Transkript
Schwerpunkt
«ADHS ist keine Krankheit!»
Erfahrung gemeinsamen Erlebens entscheidend
ADHS ist keine Krankheitsentität, sondern nur die Bezeichnung für eine Sammlung von Symptomen, die man bei Kindern beobachten kann. Die Betroffenen leiden nicht an einer Aufmerksamkeitsstörung und haben auch keinen gestörten Hirnstoffwechsel, sondern eine mangelnde Sozialisationserfahrung. Diese Auffassung vertritt Professor Gerald Hüther und stellt sich damit quer zur derzeitig vorherrschenden Lehrmeinung. In einem Gespräch erläutert der Göttinger Neurobiologe seine Auffassungen.
P ädiatrie: Herr Professor Hüther, Sie bestreiten einige etablierte Grundannahmen zu ADHS. Zu ihnen gehört, dass die Störung auf dem Boden einer genetischen Disposition entsteht, wofür zahlreiche Studien sprechen. Professor Gerald Hüther: Ich kann überhaupt nicht erkennen, dass dafür hinreichende Beweise erbracht wurden. Der Versuch, die Ursachen von psychischen Krankheiten genetisch zu begründen, folgt doch einem Weltbild des vergangenen Jahrhunderts. Viele Forscher sind aufgebrochen, um etwa für Schizophrenie, Depression oder auch ADHS nach entsprechenden Erbanlagen zu suchen. Doch was sie bisher zutage gefördert haben, ist nicht sehr überzeugend. Das Muster wiederholt sich immer wieder: Zunächst glaubt man, entsprechend veränderte Gene gefunden zu haben, einige Zeit später erweist sich dann, dass es diese auch bei Gesunden gibt. Inzwischen ist die Hirnforschung natürlich deutlich weiter, und auch die Genetik und die Molekularbiolgie haben sich weiterentwickelt. Heute ist unbestritten, dass eine Kombination von sehr vielen Genen benötigt wird, um eine hohe Prädisposition dafür zu erhalten, dass sich
die Krankheit tatsächlich entwickelt. Und für eine individuelle Aussage reicht das auch nicht, es gibt ja schliesslich Faktoren, die verhindern können, dass trotz einer solchen Veranlagung die Störung wirklich auftritt. Ich frage also: Was wollen wir mit einem solchen Ansatz überhaupt anfangen?
Disposition meint ja nichts anderes als eine Risikoerhöhung, niemand behauptet, dass ADHS allein genetische Ursachen hat. Hüther: Ja, aber dann muss man sich eben auch die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse der Neurobiologie über neuronale Verschaltungsmuster und die Strukturierung des kindlichen Gehirns
“ Ständig wird die alte
Behauptung wiedergekäut, im Gehirn von ADHS-Patienten gäbe es zu wenig Dopamin. Bisher hat ja noch niemand wirklich gemessen, dass in deren Gehirn zu wenig Dopamin freigesetzt
”wird.
genauer anschauen. Das kindliche Gehirn ist weitaus plastischer, als das noch
Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther ist Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg. Er ist ausserdem wissenschaftlicher Leiter und Vorsitzender des Stiftungsrates der Sinn-Stiftung (www.gerald-huether.de).
vor zwei Jahrzehnten für möglich gehalten wurde. Die genetischen Programme sorgen dafür, dass zunächst weitaus mehr Vernetzungsoptionen zwischen den Nervenzellen aufgebaut werden, als später wirklich gebraucht und stabilisiert werden. Es gibt also anfangs viel zu viele Vernetzungen, und davon werden nur diejenigen stabilisiert, die ein Kind in seinem Lebensraum aus seiner subjektiven Bewertung heraus intensiv benutzt. Gene können keine Beziehungen zwischen Nervenzellen regulieren, Gene können nur einzelne Nervenzellen dazu bringen, dass sie auf einen bestimmten Impuls mit einer bestimmten Antwort reagieren. Das ist ja auch die erschütternde Erkenntnis des Human-Genom-Projekts: Nicht das Genom ist entscheidend, viel spannender sind die Signale, die die Gene regulieren.
