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23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008
Die Entwicklung der Cholegoga/Choleretika von der
Klostermedizin zur heutigen Anwendung
Bernhard Uehleke
Einleitung
Klostermedizin ist die Bezeichnung für die Epoche des 8. bis 12. Jahrhunderts, in welcher die Klöster die Träger der Kultur waren. Diese Zeit ist massgebend für den Wissenstransfer von der Antike in die Neuzeit. Heute darf man unter «Klostermedizin» aus Sicht des Patienten eher die moderne Phytotherapie erwarten, die vor ihrem traditionellen Hintergrund gesehen und eventuell um entsprechende Sichtweisen bereichert wird, wie man sie – analog zu anderen traditionellen Medizinsystemen – von einer «Traditionellen Europäischen Medizin» erwarten kann. Entsprechend einer Empfehlung von Cassiodor orientiert sich die Klostermedizin an den antiken Autoren, wie dem Hippokrates’schen Corpus, Dioscurides, Galen, Caelius Aurelianus sowie Plinius dem Älteren.
Viersäftelehre
Dabei richtet man sich zunehmend nach der Viersäftelehre aus, wobei ausgehend von den vier Elementen Feuer,Wasser, Erde, Luft des Empedokles die entsprechenden Säfte Sanguis, Cholera, Melancholia und Phlegma für die Körper- und Organfunktion sowie sogar für die Konstitution verantwortlich sind. Nach diesem über zwei Jahrtausende gültigen System der Traditionellen Europäischen Medizin ist die Leber mit ihren Ausscheidungen der gelben und schwarzen Galle (auch Bezug zur Milz) das zentrale Organ, wobei beide Ausscheidungen einen trockenen Charakter haben. Ein Zuviel an gelber Galle führt nicht nur zur offensichtlich erkennbaren Gelbsucht, sondern zeigt sich in dem leicht erregbaren «hitzigen» Gemüt des Choleretikers. Hingegen ist ein Zuviel an schwarzer Galle
dem kühlen und wenig begeisterungsfähigen Charakter des Melancholikers verbunden. Möglicherweise lag es an der Natur des Ersteren, vor dem die Ärzte mehr Respekt haben mussten: Jedenfalls gab es mehr Mittel, welche auf die richtige Menge von gelber Galle und deren Abfluss abzielten. Darunter sind die meisten heute noch verwendeten Heilpflanzen warm-heisser Natur. Diese sorgen aber nicht nur für die Anregung der Produktion von gelber Galle, sondern vor allem erhitzen sie die Leber, welche sozusagen die Kochplatte für den Magen darstellt, in dem die zugeführten Speisen ja zunächst «gekocht» werden sollten. Die geförderte Verdauung zeigt sich dann nach diesem Weltbild in einer laxierenden Wirkung, wonach ja dann umso rascher und umso mehr neue Nahrung (v)ertragen werden konnte. Mit kühlend-anfeuchtenden Drogen sollte übermässige Hitze der Leber ausgeglichen werden. Dadurch sollte ein Ikterus nachlassen und eine gewisse stopfende Wirkung vorhanden sein – neben der Verringerung der Neigung zu Wutanfällen.
Qualitäten
Aus den frühen («Lorscher Arzneibuch», «Hortulus» des Walahfrid Strabo), und späteren («Macer» des Odo Magduniensis, Constantinus Africanus, Hildegard von Bingen, «Circa Instans» von vermutlich Matheus Platerarius) Werken der Klostermedizin ergab sich eine breite Liste von Indikationsangaben, auch als «Indikationslyrik» verspottet, da die entsprechenden Qualitäten ja für die Fehlfunktionen aller Organdysfunktionen eingesetzt werden konnten. Die Angaben der Qualitäten passen meist so übereinstimmend zu den Indikationen, dass man annehmen könnte, die Festlegung der Qualitäten sei teilweise sogar «sekundär» nach den «bewährten» Indikationen erfolgt. Diese Übereinstimmung
findet sich zumindestens grundsätzlich, wobei die Einteilung der Qualitäten in jeweils vier «Grade» durchaus etwas unterschiedlich von Autor zu Autor vorgenommen wird. Übrigens lassen sich natürlich die Qualitäten noch durch eine besondere Zubereitung beziehungsweise durch Kombinationen mit anderen Heilkräutern oder Speisen verstärken oder abschwächen.
