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Arsenicum: Absencen Management
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«Da stimme ich Ihnen absolut zu», sagte ich zum Personalchef des mittelgrossen Unternehmens, der seine Funktion als «Jumenrissors» beschrieben hatte. «Wichtig ist es auf jeden Fall, das Absencen-Management.» «Dann kann ich also auf Ihre Mithilfe zählen?», fragte er. «Selbstverständlich!» antwortete ich. «Absenzen in den Griff zu kriegen ist eine hausärztliche Pflicht – dieses Epilepsiesymptom muss wirksam behandelt werden.»
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arsenicum
«D a stimme ich Ihnen absolut zu», sagte ich zum Personalchef des mittelgrossen Unternehmens, der seine Funktion als «Jumenrissors» beschrieben hatte. «Wichtig ist es auf jeden Fall, das Absencen-Management.» «Dann kann ich also auf Ihre Mithilfe zählen?», fragte er. «Selbstverständlich!» antwortete ich. «Absenzen in den Griff zu kriegen ist eine hausärztliche Pflicht – dieses Epilepsiesymptom muss wirksam behandelt werden.» Am anderen Ende der Telefonleitung wurde es still. «Hä?», fragte der Jumenrissorser dann verblüfft. «Absencen!», rief ich etwas lauter in den Telefonhörer. «Kurzfristige Bewusstseinsstörungen. Früher nannte man sie Petit Mal!» Der Personalchef räusperte sich und erklärte mir, dass er Abwesenheiten der anderen Art meine. Nämlich Fehlzeiten der Arbeitnehmer seines Betriebes. Ich hatte es befürchtet. Die SUVA umschreibt es in Amtsdeutsch als «konkreter Absencenfall». (Was mag wohl ein «inkonkreter» sein? Ist da nur der Astralleib des Arbeitnehmers abwesend?) Uns Hausärzten werden zunehmend Probleme vorgelegt, die allenfalls den Betriebsarzt etwas angingen, den Schulpsychologen oder einen externen Arzt des Vertrauens, der für seine Untersuchungen entsprechend honoriert wird. Blaumacher, Schulschwänzer, Ausgebrannte, echt Kranke, Um-ihren-Arbeitsplatz-fürchtende-nicht-krank-zu-sein-Wagende, Scheininvaliden, Panikattacken-Betroffene, Arbeitsmüde, Workaholics – alle, die im Schul- und Berufsleben Schwierigkeiten welcher Art auch immer haben, sollen von uns identifiziert und bitte schön wieder an die Drehbank, den Presslufthammer, den Schreibtisch, das Schulpult gebracht oder von diesem weggehalten werden. Zwar sind wir weit weg von Arbeitsplatz und Schulbank, aber wir sollen es richten. Unliebsamen Nörglern eine IV verschaffen oder einen medizinischen Lendenschurz für die Frühpensionierung. Vorgesetzte wagen oder können nicht mehr die Probleme mit ihren Untergebenen ansprechen. Und darum verlangen sie inzwischen schon ab dem ersten Arbeitstag, an dem ein Arbeitnehmer fehlt, ein Arztzeugnis. Oder schicken den Workaholic kurz nach dem Zusammenbruch zum Arzt, anstatt ihm einen pfleglicheren Arbeitsstil beizubringen. Die Angestellten scheuen sich oder sind zu resigniert, um Missstände abzustellen und Konflikte zu lösen – und

lassen sich stattdessen «krankschreiben». Wie der Ausdruck schon sagt – eigentlich sind sie gar nicht krank. Wir machen sie mit einem Federstrich dazu, Aber nicht mehr lange, denn das blaue Blöckli wird durch «optimierte» Atteste ersetzt. Mit detaillierten Angaben, die wir machen sollen — und die uns natürlich wieder niemand zahlt. Eine noch komplexere Version, die geradezu Gutachtencharakter hat, findet sich auf der SIM-Website. Wenigstens (= synonym mit «minimal») wird es mit 60 Franken entschädigt. Ein mickriger Betrag für eine fachfremde Arbeit, für die der Hausarzt meist nicht die nötigen Informationen hat: nämlich über das Anforderungsprofil der Tätigkeit und den Arbeitsplatz, plus Umfeld. Ganz zu schweigen von der eigenen (oft nicht vorhandenen) arbeitsmedizinischen Kompetenz. Zu Recht fragt die SUVA auf ihrer Website: «Wissen Sie, worüber ein Arzt informiert sein muss, damit er ein sachgerechtes Zeugnis schreiben kann?» Nein, die Arbeitgeber wissen es nicht und die Lehrer auch nicht. Wollen sich Pubertierende mal einen schulfreien Tag machen, dann tun sie das. Gibt es deshalb Ärger in der Schule, verlangen sie dreist ein Arztzeugnis. Sie hätten vor zwölf Tagen Kopfweh gehabt und deshalb nicht in die Schule gehen können … Allerdings tun sie das bei mir nur einmal – bevor ich sie unter ehrverletzenden Beschimpfungen aus der Praxis jage. Schulleitungen glauben nicht mehr den Eltern, dass das Kind appendektomiert oder tonsillektomiert wurde. Oder dass es nicht turnen kann, obwohl es sich vor den Augen des Turnlehrers eine Fraktur zugezogen hat. Auch dort schreiben wir Zeugnisse. Die Diskussion mit den Patienten, ob sie jetzt arbeiten dürfen beziehungsweise müssen belastet zusehends das Arzt-Patienten-Verhältnis. Weil ich mich nicht unbegrenzt dafür einspannen lassen will, hoffe ich auf eine Lösung wie in den Niederlanden, wo der Hausarzt maximal zwei Wochen lang Arbeitsunfähigkeit attestieren darf. Dann geht der Fall zum Versicherungsarzt. Doch in den nächsten Tagen ist mein eigenes Absencen-Management prioritär: Fahre ich nach Mallorca oder auf die Malediven in die Ferien? Vertritt mich Kollege Ahrends oder Kollege Behrends?

Absencen-Management

478 ARS MEDICI 12 ■ 2009