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Allergien
Spezifische Immuntherapie (SIT)
Goldstandard der spezifischen Immuntherapie ist nach wie vor die subkutane Immuntherapie, während die sublinguale Immuntherapie noch immer kontrovers diskutiert wird. Um den Therapieerfolg zu optimieren, ist eine differenzierte In-vitro-Allergendiagnostik zur Ermittlung des Allergenprofils des Patienten notwendig. Ideale Kandidaten für eine SIT sind Patienten mit kurzer Krankheitsdauer und schmalem Spektrum an Sensibilisierungen, somit insbesondere Kinder. Zur Nutzung der präventiven Effekte der SIT sollten künftig Strategien entwickelt werden, um Kinder mit Atopierisiko zu erkennen.
Von Dr. med. Rainer Kehrt und Dr. med. Walter Jörg
D ie einzige kausale Therapie IgEvermittelter allergischer Erkrankungen ist die spezifische Immuntherapie (SIT). Bereits vor knapp 100 Jahren wurde erstmalig durch die britischen Allergologen Noon und Freeman Patienten mit Gräserpollenallergie ein wässriger nativer Extrakt injiziert. Häufig kam es zu schweren Nebenwirkungen bis hin zur Anaphylaxie. Seitdem ist die SIT ständig verbessert worden, und mit zunehmendem Wissen über die immunologischen Mechanismen werden die Effektivität und Sicherheit weiter gesteigert. Mittlerweile liegt die Inzidenz anaphylaktischer Reaktionen laut Daten des Paul-Ehrlich-Instituts zwischen 0,0005 und 0,01 Prozent. Wenn Indikation und Kontraindikation beachtet werden, sind schwere Reaktionen weitestgehend absehbar und vermeidbar. Die SIT ist bei Patienten mit klinisch relevanter und nachgewiesener IgE-vermittelter Sensibilisierung indiziert, wenn die Exposition gegenüber dem Allergen eindeutige, beeinträchtigende klinische Beschwerden verursacht, eine Allergenkarenz nicht möglich und ein entsprechender standardisierter Allergenextrakt verfügbar ist. Sensibilisierungen ohne Symptome stellen keine Indikation dar. Daher sollten sowohl die Diagnostik und Indikationsstellung als auch die Auswahl der relevanten Allergene grundsätzlich von einem auf Allergologie spezialisierten Facharzt vorgenommen werden. Als Kontraindikationen gelten ein unzureichend behandeltes Asthma beziehungsweise eine irreversible Atemwegsobstruktion trotz adäquater Pharmakotherapie (FEV1 < 70%), schwerwiegende kardiovaskuläre Erkrankungen, eine Behand- Abbildung 1: Subkutane Injektion der Allergene am Oberarm eines jungen Patienten im Rahmen einer SCIT lung mit Betablockern und ACE-Hemmern, schwere Autoimmunerkrankungen und Immundefizienzen, maligne neoplastische Erkrankungen und eine unzureichende Compliance. Die Kontraindikationen müssen individuell berücksichtigt werden. Der durchführende Arzt muss zur Notfallbehandlung unerwünschter Begleitreaktionen befähigt sein. Vor der Durchführung einer SIT sollten die Patienten über die Art und Dauer der Behandlung, die erwarteten Wirkungen, eventuelle Risiken sowie mögliche Alternativen aufgeklärt werden. Subkutane Immuntherapie (SCIT) – Goldstandard Nach wie vor gilt die subkutane Immuntherapie als Goldstandard der SIT. Für diese Applikationsform liegen die meisten Daten sowohl zur klinischen Wirksamkeit als auch zu den zugrunde liegen- Pädiatrie 3/09 • 36 Allergien Patient mit saisonalen Beschwerden von April bis Juli Hauttestung (Prick) Serologie (RAST konventionell) Serologie (RAST rekombinant) Birke +++ Esche – Gräser +++ Birke Cap-Klasse 4 (45,5 kU/l) Esche Cap-Klasse 0 (< 0,35 kU/l) Lieschgras Cap-Klasse 6 (> 100 kU/l)
Birke Majorallergen Cap-Klasse 0 (rBet v 1 < 0,35 kU/l) Minorallergene rBet v 2; rBet v 4 Cap-Klasse 4 (45,5 kU/l) Lieschgras Majorallergen Cap-Klasse 6 (rPhl p1/p5 > 100 kU/l) Minorallergen Cap-Klasse 4 (rPhl p7/p12 44,5 kU/l)
Spezifische Immuntherapie nur mit Gräserpollenextrakt
Abbildung 2: Exakt ermitteltes Allergenprofil eines polysensibilisierten Allergikers zur Verordnung der SIT
den immunologischen Mechanismen vor. Die Allergene werden subkutan am Oberarm injiziert (Abbildung 1). Die Injektionen werden während der Steigerungsphase üblicherweise wöchentlich und in der Erhaltungsphase monatlich über drei Jahre durchgeführt. Neben der konventionellen ganzjährigen SCIT kann bei Pollenallergie auch eine präsaisonale Kurzzeit-SCIT durchgeführt werden. Hier erhalten die Patienten zwei bis drei Monate vor der Pollensaison in wöchentlichen Therapieabständen nur die Injektionen der Steigerungsphase, die meist nach sieben Injektionen abgeschlossen ist. Es werden insgesamt drei präsaisonale Therapiezyklen verabreicht, jedoch gilt die konventionelle ganzjährige Therapie als effektiver.
