Transkript
FORTBILDUNG
Ecksteine in der modernen Versorgung von Unterschenkelulzera
Der folgende Artikel beleuchtet einige der relevanten
Publikationen aus der Phlebologie und Wundbehand-
lung der letzten zehn Jahre und gibt Hinweise zum
praktischen Vorgehen anhand der Erfahrungen der
Dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich.
JÜRG HAFNER
Kompressionstherapie Die Kompressionstherapie ist sicher der bewährteste Grundpfeiler in der konservativen Therapie phlebologischer Erkrankungen. Verschiedene wissenschaftliche Beiträge haben in den vergangenen zehn Jahren die Effektivität und Effizienz der Kompressionstherapie auf hohem Evidenzniveau nachgewiesen. Die systematische und breite Anwendung von Heparinen in präventiver Indikation seit den Siebzigerjahren und von fraktioniertem Heparin seit der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre hat zu einer drastischen Reduktion von tiefen Beinvenenthrombosen und Lungenembolien in Hochrisikosituationen geführt. Als solche gelten Eingriffe im Rahmen der orthopädischen Chirurgie, Abdominalchirurgie, Neurochirurgie, Unfallchirurgie, aber auch Bettlägerigkeit als Folge von internistischen Krankheiten (z.B. Schlaganfall). In den älteren Arbeiten konnte gezeigt werden, dass die Kompressionsbehandlung in der primären Thromboseprophylaxe einen additiven Effekt hat. Mit grossem Interesse aufgenommen wurde die neuere Publikation von Scurr und seinen Mitarbeitern, in welcher erstmals die Vermutung bewiesen werden konnte, dass Kompressionsstrümpfe tiefe Beinvenenthrombosen auf Langstreckenflügen verhindern können. In einer randomisierten kontrollierten Studie (n = 231) hatten 10 Prozent der Reisenden gegenüber der Kontrollgruppe eine asymptomatische tiefe Beinvenenthrombose (Unterschenkeletage), in der Kontrollgruppe jedoch keiner, hingegen trat bei 4 Prozent eine Varikophlebitis der Vena saphena magna unterhalb des Knies beim oberen Strumpfrand auf (1).
Vier Jahre zuvor hatte Brandjes in einer randomisierten kontrollierten Studie mit 1994 Teilnehmern belegt, dass eine Kompressionstherapie mit Unterschenkelkompressionsstrümpfen der Klasse 2 bei Patienten mit einer durchgemachten proximalen tiefen Beinvenenthrombose (proximal: Vena poplitea und weiter proximal) die Entstehung eines schweren postthrombotischen Syndroms um zirka die Hälfte reduziert (p < 0,001). Nach sechs Jahren hatten in der Gruppe ohne Kompressionsstrümpfe 23 Prozent ein schweres postthrombotisches Syndrom oder ein venöses Ulkus und 47 Prozent ein leichtes postthrombotisches Syndrom. Im Vergleich dazu hatten in der Gruppe mit Kompressionsstrümpfen 11 Prozent ein schweres postthrombotisches Syndrom oder ein venöses Ulkus und 20 Prozent ein leichtes postthrombotisches Syndrom (2). Die Effektivität der Kompressionsbehandlung in der Behandlung des venösen Ulkus ist durch gross angelegte Kohortenstudien belegt worden (3, 4, 5). Die Abheildauer von venösen Ulzera wird durch den Ausgangsbefund massgeblich beeinflusst. Demnach heilt ein Erstulkus mit kleiner Fläche und kurzer Dauer unter einer Kompressionsbehandlung in 70 bis 80 Prozent der Fälle innerhalb von drei Monaten ab, während für grössere venöse Ulzera (> 10 cm2), chronische Ulzera (> 6 Monate) und Rezidivulzera mit längeren Abheilzeiten zu rechnen ist (30 bis 40% in 3 Monaten). Die Einführung von mehrlagigen,
Merksätze
■ Etliche Studien haben in den vergangenen zehn Jahren die Effektivität und Effizienz der Kompressionstherapie auf hohem Evidenzniveau nachgewiesen.
