Transkript
BERICHT
Neue Ära in der Thromboseprophylaxe
Bericht von der 53. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) 2009 in Wien
Die Vorstellung der neuen Antikoagulanzien war eines der Highlights am diesjährigen GTH-Kongress in der Wiener Hofburg. Das erste in der Schweiz zugelassene direkte Antikoagulans mit dem Namen Rivaroxaban, welches in fixer Dosierung und ohne Monitoring oral eingenommen werden kann, hat sich im Vergleich zum Goldstandard Enoxaparin bei Patienten nach Einsatz von Knie- und Hüftprothesen als äusserst effektiv und einfach in der Handhabung erwiesen.
DANIEL DESALMAND
Im Jahr 2004 verstarben in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und Grossbritannien zusammen 370 000 Personen an den Folgen von Thromboembolien (1). Die Mehrheit der Thrombosen tritt bei älteren Personen auf und ist mit transienten Risikofaktoren assoziiert. Die häufigsten sind Operation oder Trauma, medizinische Krankheit (Krebs, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz usw.), Bettlägerigkeit, Schwangerschaft und die Einnahme von oralen Kontrazeptiva oder anderen thrombosebegünstigenden Medikamenten. Bei einmal durchgemachter Thrombose besteht ein Trend zum Rezidiv.
Bei der Thromboseprophylaxe besteht Handlungsbedarf Insbesondere bei chirurgischen Patienten nach grösseren orthopädischen Eingriffen, aber auch bei medizinischen, kranken Patienten mit Bettruhe wird zur Senkung des Thromboembolierisikos eine Prophylaxe empfohlen. Die Richtlinien werden aber nur ungenügend umgesetzt. Die 2008 publizierte Aus-
wertung des Swiss Venous Thromboembolism Registry zeigte, dass in der Schweiz bei den medizinischen Patienten lediglich 48 Prozent und bei den chirurgischen nur 70 Prozent eine Prophylaxe erhielten (2). Wurden einzig Patienten mit einer Indikation für eine Prophylaxe berücksichtigt, so betrugen die Raten 52 Prozent für medizinische und 76 Prozent für chirurgische Patienten.
Klassische Antikoagulanzien haben gewichtige Nachteile Heparine und Vitamin-K-Antagonisten haben sich als effektive Medikamente zur Verhinderung von arteriellen und venösen Thrombosen etabliert. Sie haben aber eine Reihe von Nachteilen; so können unfraktioniertes Heparin und niedermolekulares Heparin (NMH) nur parenteral verabreicht werden, und die heparininduzierte Thrombozytopenie ist eine zwar seltene, aber lebensbedrohliche Komplikation. Die Vitamin-K-Antagonisten ihrerseits haben einen verzögerten Wirkungseintritt, eine enge therapeutische Breite, machen ein Labormonitoring unumgänglich und interagieren mit der Nahrung und anderen Medikamenten (3).
Rivaroxaban läutet die Ära der neuen Antikoagulanzien ein Rivaroxaban (Xarelto®) ist in der Schweiz seit Anfang 2009 zur Thromboseprophylaxe nach grösseren orthopädischen Eingriffen an den unteren Extremitäten zugelassen. Es ist zurzeit das einzige in der Schweiz zugelassene direkt wirkende Antikoagulans, das oral eingenommen werden kann. Es kann von allen über 18-jährigen Patienten, unabhängig vom Körpergewicht, in einer fixen Dosierung von 10 mg pro Tag eingenommen werden und braucht kein Monitoring. Weitere Vorteile sind eine Bioverfügbarkeit von zirka 90 Prozent und eine grosse therapeutische Breite. Weil nur ein Drittel der Substanz unverändert durch die Nieren ausgeschieden wird, kann es auch bei eingeschränkter Nierenfunktion bis zu einer Kreatininclearance von 15 ml/min verabreicht werden. Bei einer Clearance zwischen 15 und 30 ml/min ist allerdings Vorsicht geboten (4).
