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Antibiotikatherapie bei Otitis media
Eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Resistenzrisiko ist nötig
Wann ist bei einer kindlichen Mittelohrentzündung eine Antibiotikatherapie indiziert? Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich diese Frage von Pädiatern aus verschiedenen Ländern beantwortet wird. So oder so: Voraussetzung für weitere Entscheidungen ist eine korrekte Diagnose. Dann heisst es abzuwägen zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der Gefahr von Nebenwirkungen beziehungsweise Resistenzentwicklungen. Dr. Anne Vergison aus Brüssel gab beim Kongress «Excellence in Paediatrics» in Istanbul einen Überblick.
Über 80 Prozent aller Kinder haben vor ihrem 3. Lebensjahr mindestens eine akute Mittelohrentzündung (AOM) hinter sich. Ein beträchtlicher Teil leidet bis zum 7. Lebensjahr unter wiederkehrenden Entzündungen der Schleimhäute des Mittelohrs, 40 Prozent davon sogar unter sechs oder mehr Entzündungsepisoden.
Diagnose nicht immer einfach
Allerdings können sowohl die Diagnose als auch die antimikrobielle Therapie beziehungsweise die Gefahr von Resistenzentwicklungen für Praktiker zu einer echten Herausforderung werden. Dies betonte Dr. Anne Vergison von der Paediatric Infection Disease Unit des Universitätsspitals Brüssel am Pädiatriekongress in Istanbul. So ist die korrekte Diagnose einer AOM abhängig von der Qualität des Otoskops, der adäquaten Beseitigung des Zerumens, der Erfahrung des Arztes sowie der Kooperationsbereitschaft der kleinen Patienten und ihrer Eltern. «Sehr häufig sind aufgrund nicht spezifischer Symptome weder die Kinderärzte noch die Otolaryngologen in der Lage, eine richtige Diagnose zu stellen», sagte Vergison. Darum würden nur bei 50 bis 73 Prozent der Fälle richtig diagnostiziert.
Gleich Antibiotika oder abwarten?
Die meisten Mittelohrentzündungen werden durch bakterielle Infektionen verursacht, in der Mehrheit (mehr als 80%) von Streptococcus-pneumoniae- und nicht typisierbaren Haemophilus-influenzae-Keimen. Als Evidenz für den Einsatz antimikrobieller Therapien werden häufig folgende Argumente aufgeführt: Die Hauptsymptome, wie Schmerzen und Fieber, verschwinden schneller, bei Kleinkindern unter 2 Jahren gibt es weniger Therapieversager und weniger Komplikationen, und zudem ist eine solche Kur preiswert und unkompliziert zu handhaben. Was sagen nun die Studien? In einer Metaanalyse von AOM-Vergleichsstudien (Antibiotikabehandlung vs.
Plazebo) wurde festgestellt, dass bei zwei Dritteln aller Kinder die Schmerzen innerhalb von 24 Stunden wieder verschwanden, im Plazeboarm sogar bei 80 Prozent (1). Der Unterschied zwischen der mit Antibiotika behandelten Gruppe und Plazebo betrug in der Analyse lediglich 7 Prozent. Hinsichtlich des Auftretens von Hörproblemen oder der Rückfallhäufigkeit zeigte sich zwischen Plazebo und Verum überhaupt kein Unterschied. Allerdings traten im Zusammenhang mit der Antibiotikabehandlung mehr Nebenwirkungen wie Diarrhö, Nausea oder Hautausschläge auf. Solche Symptome waren in den «Wait-and-see»-Gruppen (48 bis 72 Stunden abwarten, n = 2750) nicht zu beobachten. Allerdings hatten in einigen Fällen die Kinder unter Plazebo nach der «Wait-andsee»-Phase immer noch Fieber und mussten anschliessend mit Antibiotika versorgt werden – dies gab Vergison zu bedenken.
Dr. Anne Vergison, Paediatric Infection Disease Unit, Universität Brüssel
Welche Kinder profitieren besonders von Antibiotika?
In einer eigens auf diese Frage ausgerichteten Metaanalyse (2) aus dem Jahr 2006 zeigte sich, dass von den 1643 pädiatrischen Patienten vor allem solche mit schwerer Otorrhö (NNT [number needed to
TAKE HOME MESSAGE
• Zentraler Punkt ist eine korrekte AOM-Diagnose. • Komplikationen, wie zum Beispiel Mastoiditis, sind in den Industrieländern selten. • Der Antibiotikaeinsatz sollte reduziert werden. • Es ist nicht immer einfach, jene Kinder zu identifizieren, die von einer Antibiotika-
therapie besonders profitieren.