■ Nach empirischer Erfahrung kann bei gemischten venös-arteriellen Ulzera bereits ab einem ABPI < 0,8 eine Revaskularisation sinnvoll sein und die weitere Abheilung stark beschleunigen.
■ Grössere arterielle Ulzera sind in aller Regel einer konservativen Wundbehandlung gegenüber refraktär und erfordern ein Débridement mit Spalthauttransplantation.
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FORTBILDUNG
Abbildung: Mehrlagenverband: Tubegaze, Polsterwatte, Kurzzugbinden, Kohäsivbinde.
unterpolsterten Kompressionsverbänden, die eine Aussenschicht aus einer Kohäsivbinde aufweisen, hat bei chronisch venöser Insuffizienz zu einer Standardisierung der Bandagetechnik mit besseren reproduzierbaren klinischen Resultaten geführt. Prototyp dieser Technik war die Four-Layer-Bandage (6). Randomisierte kontrollierte Studien zum Nachweis der Effektivität der Kompressionsbehandlung von venösen Ulzera sind leider selten. Die wahrscheinlich wichtigste Studie wurde 1988 von Kikta durchgeführt, in welcher dieser zeigte, dass venöse Ulzera unter einem Zinkleimverband innerhalb von 24 Wochen zu 70 Prozent abheilen, während sie unter einem Hydrokolloidverband ohne Kompression innerhalb von 24 Wochen zu 38 Prozent abheilen (p = 0,01) (7). Ein systematischer Review zur Kompressionsbehandlung des venösen Ulkus wurde erstmals 1997 in der Cochrane-Library publiziert und wird seither aktualisiert (8). Eine kürzlich erschienene Studie aus dem gleichen Netzwerk von Research-Nurses untersuchte vor zwei Jahren erstmals den Unterschied zwischen Klasse-2- und -3-Kompressionsstrümpfen in der Prävention von Ulkusrezidiven nach Abheilung. Dabei zeigte sich, dass mit einem Klasse-2-Strumpf innerhalb von fünf Jahren bei 39 Prozent Rezidive auftraten, wobei 28 Prozent der Patienten die Kompressionsbehandlung nicht konsequent durchgeführt hatten. Bei Klasse-3-Strümpfen war das Resultat nicht signifikant besser: Nach fünf Jahren traten bei 32 Prozent wieder Ulkusrezidive auf, wobei 42 Prozent der Patienten die Kompressionstherapie nicht konsequent durchgeführt hatten. Daraus leiteten die Autoren zu Recht ab, dass dem Patienten diejenige Kompressionsbehandlung mit
Strümpfen zugemutet werden soll, die er problemlos durchführen kann (9). Leider existiert bis heute keine kontrollierte Studie, welche den Effekt einer Kompressionsbehandlung gegenüber gar keiner Kompression zur Prävention von Ulkusrezidiven untersucht. Empirisch wird angenommen, dass die Kompressionsbehandlung Rezidive von venösen Ulzera signifikant, wenn nicht sogar hochsignifikant, reduzieren kann. Möglicherweise reicht schon eine niedrigklassige Kompressionsbehandlung (z.B. Klasse 1) für einen derartigen Effekt aus. Ältere Patienten sind selbstverständlich viel besser in der Lage, eine milde Kompressionsbehandlung adäquat selbstständig durchzuführen. Dies hätte eine wesentlich bessere Kooperation in der verordneten Behandlung zur Folge. Wenn es gelingen würde, den Beweis der Effektivität von Klasse-1-Strümpfen zur Verhinderung von venösen Rezidivulzera zu erbringen, wäre wahrscheinlich auch eine Kassenzulassung dieser Kompressionsklasse in Aussicht. Ein weiterer Paradigmenwechsel in der Kompressionsbehandlung von venösen Ulzera stellt die Umstellung von Kompressionsverbänden zu sogenannten «Ulkusstrümpfen» in der Behandlung kleiner und unkomplizierter venöser Ulzera dar. Bereits 1994 hat Partsch darauf hingewiesen, dass kleine venöse Ulzera auch durch Kompressionsstrümpfe erfolgreich behandelt werden können (10). Ende der Neunzigerjahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden drei Strumpfprodukte auf den Markt gebracht, welche trotz einer «kurzzugigen» Strickweise über die Fersen- und Knöchelregion gestreift und angezogen werden können. Die drei unterschiedlichen Patente heissen Tubulcus (11), UlcerTec (12) und UlcerCare (13). Tubulcus ist ein relativ eng gestricktes Produkt, das dank der Applikation eines Gleitstrumpfs aus Fallschirmstoff angezogen werden kann. Die Strümpfe der Marke Tubulcus werden in der Bein- und Wundsprechstunde der Dermatologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich in der Regel dem Patienten eine Nummer zu gross angemessen, weil nach unserer Erfahrung erst dadurch das An- und Ausziehen praktikabel wird. Im Produkt UlcerTec ist im normal gestrickten (langzugigen) Kompressionstrumpf der Klasse 3 ein Rautenmuster von kurzzugig gestrickten Fäden eingestrickt. Im «gestauchten» Zustand lässt sich damit der Strumpf problemlos über die Fersen- und Knöchelregion streifen, und im «ausgezogenen» Zustand, also wenn der Strumpf vollständig über die Wade angezogen ist, entfalten die kurzzugigen Fäden im Muster ihre volle Wirkung auf die venöse Wadenmuskelpumpe. Eine Erleichterung beim An- und Ausziehen eines kurzzugigen Kompressionsstrumpfs bietet das Produkt UlcerCare mithilfe eines dorsal eingenähten Reissverschlusses.
Venenchirurgie bei venösem Reflux Gemäss der älteren phlebologischen Literatur aus den Sechzigerjahren kamen die damaligen führenden Kliniker zum Schluss, dass 90 Prozent der Unterschenkelulzera venösen Ulzera entsprachen und hiervon wiederum ein grosser Teil in Zusammenhang mit dem postthrombotischen Syndrom entstanden waren. Für diese Annahme gab es allerdings keine
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ECKSTEINE IN DER MODERNEN VERSORGUNG VON UNTERSCHENKELULZERA
systematischen Untersuchungen. Die Lebenszeitinzidenz für ein Ulcus cruris hat sich in den letzten 50 Jahren von ungefähr 2 bis 3 Prozent auf 0,7 Prozent (14) zurückgebildet. Für diese günstige Entwicklung gibt es zwei plausible Hauptgründe: die systematische Thromboseprophylaxe in Risikosituationen und die Verbreitung einer minimalinvasiven Venenchirurgie. In den Achtzigerjahren publizierten vorwiegend britische Chirurgen ihre positiven Resultate der Venenchirurgie bei Patienten mit venösen Ulzera (15, 16). Diese Beobachtung stand in einem gewissen Gegensatz zur Annahme, dass venöse Ulzera praktisch ausschliesslich durch Kompression zu behandeln sind. Die breite Einführung der Duplexsonografie in den Neunzigerjahren bestätigte die Vermutung mancher Chirurgen, dass ungefähr die Hälfte aller Patienten mit venösen Ulzera kein postthrombotisches Syndrom und keine relevante Pathologie am tiefen Leitvenensystem aufwiesen. Als Hauptursache für die venöse Ulzeration lag vielmehr eine ausgeprägte epifasziale Veneninsuffizienz vor. Das heisst im Wesentlichen, dass eine Crossen- und Stamminsuffizienz der Vena saphena magna oder parva, gelegentlich mit Seitenästen, als «Nährvene» vorhanden ist. Im Jahr 2004 wurde die erste randomisierte kontrollierte Studie zum Effekt der Venenchirurgie auf die Abheilund Rezidivrate von venösen Ulzera publiziert (17). Die Autoren unterschieden bei den Patienten mit venösen Ulzera eine Gruppe mit ausschliesslich epifaszialem Reflux, eine zweite mit epifaszialem und umschriebenem tiefem Reflux und eine dritte mit epifaszialem und ausgedehntem tiefem Reflux. Für die erste Gruppe (ausschliesslich epifaszialer Reflux) liess sich sehr klar nachweisen (p = 0,001), dass die Venenchirurgie zwar die Abheilzeit gegenüber der reinen Kompressionstherapie nicht signifikant verkürzt, dass aber die Rezidivrate von 26 Prozent auf 12 Prozent nach einem Jahr reduziert werden konnte. Bei einem epifaszialen und segmental tiefen Reflux ist dieses Resultat gerade noch knapp signifikant (p = 0,04), wohingegen die epifasziale Venenchirurgie bei einem ausgedehnten tiefen Reflux keine statistisch signifikante Verbesserung der Situation hinsichtlich Abheil- oder Rezidivrate bringt (sogenannte ESCHAR-Studien: 17, 18).