Sublinguale Immuntherapie (SLIT) – noch kontrovers
Bei der sublingualen Immuntherapie werden Allergenpräparate täglich oral verabreicht. Die erste Einnahme erfolgt in der Regel unter ärztlicher Aufsicht, danach wird das Präparat zu Hause ohne ärztliche Überwachung eingenommen. Schwere Nebenwirkungen treten zwar
selten auf, doch wurden systemische Reaktionen beobachtet. Deren Auftreten ohne Möglichkeit einer sofortigen ärztlichen Intervention kann zu unvorhersehbaren Belastungen für Patienten und Angehörige führen. Die SLIT wird noch sehr kontrovers diskutiert, und die Meinung der Allergologen ist weltweit gespalten. Zurzeit kann die SLIT noch nicht gleichwertig neben die klassische SCIT gestellt werden, insbesondere da bis anhin weder kongruente Daten bezüglich der Dosis, der Effektivität, des Langzeiteffekts noch der exakten Wirkmechanismen vorliegen. Für die SCIT hingegen sind die klinische Wirksamkeit mit Langzeiteffekt, die Prävention eines sogenannten «Etagenwechsels» mit Ausbildung eines allergischen Asthma bronchiale, die Reduktion von Neusensibilisierungen und die Verträglichkeit der Therapie in zahlreichen Studien eindeutig belegt.
SIT: Wirkmechanismen, Allergendiagnostik und Allergenprofile
Die SIT induziert eine klinische und immunologische Toleranz gegenüber dem verwendeten Allergen mit einem Lang-
zeiteffekt, der über die Therapiedauer hinaus anhält. Die Entwicklung der immunologischen Toleranz ist ein aktives Geschehen des Immunsystems und bedarf einer komplexen Interaktion zwischen dem Allergen und dem Abwehrsystem des Patienten. Mit immer genauerem immunologischem Erkenntnisstand wird auch das Verständnis der detaillierten Pathomechanismen angepasst und verändert. Der Therapieerfolg wird von der Qualität und der Gesamtdosis des verabreichten Allergenextrakts und vor allem dem Applikationsschema beeinflusst. Offensichtlich werden je nach eingesetztem Präparat partiell unterschiedliche immunologische Mechanismen angestossen, die letztlich aber allesamt in die klinische Toleranz münden sollen. Das Ansprechen auf die SIT hängt massgeblich vom individuellen Sensibilisierungsprofil des Patienten ab. Die herkömmliche Allergietestung sowie die derzeit verfügbaren SIT-Präparate basieren auf Extrakten aus den natürlichen Allergenquellen, die als Naturprodukte in ihrer Zusammensetzung variieren und jeweils nach ihrem Gehalt an Majorallergen standardisiert werden. Teilweise sind Minorallergene unterrepräsentiert. Dies
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kann zu falschnegativen Testresultaten und Nichtansprechen der SIT führen. Auch unterscheiden sich die verwendeten Allergenextrakte durch herstellerspezifische Prozessierung in Zusammensetzung und Allergenaktivität voneinander und sind daher nicht direkt vergleichbar. Eine natürliche Allergenquelle wie zum Beispiel die Gräserpollen stellt aber eine hochkomplexe Mischung verschiedener Bausteine dar. Mittels molekularbiologischer Methoden konnten diese differenziert werden, und es zeigte sich, dass nur wenige der Proteine allergene Eigenschaften haben. Auch ist das allergene Potenzial unterschiedlich, weshalb zwischen Majorallergenen, gegen die mehr als 50 Prozent der klinisch sensibilisierten Patienten auch tatsächlich spezifisches IgE aufweisen, und andernfalls