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Mit der epigenetischen Sicht hat die alte Genetik inzwischen ja längst ihre ursprüngliche Sichtweise infrage gestellt. Genetisch bedingt und angeboren ist, dass etwa ein Drittel mehr Vernetzung im Kortex bereitgestellt als später auch benutzt und stabilisiert wird. Es handelt sich also um ein genetisch bereitgestelltes Potenzial. Bildlich gesprochen: Es wird ein Orchester zusammengestellt, das alles Mögliche spielen konnte. Aber was für Stücke es tatsächlich aufführt, wer zuhört und für wen und unter wessen Leitung gespielt wird, muss sich jeweils erst entscheiden.
Und was bedeutet das für die Entstehung von ADHS? Hüther: Wenn wir uns vom mechanistischen Bild des Gehirns als einer Maschine verabschieden, öffnet sich der Blick dafür, dass das menschliche Gehirn als ein sich selbst organisierendes System zu verstehen ist, das sich in hohem Masse durch Erfahrungen in Interaktionen strukturiert. Einfach ausgedrückt: Beziehungserfahrungen werden in neuronale Beziehungsmuster transformiert. Ich kann nun nichts dafür, dass dieses neue Denken in den, nennen wir es mal «orthodoxen Kreisen» der Kinder- und Jugendpsychiatrie, noch nicht angekommen ist, und man dort ständig die alte Behauptung wiederkäut, im Gehirn von ADHS-Patienten gäbe es zu wenig Dopamin. Bisher hat ja noch niemand wirklich gemessen, dass in deren Gehirn zu wenig Dopamin freigesetzt wird. Das geht auch gar nicht, denn dazu müsste man Verfahren wie die Mikrodialyse einsetzen, bei denen wie bei Versuchstieren, ein semipermeabler Schlauch in das Gehirn eingeführt wird.
Was ist dann ihrer Meinung nach Ursache der ADHS? Hüther: Die kortikalen Stukturierungsprozesse erfolgen beim Kind nicht durch das, was wir früher Umwelt genannt haben. Sie erfolgen aufgrund seiner subjektiven Bewertungen und die damit einhergehenden subjektiven Erfahrungen, die jedes Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt macht. Die sind auch schon vorgeburtlich nicht identisch. Es gibt eben auch schon vorgeburtliche Strukturie-
rungsprozesse, die jedes Kind in der Schwangerschaft durchläuft. Das heisst, jedes Kind bringt eine Prädisposition mit, was es besonders braucht, worauf es besonders achtet, was ihm besonders bedeutsam sein wird. Darüber kann niemand bestimmen, weder vorgeburtlich noch dann, wenn das Kind auf der Welt ist und sich dort zurechtzufinden versucht.
Wie findet man aufgrund von diesen Einsichten eine Erklärung für die Probleme oder Symptome, die ein Kind mit ADHS entwickelt? Hüther: Ein Faktor, der meiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung für diese Kinder ist, ist die Erfahrung der «Shared Attention». Diese Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit entsteht nicht von allein. Dazu muss ein Kind die Erfahrung machen, dass es wunderschön ist, sich mit jemand anderem auf etwas zu freuen, etwas gemeinsam zu gestalten. Das geschieht beim gemeinsamen Anschauen eines Kinderbuchs etwa,
“ Viele Eltern haben Angst vor
dem Vorwurf, dass ihre Erziehung für diese Kinder vielleicht nicht optimal war. Deshalb empfinden sie die Vorstellung entlastend, dass das Hirn ihres Kindes irgendwie kaputt sei oder ein
”genetischer Defekt vorliege.
oder wenn die Mama das Kind auf dem Arm hält und beide beobachten, wie die Katze im Hof spielt. Das ist etwas anderes, als wenn die Mutter das Kind auf den Arm nimmt und küsst. Shared Attention heisst, sich gemeinsam in etwas Drittem zu finden, dort gleichzeitig frei und verbunden zu sein.