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In vielen Fällen ist der Nutzen antimikrobieller Therapien bei AOM gering.
treat] = 3) und Kinder mit bilateraler Otitis media, welche jünger als 2 Jahre alt waren (NNT = 4), klare Vorteile durch eine antimikrobielle Therapie hatten. Dies wurde durch zwei in der Zeitschrift «New England Journal of Medicine» publizierte aktuelle Studien mit Kleinkindern im Alter von 6 bis 35 Monaten bestätigt (3, 4). Dort traten bei den mit Plazebo behandelten Patienten signifikant mehr Therapieversager auf als in der Amoxicillingruppe. Ein Drittel dieser mit Plazebo behandelten Kinder benötigten daraufhin ebenfalls eine rettende Antibiotikabehandlung. Zwar sei dieser Nutzen in der zweiten Studie ebenfalls nachzuweisen gewesen, so Vergison, der Unterschied zwischen Verum (Amoxicillin und Clavulanat) und Plazebo war jedoch relativ gering (4).
Mastoiditis in Europa nur noch selten
Als gefürchtete Komplikation einer schlecht respektive nicht heilenden Otitis media acuta gilt die Mastoiditis. Während diese mit einer herdförmigen Knocheneinschmelzung verbundene Knochenentzündung in den Entwicklungsländern immer noch weitverbreitet ist, tritt sie – im Gegensatz zu früher – in den industrialisierten Ländern heute nur noch selten auf. So lag die Erkrankungsrate zwischen 1991 und 2001 bei den nicht mit Antibiotika behandelten Kindern bei 0,047 Prozent und bei den behandelten Kindern bei 0,022 Prozent. Bei Letzteren wurde zwar eine geringere Prävalenz beobachtet, aber in Anbetracht der grossen Anzahl von Kindern, die behandelt werden müssen, um eine Mastoiditiserkrankung zu verhindern (bei den 2- bis 5-Jährigen: NNT = 16 000, bei den 6- bis 10-Jährigen: NNT = knapp 4000), sei eine systematische Antibiotikatherapie inakzeptabel, erklärte Vergison.
Nutzen versus Resistenzentwicklung
In vielen Fällen ist der Nutzen antimikrobieller Therapien bei AOM gering. Trotzdem sind Mittelohrentzündungen schon seit Langem der Hauptgrund für die
Tabelle 1: Indikationen für eine Antibiotikabehandlung bei Kindern mit AOM
• sehr junge Kinder (< 6 Monate) • schwere Krankheit («ill-appearance») • Kinder mit Immunschwäche • Kinder mit zusätzlich anderen bakteriellen Erkrankungen • Kinder mit rezidivierender AOM • falls in den vergangenen sieben Tagen mit Antibiotika behandelt wurde • Kinder mit familiären Vorbelastungen • Tympanotomie oder perforiertes Trommelfell • grundlegende Hörbeeinträchtigungen oder Cochlea-Implantate • Kinder mit unsicherem Zugang zu medizinischer Versorgung • wenn bei Kindern unter 2 Jahren: nur bei sicherer AOM-Diagnose
Quelle: Vortrag von Dr. Anne Vergison am Kongress «Excellence in Paediatrics» in Istanbul, 30.11. bis 3.12.2011
Verschreibung von Anitbiotika. Dies führe zu einem klaren Anstieg multipler Resistenzen gegenüber den unterschiedlichen bakteriellen Krankheitserregern, gab Vergison zu bedenken: «Einige dieser Pathogene sind sehr relevant. Wenn wir Antibiotika zu häufig verschreiben, werden wir unsere schärfsten antibakteriellen Waffen verlieren, und zwar auch gegenüber anderen Infektionskrankheiten, wie zum Beispiel Pneumonien und Sinusitis.» Zudem dürfe man gerade bei den Kleinsten die potenziellen Nebenwirkungen nicht vergessen. In einer aktuellen Studie wies immerhin rund ein Viertel der Kleinkinder als Folge der Amoxicillin-Clavulanat-Behandlung Diarrhö auf, bei einigen musste die Therapie sogar deswegen abgebrochen werden. Für bestimmte Kinder mit AOM (unter 2 Jahren und schwere Krankheitsausprägung) sei indes eine Antibiotikatherapie zu empfehlen oder sogar zwingend notwendig, so Vergison. Daher müsse man immer genau abwägen zwischen der Resistenzproblematik beziehungsweise möglichen Nebenwirkungen und dem Nutzen für das Kind.
