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KONGRESSHEFT
Allergisch auf Milch?
Kuhmilchallergie – nicht immer leicht zu diagnostizieren
Mit einer Prävalenz von 2 bis 3 Prozent gehören Kuhmilchproteinallergien (KMPA) bei kleinen Kindern zu den häufigsten Nahrungsmittelallergien. Allerdings ist die korrekte Diagnose wegen der sehr unspezifischen Symptome oftmals eine Herausforderung. Sie ist aber notwendig, denn erst durch eine kuhmilchproteinfreie Diät kann den meisten Kindern geholfen werden. Die Münchner Kindergastroenterologin Prof. Dr. Sibylle Koletzko gab in Istanbul über die Tücken der KMPA-Diagnostik Auskunft.
Prof. Dr. med. Sibylle Koletzko, Universitätsklinikum München
Bei Kuhmilchallergien besteht ein hohes Risiko, dass sie über- oder unterdiagnostiziert werden.
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Bei Säuglingen ist das Immun- und Verdauungssystem noch nicht voll ausgereift. Der frühe Kontakt mit «Fremdstoffen» kann daher schneller zu einer allergischen Reaktion führen als im Erwachsenenalter. Einer der Gründe, warum relativ viele Kinder von einer Kuhmilchallergie betroffen sind: In Kuhmilch ist oftmals das erste Fremdeiweiss, mit dem ein Säugling in Kontakt kommt. Die Symptome der betroffenen Kinder sind sehr variabel und unspezifisch, was eine korrekte Diagnose erschwert. So liege etwa bei der Hälfte der Kinder, die von den verängstigten Eltern mit dem Verdacht auf Kuhmilchproteinallergie zum Kinderarzt gebracht werden, überhaupt keine solche Allergie vor, sagte Prof. Dr. Sibylle Koletzko von der Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Entsprechend gebe es bei Kuhmilchallergien «ein hohes Risiko, dass sie über- oder unterdiagnostiziert werden».
Kuhmilchallergie Ja oder Nein?
Anhand einer Reihe von Beispielen zeigte Koletzko, wie schwierig es sein kann, eine Kuhmilchallergie tatsächlich zu diagnostizieren. So litt die dreijährige Laura schon seit zwei Jahren unter atopischer Dermatitis. Unbeabsichtigt verzehrte sie ein Joghurt und entwickelt 10 Minuten darauf Urtikaria, ein schweres Angiodöm und starken Juckreiz. Die achtjährige Stefanie entwickelte 30 Minuten nach dem Genuss eines Käsebrotes eine Urtikaria. Zuvor hatte das Mädchen, das sonst unter keiner Atopie litt, 24 Stunden Fieber. Auch Mohamed (sieben Monate alt) hatte bisher keine Probleme mit Ekzemen. Vor drei Monaten erhielt der Knabe einen auf Kuhmilch basierenden Muttermilchersatz. Seitdem musste er sich nach fast jeder Mahlzeit übergeben, und zwar unabhängig davon, ob sich Kuhmilch in der Nahrung verbarg oder nicht. Der dreijährige Samuel leidet unter einer partiellen Trisomie 9. Seine Essgewohnheiten waren normal, bis er plötzlich über Bauchschmerzen klagte und feste Nah-
rung verweigerte. Gleichzeitig wurde im Stuhl zweimal Blut nachgewiesen. Auch perianale Hautverdikkungen stellten sich ein. Wer von diesen Kindern hatte nun eine Kuhmilchproteinallergie und wer nicht?
Sehr unspezifische Symptome
Schon aus diesen wenigen Fällen ist abzulesen, mit welch breitem Symptomspektrum die KMPA verbunden sein kann. Am häufigsten treten die Beschwerden im Bereich der Haut, der Schleimhäute des Respirations- und des Magen-Darm-Traktes auf. Auf der Haut sind Ekzeme, Urtikaria, Dermatitis oder Ödeme typisch, während im Respirationstrakt zum Beispiel mit bronchialer Obstruktion oder allergischer Rhinokonjunktivitis zu rechnen ist. Im Gastrointestinalbereich kann es einerseits zu Dysmotilitätsstörungen kommen, die mit Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall oder Konstipation verbunden sind, und andererseits zu Entzündungen. Die Folgen solcher Entzündungen sind Blutungen, Proteinverlust, Schmerzen, Diarrhö, Malabsorbtion, Anorexie, Nahrungsverweigerung oder Gedeihstörungen. Vor allem wenn die Kuhmilchproteinallergie nicht mit dermatologischen Symptomen einhergeht – was durchaus der Fall sein kann – können Eltern und Ärzte auf eine falsche Spur geführt werden. Rund 5 bis 9 Prozent der Allergiker reagieren schon kurze Zeit nach der Aufnahme von Kuhmilchprotein mit einer Anaphylaxie. Dabei kann es zum Beispiel zu Schwellungen der Haut (auch im Rachen!), Urtikaria, Erbrechen, Durchfall, Asthma oder Schock kommen, was im schlimmsten Fall zum Tod führt.
