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SCHWERPUNKT
Skoliose bei Kindern und Jugendlichen
Diagnostik und Grundlagen der Behandlung
Eine Verkrümmung der Wirbelsäule in der Frontalebene wird als Skoliose bezeichnet. Der Grossteil der Skoliosen bereitet keine Schmerzen, sodass die Diagnose meist verzögert gestellt wird. Ziel jeder Behandlung ist das Aufhalten einer weiteren Progredienz der Skoliose.
Von Sylvia Dähn
P rimär unterschieden werden muss die echte Skoliose von der skoliotischen Haltung. So zeigt sich zum Beispiel bei einer Beinlängendifferenz ein Beckenschiefstand, welcher eine Skoliosierung zur Folge hat. Eine Begradigung der Wirbelsäule kann durch einen alleinigen Ausgleich des Beckenschiefstandes erreicht werden. Skoliotische Haltungen können sich auch bei Schmerzzuständen im Sinne einer Entlastungshaltung zeigen. Skoliotische Haltungen weisen keine Rotationskomponente auf, worauf noch im Abschnitt «Untersuchung» näher eingegangen wird. Bei der echten Skoliose handelt es sich hingegen nicht nur um eine alleinige seitliche Verbiegung, sondern um eine dreidimensionale Deformität der Wirbelsäule. Im Folgenden sollen diese Deformitäten weiter unterteilt werden. Die Einteilung der Skoliosen ist elementar für die Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung und hat damit eine praktische Bedeutung.
Kongenitale Skoliose
Primär erwähnt werden soll hier die kongenitale Skoliose. Bei dieser Form der Deformität liegt eine Formations- oder Segmentationsstörung der Wirbelkörper vor. Zeigt sich bei einer Wirbelkörperfehlbildung bereits in jungen Jahren eine Verkrümmung, so muss mit einer erheblichen Progredienz im Wachstum gerechnet werden, welche in der Regel auch eine operative Korrektur notwendig macht (Abbildung 1).
Abbildung 1: Halbwirbelbildung im Bereich der Brustwirbelsäule (BWK 9) bei einer kongenitalen Skoliose
Skoliose im Rahmen anderer Erkrankungen
Skoliosen können des Weiteren im Rahmen anderer Grunderkrankungen auftreten. Dies zum Beispiel beim Marfan-Syndrom, der Neurofibromatose, bei der Osteogenesis imperfecta, beim Ehlers-DanlosSyndrom, dem Apert-Syndrom, der fibrösen Dysplasie und beim Prader-Willi-Syndrom. Daher sollte bei Vorliegen solcher Erkrankungen regelmässig die Wirbelsäule klinisch kontrolliert werden.
Neuromuskulär bedingte Skoliose
Durch asymmetrische Muskelzüge sind Skoliosen auch regelmässig im Rahmen neuromuskulärer Erkrankungen anzutreffen. Dies bei der Zerebralparese, der spinalen Muskelatrophie, nach Poliomyelitis, nach einer traumatischen Querschnittlähmung, bei der Myelomeningozele und im Rahmen von Muskeldystrophien.
Idiopathische Skoliose
Die wichtigste und auch die häufigste Gruppe der Skoliosen stellen die idiopathischen Skoliosen, weshalb besonders auf diese Form der Wirbelsäulenverkrümmungen eingegangen werden soll. Die Ätiologie ist noch immer unbekannt. Es wird angenommen, dass genetische Faktoren für die Entstehung einer Skoliose mitverantwortlich sind. So werden bei monozygoten Zwillingen häufiger Skoliosen bei beiden Individuen beobachtet als bei heterozygoten Zwillingen, und die Skoliosen entwickeln sich bei homozygoten Zwillingen mit ähnlicher Progredienz. Es werden drei Formen der idiopathischen Skoliose in Abhängigkeit vom Erkrankungsalter unterschieden: • Die infantile Skoliose tritt zwischen 0 und 3 Jahren
auf, Buben sind häufiger betroffen als Mädchen. Das Risiko der Progredienz ist bei der infantilen Form der Skoliose hoch. • Die juvenile Skoliose zeigt sich zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr. • Als Adoleszentenskoliose wird eine Wirbelsäulenverkrümmung in der Frontalebene bezeichnet, welche nach dem 10. Lebensjahr auftritt, also in der Phase des schnellen pubertären Wachstums. Die Adoleszentenskoliose ist die häufigste Form aller Skoliosen. Die Prävalenz liegt bei bis zu 3 Prozent. Nur bei 0,3 bis 0,5 Prozent zeigt sich eine Krümmung von mehr als 20 Grad. Mädchen sind deutlich häufiger betroffen als Jungen. Die Adoleszentenskoliose ist meist thorakal lokalisiert und rechtskonvex.