Shave-Operation nach W. Schmeller In Zusammenhang mit dem oben Dargelegten stellt sich nun die Frage, ob Patienten mit einem durchgehenden tiefen venösen Reflux (im Wesentlichen Patienten mit einem ausgedehnten postthrombotischen Syndrom) einfach Pech haben und ihrer chronisch venösen Insuffizienz ausser der konsequenten Kompressionstherapie nichts entgegensetzen können. Schmeller hat für Patienten mit einer ausgedehnten Dermatolipofasziosklerose und grossflächigen venösen Ulzerationen mit der Shave-Operation eine erstaunlich effektive Behandlungsmethode eingeführt (19). Im Rahmen seiner vorangehenden CT- und MRI-Untersuchungen der distalen Unterschenkel- und Knöchelregion hat Schmeller festgestellt, dass die fibrotischen Umbauvorgänge im Bereich des distalen Unterschenkels und der Knöchelregion das Unterhautfettgewebe und die Unterschenkelfaszie erfassen und dass im Rahmen der abnehmen-
den Sprunggelenkfunktion und des zunehmenden Drucks in den tiefen Muskelkompartimenten eine Degeneration des Fettgewebes in der Unterschenkelmuskulatur stattfindet. Diesen Prozess nannte er «arthrogenes Stauungssyndrom». Seine logische Konsequenz war die Shave-Operation, bei welcher der fibrotische Weichteilmantel des distalen Unterschenkels weit über die venöse Ulzeration hinaus bis auf die Unterschenkelfaszie tangential abgetragen wird und der entstandene Shaving-Defekt mit einer dünnen Mesh-Graft-Spalthaut vom Oberschenkel gedeckt wird. Zwei Wochen nach der Operation waren 79 Prozent der mit dieser Methode behandelten Patienten geheilt, und bei 21 Prozent stellte sich eine Besserung ein. 12 Prozent der geheilten Patienten erfuhren innerhalb der ersten zwei Jahre ein Rezidiv. Diese überaus günstigen Resultate stellen die bis anhin publizierten Resultate der konservativen Therapie bei Weitem in den Schatten. Selbst Patienten mit Rezidivulzerationen haben im Allgemeinen wesentlich geringer ausgeprägte Rezidivbefunde als vor der Shave-Operation.
Gemischte venös-arterielle Ulzera heilen schlechter als rein venöse Obwohl die arteriellen Pathologien bei Ulkuspatienten eindeutig im Vormarsch und die venösen Pathologien auf dem Rückzug sind, gibt es über die gemischten venös-arteriellen Ulzera kaum verlässliche medizinische Literatur, obwohl immerhin 20 Prozent der Patienten davon betroffen sind. Kürzlich ist eine grössere Kohortenstudie publiziert worden, in welcher 193 Patienten mit gemischten venös-arteriellen Ulzera aus 1016 konsekutiven Ulkuspatienten selektioniert und systematisch weiterverfolgt wurden. Die Empfehlungen aus dieser Studie lauten dahingehend, dass Patienten mit einem KnöchelArm-Druck-Index (ABPI) < 0,5 gleich zu Beginn arteriell revaskularisiert werden sollten, da bei ihnen sonst keine Aussicht auf eine erfolgreiche konservative Therapie besteht. In der grossen Bandbreite eines ABPI zwischen 0,5 und 0,9 soll die Therapie in Analogie zu einem rein venösen Ulkus konservativ erfolgen. Nur bei refraktären Ulzera soll eine Revaskularisation empfohlen werden. (Bei einem ABPI > 0,9 liegt ohnehin keine relevante periphere arterielle Verschlusskrankheit vor.) Die Arbeit macht keine Angaben darüber, ab welchem ABPI mit Druckschädigungen der Haut in Folge einer zu starken Kompressionsbehandlung zu rechnen ist (20). Gemäss unserer empirischen Erfahrung in der Bein- und Wundsprechstunde der Dermatologischen Klinik USZ haben die vergangenen zehn Jahre eher gezeigt, dass bei gemischten venösarteriellen Ulzera bereits ab einem ABPI < 0,8 eine Revaskularisation sinnvoll sein kann und die weitere Abheilung des Unterschenkelulkus stark beschleunigt wird (21). Die Technik der Katheterinterventionen hat sich in den letzten 15 Jahren in Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung der PTCA und der Stentingtechnik derart verfeinert, dass auch in der Indikation der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit eindrückliche Verbesserungen möglich wurden. Heute sind auch lang streckige Verschlüsse und distale arterielle Läsionen einer kathetertechnischen Behandlung zugänglich (22, 23).