Grosse Unterschiede bei den Resistenzen
Es ist bemerkenswert, in welch unterschiedlichem Ausmass Anitbiotika zur Therapie bei Mittelohrentzündungen in den europäischen Ländern verwendet werden. Sie werden in den südeuropäischen Ländern wesentlich häufiger verordnet als in Mittel- und Nordeuropa. In Griechenland, Frankreich, Italien oder Portugal verschreiben die Ärzte mehr als doppelt so viele Antibiotika pro Einwohner wie in Dänemark, Österreich, Deutschland oder den Niederlanden. Dabei weisen die Südeuropäer keine geringere Mortalität oder Morbidität unter AOM-Kindern auf, wohl aber höhere Resistenzraten. «Es gibt eine klare klinische Korrelation zwischen dem Konsum von Antibiotika und mehr Resistenzen», berichtete Anne Vergison. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich macht dies deutlich. Während in Deutschland als First-lineTherapie bei Kindern unter 5 Jahren mit AOM in 40 Prozent der Fälle Antibiotika eingesetzt werden (und 83% Analgetika), sind es in Frankreich mit 94 Prozent fast alle Kinder (38% Analgetika) (5, 6). Die «Wait-and-see»-Strategie findet in Deutschland bei 15 Prozent der Patienten Anwendung, in Frankreich hingegen nur bei 2 Prozent. Und die Resistenzen? Die Penizillinresistenz unter den Pneumokokkenisolaten liegt in Deutschland bei nur rund 5 Prozent, während dies in Frankreich bei etwa 46 Prozent der Isolate der Fall ist. Dort haben sich nicht nur unter den S.-pneumoniae-, sondern auch unter den Haemophilus-influenzae-Stämmen mittlerweile weitreichende Penizillinresistenzen herausgebildet. «Als weiteres Problem dürfen wir nicht vergessen, dass Kinder diese resistenten Keime auch auf ihre Eltern und Grosseltern übertragen, bei denen die Krankheit dann noch heftiger zuschlägt», warnte Vergison. «Wenn das so weitergeht, werden wir in Situationen kommen, wo kein orales Antibiotikum mehr gegen Mittelohrentzündungen hilft.» Der einzige Ausweg bei Multiresistenzen wäre dann die Verwendung von Medikamenten, die in der Pädiatrie überhaupt nicht zugelassen sind.
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Antibiotika sind nützlich bei Kindern mit schwerer Otorrhö und bei Kindern unter 2 Jahren mit bilateraler Otitis media.
Grosse Unterschiede in den Guidelines
Mittlerweile wurden Kampagnen gegen den übermässigen Gebrauch von Antibiotika gestartet. Auch die Guidelines haben sich in manchen Ländern der wachsenden Resistenzproblematik angepasst und empfehlen eine etwas zurückhaltendere Verwendung der Antiabiotika. Allerdings nicht überall, denn nach wie vor gibt es grosse Unterschiede. Während bei Kindern unter 6 Monaten eigentlich überall Antibiotika empfohlen werden und bei Kindern über 24 Monate vielerorts eine «Wait-and-see»-Strategie verfolgt wird, gehen vor allem bei Kindern zwischen 6 und 24 Monaten die Meinungen stark auseinander. So empfehlen in dieser Altersgruppe kanadische und französische Guidelines bei AOM grundsätzlich den Einsatz von Antibiotika, während man dies in den Niederlanden nur empfiehlt bei «schwerer Krankheit» beziehungsweise einer Symptomatik, die länger als 72 Stunden anhält. In Australien werden Antibiotika nur bei «schwerer Krankheit» und in Dänemark sogar nur optional bei «schwerer Krankheit» bei den 6- bis 24-monatigen Kindern empfohlen. Auch in den USA, einem eigentlich sehr antibiotikafreundlichen Land, wurden Anstrengungen unternommen, die Verordnung dieser Medikamente zu reduzieren. Das hatte zur Folge, dass die Verschrei-
bungsraten tatsächlich stark zurückgingen, allerdings nicht der Anteil der Kinder mit AOM, der tatsächlich mit Antibiotika behandelt wird. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Wenn eine Mittelohrentzündung diagnostiziert wird, bekommen nach wie vor rund 80 Prozent der Betroffenen Kinder automatisch Antibiotika. Allerdings ist die Zahl der diagnostizierten AOM-Fälle deutlich zurückgegangen – ein nach den Worten von Anne Vergison gutes Zeichen. Trotzdem sei es sicher nicht notwendig, dass in den USA 80 Prozent der Patienten mit Mittelohrentzündung mit Antibiotika behandelt werden.
Klaus Duffner
Literatur: 1. Glasziou et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2003. 2. Rovers MM, Glasziou P, Appelman CL et al. Antibiotics for acute otitis media: a metaanalysis with individual patient data. Lancet. 2006; 368: 1429–1435. 3. Tahtinen PA et al. A placebo controlled trial of antimicrobial treatment for acute otitis media. NEJM 2011; 364: 116–124. 4. Hoberman A et al. Treatment of Acute Otitis Media in Children under 2 Years of Age. NEJM 2011; 364: 105–115. 5. Reinert RR, Reinert S, van der LM et al. Antimicrobial susceptibility of Streptococcus pneumoniae in eight European countries from 2001 to 2003. Antimicrob Agents Chemother 2005; 49: 2903–2913. 6. Pelton et al: 13th intern. Congress of Infectious diseases 2008 (Abstract).
Quelle: Vortrag von Dr. Anne Vergison am Kongress «Excellence in Paediatrics» in Istanbul, 30. 11. bis 3.12.2011; Foto: Klaus Duffner.