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Abbildung 2: Mädchen mit beginnenden Pubertätszeichen mit ausgeprägter rechstkonvexer thorakaler Skoliose. Man sieht den deutlichen Schulterschiefstand und die Taillenasymmetrie, aber auch die Verkrümmung der Brustwirbelsäule an sich.
Während des Wachstums muss mit Progredienz gerechnet werden.
Der Vorneigetest ist Bestandteil jeder kinderorthopädischen Untersuchung.
Abbildung 3: Beim Vorneigetest zeigt sich als Ausdruck der Torsion der Wirbelsäule ein Rippenbuckel.
Abbildung 4: Die Skoliometermessung dient der Verlaufskontrolle einer Skoliose. Eine Zunahme eines Rippenbuckels ist Hinweis für eine Progredienz der Skoliose.
Klinische Untersuchung der Wirbelsäule
Da die Kinder und Jugendlichen mit einer Wirbelsäulenverkrümmung meist keine Schmerzen haben, werden vor allem im Jugendalter Skoliosen meist erst spät oder im Rahmen von Routineuntersuchungen in der Schule oder bei der pädiatrischen Kontrolluntersuchung erkannt. Vor allem die Adoleszenten zeigen sich selten unbekleidet den Eltern, sodass diese die Verkrümmung auch meist erst in einem fortgeschrittenen Stadium bemerken. Meist fällt eine Skoliose erst im Badekleid im Sommer auf. Die Untersuchung der Wirbelsäule, insbesondere der sogenannte Vorneigetest, sollte daher immer bei kinderärztlichen Untersuchungen durchgeführt werden. Erste Anzeichen einer Skoliose sind Asymmetrien des Rumpfes wie Schulterschiefstand, Taillenasymmetrie oder eine Lotdeviation. Auch eine ThoraxvorderwandAsymmetrie kann Ausdruck einer Wirbelsäulendeformität sein (Abbildung 2). Die echte Skoliose stellt nicht nur eine Verkrümmung in der Frontalebene dar, sondern weist immer eine Rotationskomponente auf. Durch diese Torsion zeigt sich beim Vornüberbeugen (Vorneigetest) ein mehr oder weniger ausgeprägter Rippenbuckel oder Lendenwulst (Abbildung 3). Bei der typischen rechtskonvexen thorakalen Adoleszentenskoliose zeigt sich der Rippenbuckel rechts. Eine genaue klinische Messung des Rippenbuckels oder des Lendenwulstes ist mit dem Skoliometer möglich (Abbildung 4). Diese Messung dient in der kinderorthopädischen oder wirbelsäulenorthopädischen Sprechstunde vor allem der Verlaufskontrolle. Eine Zunahme des Rippenbuckels oder Lendenwulstes ist Ausdruck einer Torsionszunahme, welche für eine Progredienz der Skoliose spricht. Durch diese Messungen können Röntgenbilder der gesamten Wirbelsäule zur Verlaufskontrolle stellenweise eingespart werden.
Die Untersuchung sollte mit Ausgleich einer möglichen Beinlängendifferenz mittels Brettchenunterlage durchgeführt werden, um eine echte Skoliose von einer skoliotischen Haltung unterscheiden zu können. Zeigt sich bei einem Heranwachsenden eine Skoliose, so ist vor allem im pubertären Wachstum eine halbjährliche Kontrolle zu empfehlen. Dies um eine Progredienz frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls entsprechende weitere therapeutische Schritte einleiten zu können. Die Kontrolle wird primär klinisch durchgeführt, eine radiologische Kontrolle ist bei Veränderungen (Skoliometermessung) des klinischen Befundes indiziert.
