Transkript
Editorial
Stellen Sie sich vor, Sie könnten mithilfe eines Labortests die Antibiotikaverordnung bei drei von vier Ihrer Patientinnen und Patienten mit unklaren Atemwegserkrankungen guten Gewissens unterlassen. Das ist in der Tat machbar – nur wird in der Praxis wahrscheinlich erst einmal nichts daraus. Es gibt zwar einen solchen Test, aber er kostet deutlich mehr als die übliche Antibiotikabehandlung, und Sie dürfen ihn überdies nur veranlassen, nicht aber selbst durchführen. Doch der Reihe nach: Seit etwa 20 Jahren weiss man, dass Procalcitonin ein guter Entzündungsmarker für bakterielle Infektionen ist. Bereits 1996, an einer internationalen Infektiologentagung in Florenz, sprach man davon, dass man mit diesem Marker die überbordende Verordnung von Antibiotika bei Atemwegserkrankungen – eine der wichtigsten Ursachen für die Entwicklung resistenter Keime – in den Griff bekommen könnte. Studien ergaben, dass mithilfe des Tests der Antibiotikaverbrauch ohne Risiko für die Patienten auf Intensivstationen gesenkt werden konnte. Forscher
Da sind zum einen der zu hohe Tarif und die fehlende Zulassung für das Praxislabor. Schon vor drei Jahren hatten Schweizer Infektiologen und Internisten dem BAG empfohlen, den Tarif für den Procalcitonintest zu halbieren und ihn für die Diagnose unklarer Atemwegsinfekte im Praxislabor zuzulassen. Warum man dieser Empfehlung nur teilweise folgte, ist unklar. Zwar ist der Test gemäss neuer Analysenliste ab 1. Juli nun auch ausserhalb von Intensivstationen erlaubt, der
Man könnte tonnenweise Antibiotika sparen, aber ...
wurden dafür an wissenschaftlichen Tagungen mit Preisen ausgezeichnet. Der Test wurde schliesslich für Intensivstationen zugelassen. Das war zwar ein gewisser Erfolg, aber noch kein wesentlicher Fortschritt im Kampf gegen die Antibiotikaresistenzentwicklung. Das Resistenzproblem wird nicht durch die Gabe von Antibiotika an die relativ wenigen Patienten auf den Intensivstationen verschärft, sondern durch die massenhafte Verordnung in der Hausarztpraxis. Vor Kurzem bewies eine Studie in Hausarztpraxen der Nordwestschweiz, dass der Test die Antibiotikagabe auch hier eindrucksvoll begrenzen kann, obwohl die Schweizer Hausärzte im internationalen Vergleich bereits vorbildlich handeln. Sie verordnen generell sowieso viel weniger Antibiotika als in anderen europäischen Länder üblich ist. Trotzdem sind selbst hierzulande rund drei Viertel aller gegen Atemwegsinfekte verordnete Antibiotika überflüssig und nutzlos. Es scheint, als sei es ohne Labortest nicht möglich, eine bakterielle von einer viralen Atemwegsinfektion mit ausreichender Sicherheit zu unterscheiden. Was also verzögert noch die breite Einführung des Procalcitonintests in der Praxis?
Preis wurde aber nicht gesenkt, sondern im Gegenteil sogar noch etwas erhöht und die Zulassung für das Praxislabor nicht erteilt. Wir haben beim BAG nach den Gründen für diesen Entscheid gefragt, aber bis zur Drucklegung dieser Ausgabe noch keine Antwort erhalten. Obwohl der Test an sich nur 20 Minuten dauert, vergehen somit Stunden oder gar ein ganzer Tag, bis das Ergebnis eines externen Labors vorliegt. Doch ein Patient mit Husten, Fieber und Auswurf fordert zu Recht einen raschen Entscheid. Man wird ihn kaum guten Gewissens auf den nächsten Tag vertrösten können. Zum anderen gibt es auch noch keine praxistauglichen Geräte für den Procalcitonintest, denn solange Hausärzte den Test nicht selbst durchführen dürfen, scheint die Industrie wenig geneigt, diese zu entwickeln. Wenn sich also nichts ändert, werden überflüssige «Sicherheits»-Antibiotika-Verordnungen die Regel bleiben und auch weiterhin einen bedeutenden Teil zur Entwicklung von Antibiotikaresistenzen beitragen. Obwohl man etwas dagegen tun könnte. Eigentlich unglaublich.
Renate Bonifer
ARS MEDICI 12 ■ 2009 473