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Arsenicum: Ärztepfusch
Untertitel
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Welche der heutigen zwei Schlagzeilen wollen wir diskutieren? Dass Couchepin zurücktritt? Oder dass das deutsche Boulevardblatt «Bild» auffällig dezent titelt: «Was Patienten an ihren Ärzten auszusetzen haben»? Lassen wir die Champagnerflaschen an der Kälte und nehmen wir uns die unangenehme Meldung vor. Laut Statistik der Bundesärztekammer sei 2008 die Zahl aller Klagen vor den Schlichtungsstellen um 5,1 Prozent gestiegen.
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Im Bild: Ärztepfusch

arsenicum
W elche der heutigen zwei Schlagzeilen wollen wir diskutieren? Dass Couchepin zurücktritt? Oder dass das deutsche Boulevardblatt «Bild» auffällig dezent titelt: «Was Patienten an ihren Ärzten auszusetzen haben»? Lassen wir die Champagnerflaschen an der Kälte und nehmen wir uns die unangenehme Meldung vor. Laut Statistik der Bundesärztekammer sei 2008 die Zahl aller Klagen vor den Schlichtungsstellen um 5,1 Prozent gestiegen. Ein knappes Drittel der Patienten hatte/bekam vor Recht. Auf Platz eins sind wie seit jeher die Klagen nach operativen Eingriffen. In einem Siebtel der Fälle waren die Anschuldigungen gegen die Operateure berechtigt. Schlampige Untersuchungen, falsche Diagnosen, schlechte Beratung – seit 2006 hat sich die Zahl der Klagen darüber verdoppelt. Um mehr als 30 Prozent nahmen die Klagen wegen vermeintlich falscher Medikation zu, in 140 von 648 Fällen lagen wirklich Fehler vor. Schlichtungsexperte Crusius meint zur Ursache: «Die überbordende Bürokratie, die uns der Gesetzgeber verordnet, lässt Ärzten immer weniger Zeit.» 85 Prozent der Krankenhausärzte und zwei Drittel der niedergelassenen Ärzte in Deutschland stimmen dem zu: Zeitnot mindert die Qualität der Differenzialdiagnostik, der therapeutischen Interventionen und der Beratung. Auch in der optimal organisierten Praxis wird viel zu viel fachfremde Arbeit geleistet – meist unnützer Papierkram für die Kostenträger. Oder angesichts der immer klagefreudigeren Patienten wird die Dokumentation immer pingeliger, die Aufklärung gerichtstauglich – um für Kunstfehlerprozesse gewappnet zu sein. Dies geht sowohl zulasten der Sprechzeit mit dem Patienten (verknappt also Anamnese und wirkliche Mensch-zu-MenschBeratung) wie auch auf Kosten der ärztlichen Denkzeit. Doch beides ist mindestens so wichtig wie in den Zeiten, als es noch nicht so sensitive, spezifische Diagnosemethoden gab wie heute, als man nicht

mittels ICD-10 oder anderen Klassifikationssystemen genau kategorisieren musste, als das therapeutische Arsenal noch nicht so beeindruckend (und so gefährlich!) war wie heute und als von den Gesundheitsökonomen noch nicht jeder Rappen gespalten wurde. Im heutigen hektischen Sprechstundenalltag wird es immer schwieriger, sich einmal ruhig hinzusetzen und behutsam zu explorieren, die Anpassungsstörung mit einem entlastenden Gespräch zu bessern, die affektive Störung sorgfältig zu diagnostizieren, die Schulter oder den Rücken gründlich klinisch zu untersuchen und so Strahlenbelastung zu vermeiden, Qualitätschecks der eigenen Arbeit zu machen. Deswegen spezialisiert sich die Ärzteschaft immer mehr, denn als Koryphäe der linken Grosszehe ist es einfacher, die wissenschaftliche Literatur und den Stand der Kunst im Griff zu haben. Man untersucht routiniert sowie schnell nach dem immer gleichen Schema und die Änderungen der Operationstechniken sind begrenzt. Aber als Grundversorger, als Zehnkämpfer der Medizin, da muss man sich in vielen Disziplinen einigermassen fit halten, da gehen einem die Untersuchungshandgriffe nicht so flink von der Hand, weil man sie nicht täglich macht. Bildgebung, standardisierte Fragebögen/ Klassifikationssysteme, Labor und Guidelines helfen, gewiss, doch es braucht Zeit, um sie richtig kennenzulernen, einzusetzen und ihre Resultate/Konsequenzen zu überdenken und mit den Patienten zu besprechen. Der Prozentsatz berechtigter Reklamationen ist beunruhigend hoch – und die Dunkelziffer ist noch viel höher. Die Zahlen in der Schweiz sind analog. Ein Gedanke, der einem den Schlaf rauben könnte. Lassen wir lieber die Korken knallen und Couchepins Rücktritt auf uns wirken …

526 ARS MEDICI 13 ■ 2009