Radiologische Untersuchung
Beim klinischen Verdacht auf eine Skoliose wird vom Orthopäden/Kinderorthopäden eine radiologische Untersuchung der Wirbelsäule durchgeführt. Dies zum Ausschluss von einer Wirbelkörperfehlbildung als Ursache der Skoliose, aber vor allem zur Beurteilung des Krümmungsgrades. Zur korrekten Ausmessung der Wirbelsäule wird eine Wirbelsäulenganzaufnahme im posterioanterioren und seitlichen Strahlengang angefertigt. Bei der Messung nach Cobb werden als Endwirbel diejenigen Wirbelkörper bezeichnet, welche am stärksten gegenüber der Senkrechten gekippt sind. Der Scheitelwirbel steht horizontal (Abbildung 5). Zur Röntgen-Verlaufskontrolle kommt in unserer Klinik das EOS-Gerät zum Einsatz (Leuag AG, ultra low dose). Dadurch kann die Strahlenbelastung um bis zu 90 Prozent reduziert werden. Eine nicht immer notwendige weiterführende Diagnostik wie die MRI-Untersuchung sollte dem Spezialisten vorbehalten bleiben.
Progredienzrisiko
Bei jeder Skoliose muss während des Wachstums mit einer weiteren Progredienz gerechnet werden. Das stärkste Wirbelsäulenwachstum findet während des
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Abbildung 5: Ausmessung der Verkrümmung der Wirbelsäule nach Cobb. Als Scheitelwirbel oder Apex wird der horizontal stehende Wirbel bezeichnet, hier LWK1. Es zeigt sich bei der Patientin ein Cobb-Winkel von 26 Grad. Das Mädchen steht am Beginn des pubertären Wachstumsschubs, daher Indikationsstellung zur Korsettbehandlung.
Abbildung 6: Röntgenaufnahme desselben Mädchens im Korsett. Die Kurve konnte vollständig korrigiert werden.
Abbildung 7: Mädchen mit anliegenden Chêneau-Korsett. (Vergleiche Abbildung 5 und 6)
pubertären Wachstumsschubes statt, weshalb man in diesem Zeitraum erhebliche Zunahmen der Skoliose beobachten kann. Starke Kurven über 50 Grad können auch nach abgeschlossenem Wachstum eine weitere Progredienz von zirka 0,5 bis 1 Grad thorakal und 1 bis 1,5 Grad lumbal pro Jahr aufweisen. Kurven unter 30 Grad weisen üblicherweise keine starke Progredienz mehr nach Wachstumsabschluss auf. Zur Beurteilung des Progredienzrisikos werden der aktuelle Entwicklungszustand des Patienten und die Wirbelsäulenverkrümmung bestimmt. Anhaltspunkte für den Entwicklungszustand geben das Skelett (Handröntgen und Risser-Zeichen am Beckenkamm) und das Einsetzen der Menarche. Ziel der Behandlung ist vor allem das Aufhalten einer weiteren Progredienz.
Physiotherapie
Bei den idiopathischen Skoliosen wird die Wirkung der Physiotherapie in der Literatur kontrovers diskutiert. Prospektive Studien mit einem Follow-up bis nach dem Wachstumsabschluss fehlen. Studien mit einem kurzen Follow-up zeigten einen positiven Effekt der Physiotherapie bezüglich Progredienz der Skoliose. Skoliosen unter 15 Grad sollten, ausser bei zusätzlicher Problematik wie starker Haltungsinsuffizienz oder Lotdeviation, nicht physiotherapeutisch behandelt werden, um eine Überbehandlung zu vermeiden. Meist bleiben diese milden Skoliosen aber auch unerkannt. Bei stärkeren Skoliosen sollte eine Physiotherapie bei einem spezialisierten Therapeuten durchgeführt werden. Gängige Behandlungsmethoden sind
das Konzept nach Katharina Schroth, die Vojta-Methodik oder die E-Technik nach Hanke. Die kongenitalen Skoliosen und die Skoliosen bei neuromuskulären Erkrankungen sind der Physiotherapie leider kaum zugänglich.
Korsett
Liegt eine Skoliose von über 20 Grad nach Cobb und noch ein deutliches Wachstumspotenzial vor, sollte mit den Eltern und dem Patienten die Korsettbehandlung nach Mass diskutiert werden. Auch die Wirksamkeit der Korsettbehandlung wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Ziel auch dieser Behandlung ist das Aufhalten einer weiteren Progredienz der Skoliose. Es konnte belegt werden, dass eine gute Primärkorrektur im Korsett mit dem Resultat der Korsettbehandlung positiv korreliert (Abbildung 5 und 6). Auch ist die Tragedauer des Korsetts entscheidend für den Erfolg der Behandlung. Eine Tragedauer von 23 Stunden am Tag zeigte die signifikant höchste Effizienz. Ein Korsett, welches 16 Stunden am Tag getragen wird, ist kaum wirksamer als eine Orthese, welche 8 Stunden getragen wird. Das Korsett sollte also ganztags bis zum Abschluss des Wachstums getragen werden. Das Chêneau-Korsett, welches nach Mass angefertigt wird, ist das in der Schweiz am häufigsten angewendete Korsett (Abbildung 7). Begleitend zur Korsettbehandlung wird eine physiotherapeutische Behandlung durchgeführt. Die enge Zusammenarbeit der Eltern, des behandelnden Orthopäden/Kinderorthopäden, des behandelnden Pädiaters, des Physiotherapeuten und des Ortho-
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Bei einem Heranwachsenden mit Skoliose ist vor allem im pubertären Wachstum eine halbjährliche Kontrolle durchzuführen.