Und was erklärt das? Hüther: Die Erfahrung dieser Shared Attention bildet die Voraussetzung dafür, dass wir individualisierte Gemeinschaften ausbilden können. Durch Shared Attention lernen wir, unsere eigenen Impulse zu kontrollieren, uns auf etwas Gemeinsames einzulassen. Diese Erfahrung wird dann im Frontalhirn verankert. Machen Kinder diese Erfahrung nicht, bleiben sie in der personalen Beziehung hängen. Dann entstehen Situationen, wie
sie etwa ein Junge, nennen wir ihn Fritzchen, im Kindergarten erlebt: Alle Kinder kommen zusammen, um gemeinsam einen Turm zu bauen. Fritzchen will auch dazu gehören, er kann es aber nur, indem er eine personale Beziehung herstellt, was dann dazu führt, dass er an den anderen herummacht und sie stört. So geht er den anderen auf die Nerven und wird aus der Gruppe ausgeschlossen. Für so eine schmerzvolle Erfahrung gibt es nur zwei Bewältigungsstrategien. Und die werden dann im Gehirn des betroffenen Kindes gebahnt, je häufiger es «erfolgreich» eingesetzt wird: aktiv kaputtmachen, womit sich die anderen gemeinsam beschäftigen, ADHS, oder passiver Rückzug in eigene Denkmuster, ADS.
Nehmen wir eine Familie mit drei Kindern. Warum sollte das, was Sie Shared Attention nennen, mit zwei Geschwistern eingeübt worden sein, mit dem dritten, das an ADHS leidet, jedoch nicht. Das erscheint doch wenig wahrscheinlich. Hüther: Das wäre erst noch genauer zu untersuchen. Beispielsweise ist es ja möglich, dass in einer wichtigen Entwicklungsphase des betreffenden Kindes ein einschneidendes Ereignis die Eltern sehr in Beschlag genommen hat. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass jedes Kind eine einzigartige vorgeburtliche Entwicklung durchgemacht hat, die sozusagen eine besondere Körperlichkeit erzeugt hat, nennen wir es ein eigenes Temperament. Das kann sich dann so äussern, dass ein Kind ständig vom Schoss der Mutter will, wenn die gerade dabei ist, gemeinsam mit dem Kleinen ein Buch anzuschauen. Wenn die Mutter dann nicht die Stärke und die Ruhe hat, das Kind immer wieder in diese gemeinsame Betrachtung einzuladen, dann erlebt das Kind das nicht. Das Ganze ist eigentlich relativ einfach. Die Eltern haben versucht, allen Kindern gleiche Bedingungen zu bieten, aber für dieses eine Kind war es doch ganz anders. Es hat sich in dieser Familie anders erlebt, hat andere Erfahrungen gemacht als die anderen.
Ihre Theorien mögen plausibel klingen, aber sind sie auch empirisch belegbar? Wie kann man unter Beweis stellen, dass
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es die fehlende Shared-Attention-Erfahrung ist, die eine unzureichende Entwicklung exekutiver Frontalhirnfunktionen nach sich zieht? Hüther: Dieses Konzept hat ja bisher in der ADHS-Forschung keine Beachtung gefunden. Deshalb fehlen uns hier auch gezielte Untersuchungen. Aber das Konzept ermöglicht Vorhersagen über günstige, protektive Konstellationen, die mit empirischen Befunden übereinstimmen: Weniger häufig findet man ADHSSymptomatiken bei Kindern, die in Familien aufwachsen, in denen ein Vater als «Dritter» vorhanden ist, wo sich die ganze Familie um jemanden – den Familienhund, die kranke Grossmutter – oder etwas – ein Familienprojekt – kümmert, die in eine Gemeinschaft, beispielsweise ein Dorf oder einen Verein eingebunden sind, die Schulen besuchen, in denen stärker auf Kooperation und gemeinsame Ziele als auf Wettbewerb um die besten Zensuren gesetzt wird.