Abgrenzung zu anderen Erkrankungen
Prinzipiell unterscheidet man IgE- und nicht-IgE-mediierte allergische Reaktionen. Erstere führen eher zu klinischen Sofortreaktionen und können labordiagnos-
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Abbildung: Diagnostisches Vorgehen bei Säuglingen mit Verdacht auf Kuhmilchproteinallergie (nach Koletzko et al. Monatsschr für Kinderheilkd 2009; 157: 687–691)
tisch nachgewiesen werden, während Letztere sich verzögert manifestieren und schlechter nachzuweisen sind. Magen-Darm-Beschwerden werden durch eosinophile gastrointestinale Störungen ausgelöst. Dabei wandern eosinophile Granulozyten in die Schleimhäute von Magen und Dünndarm und verursachen dort Entzündungen, ohne dass offensichtliche Gründe wie beispielsweise parasitische Infektionen, Kollagenosen, Medikamentenempfindlichkeiten oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen vorliegen. Möglich sind zum Beispiel eine eosinophile Ösophagitis (derzeit mit steigender Inzidenz), eosinophile Gastroenteritis (sehr selten) oder eosinophile Kolitis (bei Kleinkindern verbreitet). Allerdings ist die Abgrenzung zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen nicht immer einfach. Zudem leiden manche Kinder sowohl an KMPA als auch an beispielsweise Colitis ulcerosa, wie Koletzko berichtete. Andere weisen zwar die typischen Symptome einer Refluxkrankheit (GERD) auf, sind jedoch tatsächlich von einer Kuhmilchallergie betroffen. Auch eine Hypoproteinämie (bei hohen α1-Antitrypsin-Werten im Stuhl) kann eine mögliche Folge einer KMPA sein. Schliesslich können Kinder mit Kuhmilchallergie auch regelmässig Mahlzeiten erbrechen, die überhaupt keine Milchprodukte ent-halten.
Nach Algorithmus vorgehen
Nach der physischen Untersuchung (inkl. Zustand der Augen, Nase, Lungen und anderer Organe) sollte geschaut werden, ob es sich um früh oder spät auftretende Symptome handelt und ob Alarmzeichen vorhandeln sind (Abbildung). Mit dem Nachweis spe-
Kuhmilchallergie: Was beachten?
• stets misstrauisch sein • Krankengeschichte und familiäre Belastung abklären • Untersuchung: Akute Alarmzeichen? Klare akute Reaktion? • diagnostische Elimination • Allergietests • Spezifischer IgE- oder Haut-Prick-Test • abhängig von der Symptomatik: andere diagnostische Hilfsmittel (Endoskopie)
zifischer IgE-Antikörper im Blutserum beziehungsweise einem Hauttest (Prick-Test oder Epikutantest mit Kuhmilch oder Kuhmilchformula) können wichtige Informationen über die mögliche Reaktion des Kindes auf eine Allergenexposition gewonnen werden. Je grösser die Quaddel beim Hauttest, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass auch eine KMPA vorliegt. Zudem wird innerhalb einer Ausschlussdiät auf verdächtige Nahrungsmittel verzichtet. In den dafür verwendeten Ersatznahrungsmitteln dürfen dann natürlich keinerlei Kuhmilchproteinbestandteile, aber auch keine anderen tierischen Milchproteine (z.B. Ziegenmilch) oder Sojaprotein enthalten sein. Stillende Mütter sollten während der diagnostischen Elimination (10 bis 14 Tage) ebenfalls auf Milch und Milchprodukte verzichten. Verschwinden daraufhin die Beschwerden nicht, ist eine durch Kuhmilchprotein verursachte Nahrungsmittelallergie unwahrscheinlich, und die Ursachen müssen irgendwo anders liegen, erklärte Koletzko. Verbessern sich jedoch die klinischen Symptome, sei eine Kuhmilchallergie wahrscheinlich. In diesem Fall sollte anschliessend mit einer ärztlich überwachten oralen Provokation die Diagnose bestätigt werden. Ausnahme sind Säuglinge mit klarer Anamnese und positivem IgE. Die standardisierte orale Provokation wird mit Säuglingsnahrung auf Kuhmilchbasis oder nach dem ersten Lebensjahr mit pasteurisierter frischer Kuhmilch im Titrationsverfahren durchgeführt. Voraussetzungen sind eine ärztliche Überwachung und die Beherrschung eventueller Notfallsituationen. Besteht aufgrund sehr starker Reaktionen (z.B. Anaphylaxie) von vornherein der Verdacht auf eine KMPA, sollte sofort auf sämtliche Kuhmilchprodukte verzichtet werden. Zudem sollten das spezifische IgE bestimmt und ein Haut-Prick-Test durchgeführt werden. Bestätigt sich der Verdacht auf KMPA, kann unverzüglich mit der therapeutischen Eliminationsdiät begonnen werden. Sind IgE-Test beziehungsweise der Haut-Prick-Test jedoch negativ, sollte unter strenger ärztlicher Aufsicht ebenfalls eine standardisierte Allergenprovokation erfolgen, und zwar stationär, wie die Münchner Kinderärztin sagte.
Gute Aussichten
Durch eine kuhmilchfreie Diät können die allergeninduzierten Symptome in den meisten Fällen gebessert werden. Beispielsweise zeigt die Elimination des Kuhmilchproteins vom Speiseplan des Patienten beziehungsweise der stillenden Mutter gegenüber der recht häufigen eosinophilen Proktitis/Kolitis eine gute Wirkung. «Solche Kinder haben eine gute Prognose», betonte Koletzko. Bei Kindern mit hohem spezifischem Immunglobulin-E-Blutspiegel gegen Kuhmilcheiweiss ist die Prognose hingegen schlechter.
Klaus Duffner
Quelle: Vortrag von Sibylle Koletzko am Kongress «Excellence in Paediatrics» in Istanbul, 30. November bis 3. Dezember 2011.
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