Klostermedizin – Volksmedizin
Die Klostermedizin hatte eine lang anhaltende Ausstrahlung bis mindestens weit ins 19. Jahrhundert. Unter strikter Trennung von der Theologie wurden stark wirksame abortive und gefährliche Heilkräuter der Medizin und Pharmazie zugeordnet, während die milden Heilpflanzen von einer breiten Volksmedizin weiterverwendet wurden, nicht nur von den Kräuterfrauen und Hebammen, sondern auch später von den Lehrern. In der Volksmedizin flossen die Erfahrungen nur schwer fassbar in indirekter Weise ein, sodass vermutlich die Anwendungshäufigkeiten wechselten, die eigentlichen Indikationsangaben wurden jedoch kaum jemals geändert. In der Medizin hingegen wechselten mit neuen Erkenntnissen und Vorstellungen durchaus auch die Indikationsgebiete der stark wirksamen Heil- und Giftpflanzen.
Kneipp
Erst spät im 19. Jahrhundert wurden durch Sebastian Kneipp die milden Heilkräuter der Volksmedizin in die Naturheilkunde eingeführt und dabei eine Fokussierung auf spezifische Organindikationen vorgenommen. Diese radikale Einengung der Indikationslisten scheint bis anhin kaum erkannt und erst recht nicht nachvollzogen zu sein. Hingegen wurde die Konstanz der Kneippschen Indikationsangaben über die letzten 100 Jahre bis zu den Monografien der modernen regulierten Phytotherapie
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wiederholt bewundert. Eine genauere Überprüfung des Auswahlprozesses der organbezogenen Indikationen könnte diese Auswahl infrage stellen und somit eine ganz neue Überprüfung der anderen «volksmedizinischen» beziehungsweise klosterheilkundlichen Indikationslisten notwendig machen.
Cholegoga und Choleretika
Eine Differenzierung in Cholegoga und Choleretika wurde allerdings erstmals im 17. Jahrhundert angedacht. Auch sind bis dahin Gallenmittel und verdauungsanregende Mittel nur gelegentlich getrennt. Erst im 19. Jahrhundert kommt es zu einer plötzlichen und möglicherweise relativ willkürlichen organbezogenen Differenzierung in Leber-Gallen-Mittel und MagenDarm-Mittel. Dies geschieht auf der Grundlage von ersten Versuchen mit Fisteln beziehungsweise Sonden an Tieren, bei denen manche Bitterstoffe nicht einmal eine klare Wirkung über die Speichelanregung hinaus zeigen. Bei anderen war eine vermehrte Magensaftbildung nachzuweisen. Die Verfügbarkeit des isolierten Choleduktus und vor allem dann des perfundierten Leber-Gallen-Präparates führte erst im 19. Jahrhundert zu einer begründeten Aufteilung der Gallenmittel in Spasmolytika, Cholekinetika und Choleretika. Choleretika regen das von der Leber gebildete Gallenvolumen an (heute unterteilen wir noch, ob die Menge an Extraktivsubstanzen auch zunimmt oder ob nur eine vermehrte Menge an verdünnter Gallenflüssigkeit gebildet wird). Cholekinetika fördern die Entleerung der Gallenblase. Bei diesen anscheinend so validen Modellen ist jedoch zu kritisieren, dass sie durch die Enervation nicht der tatsächlichen Funktion im lebendigen Organismus entsprechen, und dass sie meist erst bei Konzentrationen Wirkungen zeigen, die in vivo niemals erreicht werden.