In einem Pilotprojekt hat Ihre SinnStiftung* zwölf ADHS-Kinder und ihre Familien auf die Almhütte eingeladen. Dort sollten sie die Möglichkeit erhalten, in einer natürlichen Umgebung neue Verhaltensmöglichkeiten zu erproben, die das Selbstmanagement stärken und Reorganisationsprozesse im Gehirn ermöglichen – ganz ohne Medikamente. Sie nennen das systemische Impulstherapie. Kritiker halten Ihnen vor, dass man aus einem solchen Projekt keine richtungsweisenden Schlüsse ziehen kann. In geschützten Räumen zu leben sei schliesslich etwas völlig anderes, als im Alltag mit all seinen Widrigkeiten zurechtzukommen. Hüther: Die Idee ist folgende: Wenn es einem Kind gelungen ist, durch neue Erfahrungen Fähigkeiten zu entwickeln, die es vorher nicht hatte, dann werden diese neuen Erfahrungen im Gehirn verankert. Damit ist eine entscheidende Voraussetzung dafür geschaffen, dass es auch in seiner alten Lebenswelt nun besser zurechtkommt. Wäre eine solche Annahme grundlegend falsch, könnten wir sofort
*Näheres zur Sinn-Stiftung und dem Alm-Projekt unter www.sinn-stiftung.eu
alle psychotherapeutischen Massnahmen einstellen. Es geht nicht darum, dass wir den Lebensraum ständig aufrechterhalten, sondern dass wir den kleinen Patienten in einem solchen Setting eine neue Erfahrung ermöglichen – eine, die dann Spuren in Form von neuronalen Beziehungsmustern, von gefestigten exekutiven Frontalhirnfunktionen hinterlässt, und die nimmt das Kind ja von der Alm mit.
Wie geht es denn den Kindern, nachdem sie von der Almhütte zurück im häuslichen und schulischen Alltag angekommen sind? Hüther: Wir sehen, dass die Kinder gestärkt zurückkommen, dass sie aber zunächst Schwierigkeiten mit dem Herkunftssystem haben, und das ist ja auch nicht verwunderlich. Wenn jemand, der sich bisher mit seiner Schwäche einigermassen im System bewegen konnte und an den sich jeder gewöhnt hat, nun plötzlich anders ist, dann reagiert das System.
“ Wenn es einem Kind gelungen
ist, durch neue Erfahrungen Fähigkeiten zu entwickeln, die es vorher nicht hatte, dann werden diese neuen Erfahrungen im Gehirn verankert. Wäre eine solche Annahme grundlegend falsch, könnten wir sofort alle psychotherapeutischen Massnahmen
”einstellen.
Deshalb gehen die Kinder durch eine Turbulenzphase, in der es zunächst so aussieht, als ob jetzt erst recht alles aufgemischt würde. Man muss aber Geduld haben. Wenn das Kind stabile neue Vernetzungen und Verhaltensweisen entwickelt hat, dann erkennen das irgendwann auch die Lehrer und Erzieher, und dann verschiebt sich das ganze System. Gewiss mag es zunächst so aussehen, als wäre das Kind ohne Medikamente widerspenstiger. Das ist unangenehm für alle, die so weitermachen wollen wie bis anhin. Es geht also darum, dass die Bezugspersonen den Weg mitgehen und den betreffenden Kindern auch in diesem Lebensbereich neue Erfahrungen ermöglichen. Sonst wird es schwierig, die Verhaltensänderungen dauerhaft zu stabilisieren.
Deshalb sehen wir unter günstigen Bedingungen, wo sich die Eltern und Lehrer noch einmal neu auf diese Kinder einlassen, die deutlichsten Verbesserungen.