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fung) zur Korrektur der Kurve aber auch Rotation durchgeführt (Abbildung 8A und 8B). Beim noch jungen Patienten mit viel Wachstumspotenzial wird, wenn möglich, eine nicht versteifende Opertionstechnik angewandt. Kongenitale Skoliosen mit Halb- oder Blockwirbelbildung, welche eine Progredienz aufweisen, können meist kurzstreckig operativ korrigiert werden.
Abbildung 8: Indikationsstellung zur Operation bei starker Progredienz der Skoliose auf 53 Grad nach Cobb (A). Korrektur der Deformität durch Aufrichtespondylodese (B).
Spontanverlauf
Patienten mit einer Skoliose geben im Alter gering häufiger Rückenschmerzen an als die Kontrollgruppe. Cardiopulmonale Einschränkungen werden bei Kurven über 80 Grad nach Cobb oder starken Torsionen beobachtet. Vor allem im jungen Alter stellt das Vorhandensein der Skoliose ein nicht unerhebliches kosmetisches und auch psychisches Problem dar. Diese Probleme des Heranwachsenden müssen ernst genommen werden, auch beim Entscheid, welche weitere Behandlung durchgeführt wird, vor allem wenn es um operative Korrekturen geht. Aktuelle Studien beschäftigen sich mit prädisponierenden Faktoren, welche mit der Entwicklung einer schweren Verkrümmung im Zusammenhang stehen. Die bisherigen Ergebnisse können jedoch noch nicht im klinischen Alltag der Skoliose-Behandlung eingesetzt werden.
pädietechnikers ist die Grundvoraussetzung für den Erfolg der Korsettbehandlung. Den behandelnden Ärzten muss bewusst bleiben, dass die Korsettbehandlung für den Jugendlichen einen erheblichen Einschnitt ins Leben darstellt. Durch den interdisziplinären Austausch über die momentanen Probleme und die Akzeptanz der Behandlung kann die Compliance deutlich verbessert und dadurch die Behandlung optimiert werden.
Operative Skoliosebehandlung
Gestellt wird die Indikation zur Skolioseoperation vor allem bei stark progredienten Skoliosen beim noch wachsenden Patienten, bei dem noch mit einer weiteren Progredienz gerechnet werden muss. Der Zeitpunkt der Indikationsstellung zur OP und die Wahl des Operationsverfahrens hängen dabei vom Restwachstum aber auch dem Ausmass und der Lokalisation der Kurve ab. Die Operation verhindert eine weitere Progression, korrigiert aber auch die Deformität. Diskutiert werden operative Massnahmen bei Skoliosen von 40 bis 50 Grad nach Cobb bei fortschreitender Progredienz. Meist wird eine Spondylodese (Verstei-
Fazit
• Die Diagnose Skoliose wird meist erst gestellt, wenn bereits eine erhebliche Kurve vorhanden ist, da die Skoliose in der Regel keine Beschwerden bereitet.
• Bei dem Verdacht auf eine Wirbelsäulenverkrümmung sollte ein Orthopäde/Kinderorthopäde hinzugezogen werden.
• Anhand des Ausmasses der Skoliose und des noch bestehenden Wachstumspotenzials wird das Risiko der Progredienz eingeschätzt und das Therapieverfahren mit den Eltern und dem Kind bestimmt.
• Ziel jeder Behandlung ist das Aufhalten einer weiteren Progredienz der Skoliose.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Sylvia Dähn Stv. Oberärztin Kinder- und Jugendorthopädie Schulthess Klinik Lengghalde 2, 8008 Zürich E-Mail: Sylvia.Daehn@kws.ch
Literatur bei der Autorin erhältlich.
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