Ausgezeichnete Wirksamkeit ohne Erhöhung des Blutungsrisikos Die europäischen RECORD-Studien 1 bis 3 haben die antithrombotische Wirkung und Sicherheit von Rivaroxaban an Tausenden von Patienten mit Hüft- und Knie-Totalprothesen-Implantation untersucht, und zwar im Vergleich zum Goldstandard Enoxaparin (Clexane®) (5–7). Alle drei europäischen Studien sowie die amerikanische RECORD-4-Studie, in der 10 mg Rivaroxaban gegen zweimal täglich 30 mg Enoxaparin verglichen wurde, haben bei vergleichbarer Blutungsrate eine signifikante Reduktion thromboembolischer Ereignisse durch
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BERICHT
INTERVIEW
mit Prof. Dr. Dr. med. W.A. Wuillemin, Luzern
Prof. Wuillemin, was sind für Sie die wichtigsten neuen Erkenntnisse im Bereich Thromboseprophylaxe? Für mich ist die Erkenntnis am wichtigsten, dass die venöse Thromboembolieprophylaxe nur so gut ist wie ihre konkrete Anwendung: Diejenigen Patienten, die sie brauchen, müssen sie erhalten, und wer keine Prophylaxe braucht, soll «verschont» bleiben. Eine zweite wichtige Erkenntnis: Die Hoffnung, dass die neuen Antikoagulanzien bei der Thromboembolieprophylaxe für den Patienten sowohl medizinische wie auch praktische Vorteile haben werden, war noch nie so gross.
Eine labormässige Thrombophilie scheint auf die klinische Entscheidungsfindung nicht den Einfluss zu haben wie früher angenommen.
Bei welchen Patienten empfehlen Sie denn heute noch eine Thrombophilieabklärung? Ich empfehle heute eine Thrombophilieabklärung bei Personen, die vor dem 45. bis 50. Altersjahr eine venöse Thromboembolie durchgemacht haben, sowie bei älteren Patienten, bei denen eine venöse Thromboembolie an einer speziellen Lokalisation aufgetreten ist — etwa eine Bauchvenenthrombose mit konsekutiver Suche nach einem myeloproliferativen Syndrom —, und zum Beispiel bei asymptomatischen Individuen aus Familien, die einen Defekt mit hohem Thromboembolierisiko (z.B. Antithrombinmangel) aufweisen.
Wie beurteilen Sie die klinische Bedeutung der vorgestellten Studienresultate zu Rivaroxaban für die Praxis? Die vorgestellten Studienresultate zu Rivaroxaban bei Hüft- oder Kniegelenkersatz sind erfreulich. Ohne dass es zu einer signifikanten Zunahme von klinisch relevanten Blutungen kam, fand sich bei den Patienten, die Rivaroxaban als venöse Thromboembolieprophylaxe erhielten,
eine geringere Rate venöser Thromboembolien als unter Enoxaparin. Zusammen mit dem Vorteil der peroralen Einnahme und dem Umstand, dass kein Monitoring — auch keine Thrombozytenbestimmung — notwendig ist, ist die klinische Bedeutung sehr gross.
Werden die oralen, direkt wirkenden Anti-
koagulanzien die etablierten Vitamin-K-
Antagonisten und die NMH in der Thrombose-
prophylaxe und eventuell später auch
-therapie in naher Zukunft verdrängen? Wie
ist Ihre Einschätzung?
Sofern sich die positiven Resultate bestätigen
und auch in den laufenden Studien keine ande-
ren Resultate gefunden werden, ist damit zu
rechnen, dass die oralen, direkt wirkenden Anti-
koagulanzien in vielen Indikationen und vielen
Situationen die etablierten Antikoagulanzien
wie Vitamin-K-Antagonisten und niedermoleku-
lare Heparine ersetzen werden.
■
Hinweis: Auf www.tellmed.ch finden Sie unter Fortbildung ein von der SGIM akkreditiertes E-Learning-Modul zum Thema Prophylaxe und Therapie der tiefen Venenthrombose.