Eltern von ADHS-Kindern scheinen von Ihren Ideen mehrheitlich noch nicht sonderlich angezogen zu sein. Womit erklären Sie sich das? Hüther: Es gibt natürlich die einflussreichen Verbände und AD(H)S-Selbsthilfegruppen, die noch sehr konventionell denken. Viele Eltern fühlen sich von deren Argumentation angezogen. Das kann man auch verstehen. Viele dieser Eltern haben Angst vor dem Vorwurf, dass ihre Erziehung für diese Kinder vielleicht nicht optimal war. Deshalb empfinden sie die Vorstellung entlastend, dass das Hirn ihres Kindes irgendwie «kaputt» sei oder ein genetischer Defekt vorliege, und dass das mit Ritalin beziehungsweise Psychostimulanzien zu beheben sei. Die Elternverbände greifen dieses Bedürfnis auf und kämpfen mit unglaublicher Macht darum, dass das derzeitige Konzept bestehen bleibt. Und stellen wir uns auch einmal vor: Wenn das, was bisher als genetischer Defekt betrachtet wurde, auf der Alm in zwei Monaten geheilt werden kann, würde das ganze Konstrukt in sich zusammenfallen. Aber so niederschmetternd positiv sind die Affekte zum Glück für die Verfechter der genetischen Determiniertheit dieses Störungsbilds ja bisher auch noch nicht.
Auch die Kinder- und Jugendpsychiater lehnen Ihre Vorstellungen mehrheitlich ab. Hüther: Ich denke, viele von ihnen haben Probleme damit, dass ausgerechnet ein Hirnforscher kommt und ihnen vorhält, dass es vielleicht nicht so gut ist, wenn man ein sich entwickelndes Gehirn in seiner Funktionsweise mithilfe von Medikamenten verstellt und das Kind dadurch kaum eine Chance auf Selbstorganisationsprozesse hat. Denn all das, was das Medikament mit seinem Gehirn macht, kann es ja dann selbst nicht durch eine eigene Anstrengung erlernen. Vor allem Kinder- und Jugendpsychiater, die bisher gern Medikamente eingesetzt haben, müssten dann ihr Selbstverständnis infrage stellen.
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Die Kinderärzte, die ja mehrheitlich Kinder mit ADHS behandeln, zählen auch nicht gerade zu Ihren Anhängern? Hüther: Nun, es ist nicht alles schwarz oder weiss, es gibt durchaus genügend nachdenkliche Kinderärzte, die mit der gegenwärtigen Situation sehr unglücklich sind. Es ist aber leider so, dass viele Kinderärzte von den modernen neurobiologisch begründeten Konzepten recht wenig wissen und vieles unreflektiert übernehmen, was ihnen in Werbeprospekten und auch auf den von Pharmafirmen angebotenen Fortbildungen als Wahrheit verkauft wird. Nicht zuletzt sind viele auch einfach froh, wenn die Eltern sich bei ihnen bedanken, dass es unter Psychostimulanzien doch so gut geworden sei.
Könnte es nicht sein, dass Sie Methylphenidat etwas zu kritisch beurteilen? Sie haben vor einigen Jahren die Befürchtung geäussert, die Therapie könne als Spätfolge zu einer Art ParkinsonSyndrom führen. Tatsächlich gibt es aber keine klinischen Befunde, die das stützen. Müssen Sie Ihre frühere Annahme revidieren? Hüther: In Tierversuchen hatte ich schon vor über zehn Jahren zusammen mit anderen herausgefunden, dass die dauerhafte Verabreichung von Methylphenidat die Ausreifung dopaminerger Projektionen hemmt. Die Tiere erhalten dadurch ein schwächer ausgebildetes dopaminerges System. Welche Spätfolgen das hat und ob das auch bei Kindern, die mit Ritalin behandelt wurden, so ist, weiss ich nicht. Da das Parkinson-Syndrom durch Degeneration dopaminerger Neuronen entsteht, könnten Personen, die sehr früh und über einen langen Zeitraum mit Methylphenidat behandelt worden sind und im Alter Parkinson bekommen, diese Störungen ein paar Jahre früher entwickeln. Ob das so ist, werden wir aber erst dann abschätzen können, wenn die Masse der seit den Neunzigerjahren behandelten Kinder so alt geworden ist. Das wäre dann allerdings ein schrecklich spätes Erwachen. Deshalb hielt ich es damals für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, auch wenn das vielen nicht gefallen hat.
