AG Schweiz finanziell unterstützt.
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