Minorallergenen, gegen die nur eine Minderheit der Allergiker sensibilisiert ist, differenziert wird. So hat jeder Patient sein individuell unterschiedliches Sensibilisierungsmuster hinsichtlich Major- und Minorallergenen. Um diesem wesentlichen Umstand gerecht zu werden, ist eine differenzierte In-vitro-Allergendiagnostik mittels rekombinanter Allergene notwendig. In den allergologischen Polikliniken und den spezialisierten Arztpraxen wird diese Erkenntnis auch zunehmend umgesetzt. So ermöglicht die nach Einzelkomponenten aufgelöste Diagnostik die exakte Ermittlung
des individuellen Allergenprofils des Patienten. Damit kann die SIT entsprechend der klinischen Relevanz besser verordnet werden, wodurch der Therapieerfolg optimiert wird. Abbildung 2 zeigt als Beispiel das Allergenprofil eines polysensibilisierten Allergikers. Bei diesem Patienten sind die Sensibilisierung und Allergie gegen Gräser eindeutig, mit anamnestischem Bezug und verfügbarem Extrakt. Gegen Birke ist der Patient nur durch Minorallergene sensibilisiert, welche in den verfügbaren Extrakten nur ungenügend und variabel vorhanden sind. Daher wurde die spezifische Immuntherapie nur mit Gräserpollenextrakt durchgeführt. Grundsätzlich sind die Erfolgsaussichten der SIT umso höher, je weniger relevante Allergene an der Auslösung des allergischen Krankheitsbilds beteiligt sind. Bei jahrelangen allergischen Symptomen können sekundäre Veränderungen am Erfolgsorgan auftreten und die initial hauptsächlich allergengetriggerte, spezifische Entzündungsreaktion zunehmend unabhängig machen. Daher nimmt die Erfolgsaussicht der SIT mit der Dauer der allergischen Erkrankung ab. Patienten mit kurzer Krankheitsdauer und schmalem Spektrum an Sensibilisierungen, insbesondere Kinder, sind somit ideale Kandidaten für eine Intervention mittels SIT. Um die präventiven Effekte der SIT auch auszunutzen, soll-
ten in Zukunft Strategien entwickelt werden, Kinder mit Atopierisiko zu erkennen. Auf diese Weise könnte die Therapie möglichst frühzeitig, bevor die allergische Krankheit etabliert ist, begonnen werden.
Korrespondenzadresse: Dres. med. Rainer Kehrt und Walter Jörg Kinderarztpraxis Hirschwiesen Schaffhauserstrasse 188, 8057 Zürich Tel. 044-362 70 80, Fax 044-362 70 39 E-Mail: wjoerg@hin.ch
Interessenkonflikte: keine
Literatur: 1. Spezifische Immuntherapie im Wandel – eine Standortbestimmung. 16. Bad Saarower Herbsttagung des Verbandes der Allergologen Brandenburgs e.V. Allergologie, Jahrgang 31, Nr. 10/2008, 429–447. 2. Die spezifische Immuntherapie (Hyposensibilisierung) bei IgE-vermittelten allergischen Erkrankungen. Kleine-Tebbe J, Bergmann KC, Friedrichs F et al. Allergo J 2006; 15: 56–74. 3. Wirksamkeit und Sicherheit der sublingualen Immuntherapie (SLIT) – eine ausführliche Standortbestimmung. Bergmann KC. Pneumologie 2006; 60: 241–247. 4. Spezifische Immuntherapie in der Schweiz – sublingual oder subkutan? Eng P, Hauser C, Helbling A et al. Schweiz Med Forum 2004; 4: 1269–1276. 5. Immunotherapy in children and adolescents with allergic rhinoconjunctivitis: a systematic review. Röder E, Berger MY, de Groot H, van Wijk RG. Pediatr Allergy Immunol 2008: 19: 197–207.
Erste Hilfe für Menschen mit letzter Hoffnung.
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Pädiatrie 3/09 • 38