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Arterielle Ulzera Unterschenkelulzera mit einer ausschliesslich arteriellen Ursache sind in aller Regel lateral oder prätibial lokalisiert und treten im Gegensatz zu den arteriellen Fussrücken- und Zehenulzera meistens ausserhalb der Lokalisationen der chronischen kritischen Extremitätenischämie auf. Sie erfüllen deshalb nicht die klassischen angiologischen Kriterien zur Indikationsstellung für eine Revaskularisation und werden immer wieder untertherapiert. Grössere arterielle Ulzera sind in aller Regel einer konservativen Wundbehandlung gegenüber refraktär. Die Situation erfordert im Allgemeinen ein Débridement und eine Spalthauttransplantation. Wahrscheinlich würde diese Massnahme bei den meisten Patienten an sich schon für eine Abheilung des Ulkus genügen. In der Bein- und Wundsprechstunde der Dermatologischen Klinik USZ veranlassen wir bei diesen Patienten standardmässig und konsequent eine Revaskularisation, selbst wenn der KnöchelArm-Druck-Index (ABPI) bei 0,8 liegt. Der ABPI erweist sich im klinischen Alltag als ein zu unscharfes Kriterium, um allein über die Indikation einer Revaskularisation im Zusammenhang mit einem teilweise oder ausschliesslich arteriell verursachten Unterschenkelulkus zu entscheiden. Der ABPI kann bei rein arteriell verursachten Unterschenkelulzera verhältnismässig hoch sein. Unserer Erfahrung nach wäre es in diesen Fällen falsch, den Patienten die Revaskularisation allein aufgrund dieses überraschend hohen Knöcheldruckwerts vorzuenthalten. Inkompressible Knöchelarterien können falschhohe Knöchelarteriendruckwerte vortäuschen. Bei Patienten mit einer kombinierten, klassischen, peripheren, arteriellen Verschlusskrankheit plus Arteriosklerose der Haut im Bereich des lateralen Unterschenkels (Martorell-Pathologie) kann die Verbesserung der Makroangiopathie ebenfalls eine Verbesserung der Heilungschancen des arteriellen Ulkus bewirken. Das Ziel einer Revaskularisation der Martorell-Ulzera besteht in einer Optimierung der Spalthauttransplantation und in der Reduktion der Rezidivrate. Bei 69 Prozent unserer Patienten mit arteriellen Ulzera lassen wir eine Revaskularisation durchführen, welche wiederum in 90 Prozent der revaskularisierten Patienten kathetertechnisch und in 10 Prozent mittels Bypasschirurgie erfolgt. Praktisch bei allen Patienten reduziert sich der anfangs intensive Wundschmerz nach der Revaskularisation auf ein erträgliches Mass. Praktisch sämtliche so behandelten Ulzera werden im Anschluss mit einer Spalthauttransplantation ganz zur Abheilung gebracht. Die Rate der kompletten Abheilungen beträgt 90 Prozent, mit keiner einzigen Rezidivsituation bei einer Nachbeobachtungszeit von zwei Jahren (24). Solange noch kontrollierte Studien zur optimalen Behandlung arterieller Ulzera fehlen, dürfte das vorgeschlagene Vorgehen der Revaskularisation und anschliessenden Spalthauttransplantation für die Behandlung von ausschliesslich arteriell verursachten Unterschenkelulzera plausibel sein. Die dargelegten Behandlungsresultate bestätigen in der täglichen Praxis der Wundbehandlung zumindest die Machbarkeit dieses Verfahrens.