Inzidenz (%) Inzidenz (%)
2,5 RECORD 1—3 gepoolt (n = 9581)
2,0
56% Reduktion 1,5 p < 0,005
1,0 0,8%
0,5
0,4%
0
Enoxaparin
Rivaroxaban
40 mg
10 mg
Abbildung 1: Symptomatische Thromboembolien und Gesamtmortalität nach 2 Wochen (8)
2,5 RECORD 1—3 gepoolt (n = 9581)
2,0
1,5
1,0 p = 0,662
0,5 0,2%
0 Enoxaparin 40 mg
Abbildung 2: Schwere Blutungen nach 2 Wochen (8)
0,2%
Rivaroxaban 10 mg
Rivaroxaban gezeigt. Die beste klinische Beurteilung lässt die vordefinierte Analyse der drei europäischen Studien zu, in welche die Daten von 9581 Patienten einflossen. Diese erhielten nach einem Hüftgelenkersatz während 2 bis 5 Wochen respektive nach einem Kniegelenk-
ersatz während zwei Wochen entweder täglich 10 mg Rivaroxaban oral oder 40 mg Enoxaparin s.c. Symptomatische Thromboembolien und Gesamtmortalität als primärer Endpunkt wurden unter Rivaroxaban, im Vergleich zu Enoxaparin, nach zwei Wochen halbiert (Abbildung 1).
Schwere Blutungen – der primäre Sicherheitsendpunkt – traten in beiden Gruppen gleich viele auf (Abbildung 2). Abgesehen von den Blutungen war die Einnahme von Rivaroxaban nicht mit mehr Nebenwirkungen assoziiert als die Verabreichung von Enoxaparin. Insbesondere
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kardiovaskuläre Ereignisse und Leberenzymerhöhungen waren in beiden Gruppen gleich häufig. Die Resultate von RECORD-2 geben einen Hinweis darauf, dass eine fünfwöchige Thromboseprophylaxe mehr Thromboembolien verhindert als eine zweiwöchige (6). Die Patienten, welche während fünf Wochen Rivaroxaban einnahmen, hatten gegenüber solchen, die zwei Wochen Enoxaparin und danach Plazebo verabreicht erhielten, ein um fast 80 Prozent reduziertes Risiko für eine Thromboembolie (9,3 vs. 2,0%, p<0,0001). In der Schweiz wird nach grösseren ortho-
pädischen Eingriffen eine Prophylaxe-
mindestdauer von vier bis sechs Wo-
chen empfohlen (9).
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Dr. med. Daniel Desalmand Mediscope Knowledge Center, Zürich
Interessenlage: Der Bericht entstand mit Unterstützung der Firma Bayer (Schweiz) AG.
Referenzen: 1. Cohen AT et al. Venous thromboembolism (VTE) in Europe.
The number of VTE events and associated morbidity and mortality. Thromb Haemost 2007; 98: 756—764. 2. Kucher N et al. Clinical predictors of prophylaxis use prior to the onset of acute venous thromboembolism in hospitalized patients SWIss Venous ThromboEmbolism Registry (SWIVTER). J Thromb Haemost 2008; 6: 2082—2087.
3. Weitz JI et al. New antithrombotic drugs: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines (8th Edition). Chest 2008; 133 (6 Suppl): 234S—256S.
4. Arzneimittel-Kompendium der Schweiz.
5. Eriksson BI et al. Rivaroxaban versus enoxaparin for thromboprophylaxis after hip arthroplasty. N Engl J Med 2008; 358: 2765—2775.
6. Kakkar AK et al. Extended duration rivaroxaban versus shortterm enoxaparin for the prevention of venous thromboembolism after total hip arthroplasty: a double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2008; 372: 31—39.
7. Lassen MR et al. Rivaroxaban versus enoxaparin for thromboprophylaxis after total knee arthroplasty. N Engl J Med 2008; 358: 2776—2786.
8. Eriksson BI et al. Oral rivaroxaban for the prevention of symptomatic venous thromboembolism after elective hip and knee replacement. J Bone Joint Surg Br 2009; 91: 636—644.
9. Wuillemin WA et al. Prophylaxe venöser Thromboembolien. Schweiz Med Forum 2007; 7: 198—204.
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