Magenmittel – Leber-Gallen-Mittel
Für die Magenfunktion waren vergleichbare differenzierte pharmakologische Modelle nicht verfügbar – ausser der Magensaftbildung. Dies führt dazu, dass noch bis fast heute einerseits von funktionellen Magen-Darm-Beschwerden, andererseits von Gallenbeschwerden gesprochen wird. Es ist jedoch in der naturheilkundlichen
Praxis eine Differenzierung beider Erkrankungen kaum möglich, da sich die Symptome erheblich überlappen – und die primären Ursachen dabei im Dunkeln blieben. So ist es der Intuition (oder der Willkür) des Therapeuten, Apothekers oder des Patienten selbst (im Falle der Selbstmedikation) überlassen, ob bei entsprechenden Beschwerden eher ein verdauungsförderndes Mittel (Magenmittel, Antidyspeptikum) oder ein Leber-Gallen-Mittel genommen wird. Aber auch schulmedizinisch scheint eine aufwändige Diagnostik die Wahl zwischen Prokinetikum, Spasmolytikum, Säureblockade, Helicobacter-Eliminierung, Entzündungshemmung (wenn es eine solche in magenverträglicher Weise gäbe) nicht hundertprozentig zu begründen: letztlich kann jedes dieser Prinzipen helfen – muss aber nicht –, oder die UAW sind für den Patienten nicht tolerabel. Leider fehlt es hierzu an systematischen klinischen Untersuchungen zu Einzeldrogen, während es unter diesen Gesichtspunkten nicht mehr so überrascht, dass pflanzliche Kombinationsarzneimittel wie Iberogast® trotz verhältnismässig geringer Dosierung der Einzelkomponenten in Studien eine gute Symptomlinderung bei unspezifischen Verdauungsbeschwerden (bis hin zum Reizdarm) zeigen konnten.
Schöllkraut
Schöllkraut hat sich vom Mittel unter anderem gegen Gelbsucht aufgrund der spasmolytischen Eigenschaften der enthaltenen Alkaloide als Mittel gegen krampfartige Beschwerden der Gallenwege und des oberen Verdauungstrakts entwickelt, wobei die zytotoxischen Eigenschaften und Fallberichte mit Leberschädigung eine Grenzdosis, Kontraindikationen und Enzymkontrollen nach längerer Anwendung veranlasst haben.
Löwenzahn
Löwenzahn galt ursprünglich als kühlend und feucht und damit als nierenanregend. Später kam die Behandlung der (entzündlichen) Gelbsucht hinzu und dann die «Blutreinigung». In einer eigenen Pilotstudie mit Saft aus Löwenzahn ohne Wurzel wurde die postprandiale Kontraktion der Gallenblase bei Patienten mit atonischer Gallenblase sehr deutlich gefördert. Daraus könnte man ableiten, dass durch regelmässige Anwendung der Steinbildung bei «schlaffer», atonischer Gallenblase ent-
gegengewirkt und damit das Indikationsgebiet bei dyspeptischen Beschwerden erweitert werden könnte.
Artischocke
Artischocke hat ursprünglich wie andere Distelarten, etwa die Mariendistel, auch warm-feuchte Qualitäten und würde damit Säfte- und Samenausscheidung fördern – Letzteres entspricht der Verwendung als Aphrodisiakum. Ursprünglich als Magenmittel bei kaltem und «trockenem» Magen, wurden später choleretische, cholezystokinetische und erst in den letzten Jahren stoffwechselanregende beziehungsweise cholesterinsenkende Eigenschaften erkannt.
Minze
Minze war wie die meisten heute bekannten Heilpflanzen/Gewürze warm und trocken, und erst viel später kam man über die spasmolytischen Wirkungen des Menthols und seiner Homologa zu «Gallenwegsdyskinesien» (für die Kolikbehandlung war die Wirkung anscheinend zu schwach) und zum Reizdarm (früher Reizkolon).