Ulcus hypertonicum Martorell Das Ulcus hypertonicum Martorell nimmt bei unseren Patienten eine immer wichtigere Stellung ein und macht in unserer Bein- und Wundsprechstunde ungefähr 10 bis 15 Prozent aller Unterschenkelulzera aus. Klinisch findet sich eine maximale, schmerzhafte Hautnekrose in latero-dorsaler Lokalisation, gelegentlich auch direkt über der Achillessehne liegend, mit einem zentrifugal progredienten, livid-entzündlichen Randsaum. Ungefähr die Hälfte dieser Patienten hat initial fälschlicherweise die Diagnose Pyoderma gangraenosum erhalten. Ursache für die Hautnekrose ist eine okklusive Arteriolosklerose der Subkutis, für welche eine langjährige arterielle Hypertonie und in 60 Prozent der Fälle auch ein Diabetes mellitus die wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren darstellen. Diese Patienten benötigen gleichzeitig eine makroangiologische Diagnostik und Therapie, analog zu den Patienten mit arteriellen Unterschenkelgeschwüren. Zusätzlich ist eine grosszügig durchgeführte Hautbiopsie von Ulkusrand und Ulkusgrund zum histologischen Nachweis der pathologischen Arteriolen in der Subkutis erforderlich. Die Therapie ist essenziell chirurgisch und umfasst ein bis mehrere Débridements, vorzugsweise eine Wundkonditionierung mit einer Unterdrucktherapie (VAC) und zuletzt eine Spalthauttransplantation. Der vorübergehende Einsatz systemischer Antibiotika ist sehr oft nötig. Eine Immunsuppression wie beim Pyoderma gangraenosum ist hingegen nicht erforderlich, und die Hebestelle für das Spalthauttransplantat heilt stets problemlos ab (kein Pathergieeffekt zu befürchten).
Lokaltherapie mit negativem Druck (VAC) Die lokale Unterdrucktherapie ist in den letzten 20 Jahren sicherlich eine der grossen Neuerungen in der Wundbehandlung. Eine kürzlich publizierte, randomisierte, kontrollierte Studie verglich zwei Gruppen von je 30 Patienten mit venösen Ulzera. Bei der ersten Gruppe wurde eine feuchte Wundbehandlung durchgeführt, danach eine Reverdin-Plastik aufgebracht und anschliessend eine standardisierte Lokaltherapie mit nicht klebenden Verbänden durchgeführt. Bei der zweiten Gruppe erfolgte die Wundkonditionierung mittels Unterdrucktherapie, und die Reverdin-Plastik wurde mit dem VAC-System stabilisiert. Sowohl die Zeit bis zum Erreichen einer tadellosen Granulation als auch die Zeit bis zum Erreichen einer kompletten Abheilung war bei den Patienten mit Unterdrucktherapie signifikant viel kürzer (25).
Madentherapie Die Lokaltherapie mit Maden der Fliege Lucilia sericata aus medizinischen Kulturen ist eine alte Wundtherapie, die in den letzten Jahren wieder vermehrt ins Gespräch gekommen ist. Randomisierte kontrollierte Studien sind bis heute nicht publiziert. Hingegen wurde letztes Jahr eine interessante Studie über ein kleines Kollektiv von Patienten mit MRSA-positiven diabetischen Fussulzera publiziert. Bei 12 von 13 Patienten ist es gelungen, die MRSA-Kolonisation mit drei Madenapplikationen über einen Zeitraum von 19 Tagen total zu eliminieren (26).