Können Sie uns kurz erklären, wie Psychostimulanzien wie Ritalin wirken? Hüther: In hohen Konzentrationen, rasch ins Hirn geflutet, bewirken sie eine massive Dopaminfreisetzung. Es gibt Berichte, dass das auch mit Ritalin funktioniert. Dazu werden die Pillen zerrieben und geschnupft. Es entsteht dann ein kokainartiger Rausch. Wenn auf diese Weise, also geschnupft oder gespritzt, die Dopaminfreisetzung im Gehirn stimuliert wird, kommt es zu einer massiven Verstärkung innerer Impulse, die in Handlungen umgewandelt werden können. In der Drogenszene werden diese Substanzen deshalb in dieser Weise benutzt, etwa um Sex zu verbessern oder rauschartige Zustände zu erreichen.
“ Die betreffenden Kinder und
Jugendlichen sollten die Erfahrung machen und in ihrem Gehirn verankern können, dass sie in der Lage sind, ihre Impulse selbst zu steuern. Genau das müsste das Ziel unserer Bemühungen um diese besonderen Kinder
”sein.
In niedriger Dosierung und bei oraler Einnahme erfolgt keine Dopaminfreisetzung, sondern nur eine Hemmung der Dopaminwiederaufnahme. Extrazelluläres Dopamin aktiviert dann die Autorezeptoren an den dopaminergen Präsynapsen, und daraufhin kommt es zu keiner weiteren Dopaminausschüttung. Man nennt das Hemmung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung. Die Folge ist, dass innere Impulse nicht mehr durch Dopamin verstärkt und so in Handlungen umgesetzt werden. Deshalb «funktionieren» die Kinder dann besser. Gesunde nehmen Psychostimulanzien als «cognitive enhancer», sogenanntes Hirndoping, ein, und nutzen damit die Unterdrückung innerer Impulse zur Steigerung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit. Obwohl sie Hunger haben, müde sind, sich bewegen oder ein anderes Bedürfnis stillen wollen, können sie einfach weiterarbeiten.
Treten die Effekte bei Kindern mit ADHS genauso auf? Und wie lässt sich
erklären, dass die Suchtgefahr durch Ritalin angeblich sogar gesenkt werden kann? Hüther: Bei diesen Kindern wird durch die Hemmung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung dann eben all das abgestellt, was sie als besonders dringende innere Impulse bis dahin immer in entsprechende Handlungen umgesetzt haben: bei Jungs häufiger Bewegungsimpulse wie beim «Zappelphilipp», bei Mädchen häufiger Rückzugsimpulse als «Traumsusen». Wenn man diesen Kindern gar nicht dabei hilft, wie sie ihre Impulse selbst steuern können, werden sie sich nur schwer im Leben zurechtfinden. Sie werden Schulversager, bekommen keine Ordnung in ihr Leben, lassen sich auf alle möglichen Extremerfahrungen, auch auf Drogenkonsum ein. Manche landen so sogar in einer Drogenkarriere. Wenn man diese Gruppe dann später mit solchen Personen vergleicht, die medikamentös behandelt worden sind und meist ja auch noch als Erwachsene diese Pillen einnehmen, kann ausser ein positives Ergebnis nichts anderes dabei herauskommen: bessere Schulleistungen, weniger Junkies. Aber das ist eigentlich Augenwischerei, denn die Effekte der medikamentösen Behandlung müssten mit den Effekten einer erfolgreich verlaufenen therapeutischen oder pädagogischen Intervention verglichen werden. Und zwar einer, die wirklich dazu geführt hat, dass die betreffenden Kinder und Jugendlichen die Erfahrung machen und in ihrem Gehirn verankern konnten, dass sie in der Lage sind, ihre Impulse selbst zu steuern. Genau das müsste das Ziel unserer Bemühungen um diese besonderen Kinder sein. Aber statt gezielt nach neuen und in dieser Weise wirksamen Behandlungsstrategien zu suchen, verlaufen wir uns in kontroversen Diskussionen. Ich weiss nicht, wem damit geholfen ist, den Kindern jedenfalls nicht.
Professor Hüther, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Uwe Beise.
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