Weitere Drogen
Bei vielen weiteren Drogen mit warm-/ trockenen Qualitäten wurde in der Klostermedizin ausdrücklich eine Anwendung bei Leber/Galle-Erkrankungen genannt: Andorn, Anis, Beifuss, Benediktenkraut, Bibernelle, Birkensaft, Bockshornklee, Brennnessel, Brunnenkresse, Dill, Enzian, Erdrauch, Fenchel, Frauenmantel, Galgant, Gewürznelke, Holunder, Hopfen, Kalmus, Kamille, Kardamom, Kerbel, Knoblauch, Kohl, Koriander, Kümmel, Lavendel, Liebstöckl, Mädesüss, Mäusedorn, Mariendistel, Melisse, Minze, Möhre, Petersilie, Quendel, Rettich, Rosmarin, Salbei, Sellerie, Senf, Senna, Spargel, Tausendgüldenkraut, Thymian, Wacholder, Weihrauch, Zimt und Zwiebel. Als spezielle kühlende Drogen gegen Gelbsucht wurden hingegen auch Pflanzen genannt, die heute ganz anderen Organsystemen zugeordnet sind: Efeu, Eisenkraut (Verbene), Huflattich, Kürbis (Hitze der Leber), Löwenzahn, Ringelblume (teilweise auch als wärmend angegeben), Wermut. Relativ wenig Pflanzen mit Bezug zur Verdauung sind wärmend und feucht: Artischocke und andere Distelarten, Ingwer und Wegwarte.
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Teemischungen
Für eine individualisierte Therapie von Leber/Galle-Beschwerden bieten sich Teemischungen an, die als Hauptkomponenten entweder ein Choleretikum wie Artischocke oder Minze enthalten oder ein Cholezystokinetikum wie Löwenzahn oder Gelbwurz. Es können auch beide Hauptkomponenten kombiniert werden. Dazu kommen gegebenenfalls je nach Symptomatik spasmolytische beziehungsweise karminative (z.B. Minze, Melisse, Fenchel, Kümmel) Nebenkomponenten sowie ein niedrig dosiertes Laxans (z.B. Faulbaum oder Aloe).
Zusammenfassung
Es bleibt zu wünschen, dass dem Gebiet der funktionellen Verdauungsbeschwerden mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, da hiervon grosse Teile der Bevölkerung betroffen sind und wenige Therapie-
angebote erhalten. Die sogenannten Gallenmittel könnte man gut mit den «Magenmitteln» zusammenfassen, da die Trennung weder historisch noch pharmakologisch zu begründen ist. Klinisch lassen sich die weit überlappenden Pathophysiologien und deren Symptombilder ohnehin kaum differenzieren und sind vorteilhaft durch breite Ansätze – auch Kombinationen – zu beeinflussen.
Neue klinische Studien
Allerdings braucht es für die meisten der genannten Drogen neue klinische Erkenntnisse, da die vorliegenden Monografien nur auf Plausibilitäten und ältere pharmakologische Modelle gestützt sind. Der medizinische Anspruch ist leider bei Verdauungsbeschwerden sehr viel geringer als etwa bei Herz-Kreislauf-Problemen. Beim Verdacht auf einen Herzinfarkt wird sofort eine gewaltige Maschinerie in Gang ge-
setzt. Magen-Darm-Beschwerden, erst
recht, wenn sie schon chronifiziert sind –
ein querer Furz, nicht der Rede wert! Dabei
gab es sogar einmal einen viel beachteten
Zusammenhang zwischen Gastroenterolo-
gie und Kardiologie: das Römheld-Syndrom,
das heute kaum noch jemand kennt. Neue
klinische Prüfungen beziehungsweise An-
wendungsbeobachtungen müssen die Be-
einflussung der diversen Symptome von Pa-
tienten mit funktionellen Verdauungsstö-
rungen (Non-ulcer-Dyspepsie und Irritable-
Bowel-Syndrom) differenziert über mittel-
lange Zeiträume von etwa acht Wochen
verfolgen, da sich bei pflanzlichen Verdau-
ungsmitteln oftmals initial vorübergehende
«Symptomverschiebungen» zeigen.
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Anschrift des Referenten: Dr. Dr. Bernhard Uehleke Institut für Naturheilkunde, DIM Universitätsspital Zürich uehleke@t-online.de
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