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ECKSTEINE IN DER MODERNEN VERSORGUNG VON UNTERSCHENKELULZERA
Hautersatz aus der Zellkultur Mit Apligraf® und EpiDex® stehen in der Schweiz zur Behandlung von refraktären Wunden zwei Hautersatzprodukte aus Zellkulturen zur Verfügung, welche den Test einer randomisierten kontrollierten Studie bestanden haben. Apligraf® wurde gegenüber einer konventionellen Lokaltherapie getestet und erwies sich als statistisch signifikant überlegen, was die komplette Abheildauer von bisher refraktären venösen Ulzera angeht (27). EpiDex® wurde in einer randomisierten kontrollierten Studie mit dem Verfahren der konventionellen Spalthauttransplantation verglichen und erwies sich als mindestens ebenbürtig (28). Beide Behandlungsmethoden können problemlos ambulant durchgeführt werden. Zudem wird keine Entnahmestelle für das Hauttransplantat benötigt. Sollte es in den nächsten Jahren gelingen, durch eine breitere Anwendung dieser biotechnologischen Produkte deren Herstellungskosten noch etwas zu senken, dann liegt es in Reichweite, dass solche Verfahren in der Behandlung von refraktären Wunden mit der Zeit zur Routine werden könnten.
Buruli-Ulkus Schliesslich darf nicht vergessen werden, dass in anderen Erdteilen ganz andere Formen von chronischen Wunden vorherrschen. In Westafrika stellt beispielsweise das Buruli-Ulkus, das durch ein toxinbildendes Mykobakterium verursacht wird, für die betroffenen Kinder und jungen Erwachsenen oft eine eigentliche medizinische Katastrophe dar. Bisher bestand weitverbreitet die Ansicht, dass – wenn überhaupt – die Ulkusexzision als einzige effektive Therapiemassnahme zur Abheilung führen kann, mit den vorstellbaren Schwierigkeiten durch die teilweise schlecht ausgerüsteten Ambulatorien und Spitäler in den betroffenen Ländern. Eine kürzlich durch die WHO in Benin durchgeführte und vor einem Jahr publizierte klinische Studie mit 224 Buruli-Ulkus-Patienten konnte nachweisen, dass die kleinen Ulzerationen mit einem Durchmesser
< 5 cm in aller Regel unter einer reinen Antibiotikatherapie mit Streptomycin und Rifampicin während acht Wochen komplett abheilen. Grosse Ulzerationen mit einem Durchmesser > 15 cm profitieren von einer vorangehenden Antibiotikatherapie im Hinblick auf die Ulkusexzision. Die Rezidivrate nach diesem Behandlungsregime beträgt nur noch 1,4 Prozent (29).
Schlussfolgerung Insgesamt lassen sich in der klinischen Praxis der letzten 10 bis 20 Jahre und anhand der wichtigen medizinischen Publikationen überzeugende Erfolge erkennen, welche es heute erlauben, Patienten mit chronischen Unterschenkelulzera einer pathophysiologisch kohärenten Diagnostik und Therapie zuzuführen. Damit schliessen sich auch automatisch die bis anhin grossen Lücken auf der klinisch-wissenschaftlichen Landkarte der evidenzbasierten Therapie chronischer Wunden im Unterkapitel des Ulcus cruris. In der täglichen Arbeit können wir beobachten, dass heute bei Ulkuspatienten im Allgemeinen eher weniger Zeit verstreicht, bis sie eine zielorientierte Abklärung erhalten. Zudem ist die Bereitschaft zu einer proaktiven und nötigenfalls interventionellen Therapie von chronischen Wunden gestiegen, und auch die Rezidivraten gehen vermutlich eher zurück. Betroffene, meist ältere Patienten, deren Lebensqualität entgegen früherer Auffassung durch das Ulkus oft erheblich eingeschränkt ist, wissen dies zu schätzen. ■
Prof. Dr. med. J. Hafner, LA Universitätsspital Zürich, Dermatologische Klinik
Gloriastrasse 31, 8091 Zürich E-Mail: juerg.hafner@usz.ch Internet: www.dermatologie.usz
Interessenkonflikte: keine
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FORTBILDUNG
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